25. Kapitel
Die winzige Kate hinter dem alten Warenhaus sah aus, als wäre sie seit Jahren nicht mehr benutzt worden. Das Haus war nicht gestrichen, die Fenster waren voller Schmutz, und es sah aus, als würde es jeden Augenblick zusammenbrechen. Das einzige Anzeichen, dass jemand regelmäßig kam und ging, war das Schloss an der Tür. Es war nicht verrostet.
Lavinia rümpfte die Nase. Der Geruch des Flusses war hier in der Nähe der Docks stark und unangenehm. Der Nebel, der um das alte Warenhaus wogte, stank. Sie betrachtete das heruntergekommene Gebäude vor ihnen.
»Bist du sicher, dass es die richtige Adresse ist?«, fragte sie.
Tobias betrachtete die kleine Karte, die Huggett für ihn gezeichnet hatte. »Dies ist das Ende der Straße. Es gibt hier nichts mehr außer dem Fluss. Das muss das richtige Haus sein.«
»Also gut.«
Sie war erstaunt gewesen, als Tobias vor ihrer Tür gestanden und ihr erklärt hatte, dass er eine Nachricht von Huggett bekommen hatte. Die Nachricht war kurz und knapp gewesen.
Mr M.
Sie haben gesagt, Sie würden für Informationen bezahlen, die etwas mit einem gewissen Künstler zu tun haben, der in Wachs arbeitet. Bitte besuchen Sie diese Adresse, sobald es Ihnen möglich ist.
Ich glaube, Sie werden Ihre Antworten von dem augenblicklichen Bewohner des Hauses bekommen. Sie können den Betrag, den Sie mir versprochen haben, bei meiner Geschäftsadresse abliefern.
Ihr
P. Huggett
Tobias faltete das Stück Papier wieder zusammen und ging zu der Tür. »Es ist nicht abgeschlossen.« Er zog eine kleine Pistole aus der Tasche seines Mantels. »Tritt zur Seite, Lavinia.«
»Ich bezweifle, dass Mr Huggett uns in eine Falle locken würde.« Dennoch tat sie, was er von ihr verlangte, sie ging zur linken Seite, damit sie kein Ziel für jemand war, der vielleicht in dem Haus auf sie wartete. »Er ist viel zu sehr darauf aus, das Geld zu bekommen, das du ihm versprochen hast.«
»Ich neige dazu, dir zuzustimmen, doch ich habe nicht die Absicht, noch mehr Risiken einzugehen. Ich habe die Erfahrung gemacht, dass in diesem Fall gar nichts so ist, wie es scheint.«
Einschließlich dir, dachte Lavinia. Du, Tobias March, warst die erstaunlichste Überraschung von allen.
Tobias stellte sich flach gegen die Wand, dann streckte er die Hand aus und öffnete die Tür. Stille und ein unheimlich bekannter Geruch nach Tod drangen ihnen aus dem Haus entgegen.
Lavinia zog den Umhang, den sie sich von Emeline geliehen hatte, noch fester um sich. »Oh, verdammt. Ich hatte so sehr gehofft, dass es in diesem Fall keine Leichen mehr geben würde.«
Tobias blickte in das Haus hinein, dann senkte er die Pistole. Er schob sie in seine Tasche, stieß sich von der Wand ab und trat dann durch die Tür. Zögernd folgte Lavinia ihm.
»Du brauchst nicht hereinzukommen.« Tobias drehte sich nicht um.
Sie schluckte, weil ihr der Geruch des Todes in die Nase stieg. »Ist es Lord Neville?«
»Jawohl.«
Sie sah, wie er noch weiter in das Haus ging. Er wandte sich nach links und verschwand in den Schatten.
Lavinia ging bis zur Schwelle, doch sie betrat das Haus nicht. Von dort, wo sie stand, konnte sie genug sehen. Tobias hockte neben einer dunklen, zusammengesunkenen Gestalt auf dem Boden. Unter Nevilles Kopf war eine Lache aus getrocknetem Blut. Eine Pistole lag auf dem Boden neben seiner rechten Hand. Eine Fliege summte.
Schnell wandte Lavinia den Blick ab. Sie entdeckte eine Plane, die ein großes, unförmig aussehendes Objekt in einer Ecke des Raumes bedeckte. »Tobias.«
»Was ist?« Er sah auf und runzelte die Stirn. »Ich habe dir doch gesagt, du brauchst nicht hereinzukommen.«
»Dort drüben in der Ecke steht etwas. Ich glaube, ich weiß, was es ist.«
Sie ging in das Haus und dann über den Holzfußboden zu der verdeckten Gestalt. Tobias sagte nichts. Er sah ihr aufmerksam zu, als sie die Plane wegzog.
Sie blickten beide auf die halb beendete Wachsarbeit vor ihnen. Die grob modellierte Gestalt einer Frau, die in einem anstößigen sexuellen Akt mit einem Mann versunken war, ähnelte unverwechselbar den Skulpturen im ersten Stock von Huggetts Museum. Das Gesicht der Frau war noch nicht vollendet.
Die Werkzeuge des Künstlers waren sorgfältig auf einer
Werkbank in der Nähe aufgereiht. Die erloschene Kohle im Kamin zeugte davon, dass noch vor kurzem ein Feuer angezündet worden war, um das Wachs weich zu machen.
»Sehr sauber und ordentlich, nicht wahr?« Tobias stand mit steifen Bewegungen wieder auf. »Der Mörder und Verräter ist von eigener Hand gestorben.«
»So sieht es aus. Aber was ist mit dem geheimnisvollen Künstler?«
Tobias betrachtete die unfertige Wachsarbeit. »Ich denke, es wird keine neuen Arbeiten in der nur den Männern zugänglichen Ausstellung von Huggett geben.«
Ein Schauer rann durch Lavinias Körper. »Ich frage mich, was für eine Macht Neville über den Künstler hatte? Glaubst du, dass es vielleicht eine seiner früheren Geliebten sein könnte?«
»Ich denke, es ist sehr wahrscheinlich, dass wir die Antwort auf diese Frage niemals erfahren werden. Vielleicht ist es auch besser so. Diese Sache muss endlich abgeschlossen werden.«
»Also ist es endlich zu Ende.« Joan Dove sah Lavinia an, die auf der anderen Seite des blaugoldenen Teppichs saß. »Ich bin erleichtert, das zu hören.«
»Mr March hat mit seinem Klienten gesprochen, der ihm versichert hat, dass der Skandal auf ein Minimum beschränkt werden wird. Es wird in gewissen Kreisen bekannt gemacht werden, dass Neville in letzter Zeit einige ernsthafte finanzielle Verluste erlitten und sich in einem Anfall von Depression selbst das Leben genommen hat. Für seine Frau und seine Familie wird es nicht einfach sein, doch solcher Klatsch ist sicher Gerüchten von Hochverrat und Mord vorzuziehen.«
»Ganz besonders, wenn man herausfindet, dass Lord Nevilles finanzielle Rücklagen gar nicht so ernsthaft betroffen waren, wie er es glaubte, als er sich die Pistole an die Schläfe setzte«, erklärte Joan spöttisch. »Etwas sagt mir, dass Lady Neville sehr erleichtert sein wird, wenn sie feststellt, dass sie doch nicht dem Ruin ins Auge sehen muss.«
»Zweifellos. Doch außerdem hat Mr Marchs Klient deutlich gemacht, dass der Skandal auch noch aus anderen Gründen unterdrückt werden wird als nur aus dem, Nevilles Frau und seine Familie zu schützen. Es scheint, dass einige sehr hoch gestellte Herren nicht wollen, dass bekannt wird, dass sie während des Krieges einem Verräter vertraut haben. Sie möchten so tun, als wäre die ganze Sache niemals geschehen.«
»Genau das, was man von hoch gestellten Herren annehmen würde, nicht wahr?«
Lavinia musste trotz allem lächeln. »In der Tat.«
Joan räusperte sich. »Und was ist mit den Gerüchten, dass mein Mann der Anführer eines kriminellen Imperiums gewesen sein soll?«
Lavinia sah sie eindringlich an. »Wenn ich Mr March glauben kann, so sind diese Gerüchte zusammen mit Neville gestorben.«
Joans Miene hellte sich auf. »Danke, Lavinia.«
»Ach, lassen Sie nur. Das gehört alles zum Service.«
Joan griff nach der Teekanne. »Wissen Sie, ich hätte nie geglaubt, dass Neville ein Mann ist, der sich die Pistole an die eigene Schläfe setzt, nicht einmal um die Ehre seines Familiennamens zu schützen.«
»Man kann nie wissen«, meinte Lavinia, »zu was ein Mann unter extremem Druck fähig ist.«
»Sehr wahr.« Joan goss mit eleganter Anmut den Tee ein. »Und ich nehme an, die hoch gestellten Herren, die von Nevilles Hochverrat erfahren haben, übten sehr großen Druck auf ihn aus.«
»Jemand scheint das wirklich getan zu haben.« Lavinia stand auf und strich ihre Handschuhe glatt. »Nun, das war es also. Sie werden mir verzeihen, aber ich muss gehen.«
Sie wandte sich zur Tür.
»Lavinia.«
Sie blieb stehen und sah sich um. »Ja?«
Joan sah sie vom Sofa aus an. »Ich bin sehr dankbar für alles, was Sie für mich getan haben.«
»Sie haben mir mein Honorar gezahlt und haben mich außerdem Ihrer Schneiderin empfohlen. Ich finde, dass ich reichlich entschädigt wurde.«
»Trotzdem«, erklärte Joan entschieden. »Ich stehe in Ihrer Schuld. Wenn es je etwas gibt, das ich tun kann, um mich zu revanchieren, dann hoffe ich, dass Sie mich ohne zu zögern aufsuchen werden.«
»Einen guten Tag, Joan.«
Sie las gerade Byron, als er sie am nächsten Tag besuchen kam. Er bat sie, einen Spaziergang im Park mit ihm zu machen. Sie stimmte zu, schloss den Gedichtband und legte ihn beiseite. Sie holte ihre Haube und ihren langen Mantel, dann verließen sie zusammen das Haus.
Sie sprachen nicht, bis sie die verborgene gotische Ruine erreichten. Er setzte sich neben sie auf die Steinbank und blickte in den überwucherten Garten. Der Nebel hatte sich gelichtet, und die Sonne wärmte den Tag angenehm. Er fragte sich, wo er wohl anfangen sollte. Lavinia war es, die zuerst sprach.
»Ich bin heute Morgen zu ihr gegangen und habe sie besucht«, sagte sie. »Sie war sehr kühl, als wir über den Fall sprachen. Sie hat sich natürlich anmutig bei mir dafür bedankt, dass ich ihr das Leben gerettet habe. Und sie hat mich bezahlt.«
Tobias legte die Unterarme auf die Oberschenkel und verschränkte die Hände locker zwischen seinen Knien. »Crackenburne hat angeordnet, dass mein Honorar auf mein Bankkonto gezahlt wird.«
»Es ist immer schön, wenn man seine Bezahlung rechtzeitig bekommt.«
Tobias betrachtete das Durcheinander von Blumen und leuchtend grünen Blättern in dem wilden Garten. »In der Tat.«
»Jetzt ist es wirklich zu Ende.«
Tobias sagte nichts.
Sie warf ihm einen schnellen Blick von der Seite zu. »Stimmt etwas nicht?«
»Die Sache mit Neville ist zu Ende, wie du es gesagt hast.« Er sah sie an. »Aber ich denke, dass einige Dinge zwischen uns noch ungeklärt sind.«
»Wie meinst du das?« Ihre Augen zogen sich ein wenig zusammen. »Schau, wenn du unzufrieden mit dem Honorar bist, das du von deinem Klienten bekommen hast, dann ist das deine Sache. Du warst derjenige, der den Handel mit Crackenburne abgeschlossen hat. Du kannst doch sicher nicht von mir erwarten, dass ich meine Bezahlung von Mrs. Dove mit dir teile.«
Es war zu viel. Er wandte sich um und fasste sie an den Schultern. »Verdammte Hölle, Lavinia, hier geht es nicht um Geld.«
Sie blinzelte ein paar Mal, doch machte sie keine Anstalten, sich von ihm zu lösen. »Bist du da auch ganz sicher?«, fragte sie.
»Ganz sicher.«
»Nun, was ist das denn für eine ungeklärte Sache, die zwischen uns stehen soll?«
Er bewegte die Hände auf ihren Schultern und genoss das Gefühl der sanften Rundung, dann versuchte er, die richtigen Worte zu finden. »Ich fand, dass wir als Partner sehr gut zusammengearbeitet haben«, sagte er.
»Das haben wir, nicht wahr? Ganz besonders, wenn man die äußerst schwierigen Probleme bedenkt, die wir zu überwinden hatten. Wir hatten einen ziemlich bösen Beginn, wenn du dich recht erinnerst.«
»Die Begegnung bei Holton Felix' Leiche?«
»Ich dachte eher daran, wie du mein kleines Geschäft in Italien zerstört hast.«
»Meiner Meinung nach waren die Vorfälle in Rom ein kleines Missverständnis. Das haben wir aber schließlich geklärt, nicht wahr?«
Ihre Augen blitzten. »Das kann man so sagen. Ich war gezwungen, mir wegen dieses kleinen Missverständnisses einen neuen Beruf zu suchen. Aber ich muss zugeben, mein neuer Beruf ist weitaus interessanter als der alte.«
»Es ist dein neuer Beruf, über den ich heute mit dir sprechen möchte«, meinte Tobias. »Ich nehme an, du hast vor, ihn trotz meiner Bedenken weiter auszuüben?«
»Ich habe ganz sicher vor, bei meiner neuen Beschäftigung zu bleiben«, versicherte sie ihm. »Sie ist sehr anregend und aufregend, ganz zu schweigen davon, dass sie ab und zu auch sehr ertragreich ist.«
»Aber dann, und das wollte ich gerade sagen, werden wir wahrscheinlich gelegentlich feststellen, dass eine zukünftige Zusammenarbeit von uns beiden sehr nützlich sein könnte.«
»Findest du?«
»Ich denke, es ist sehr wahrscheinlich, dass wir einander nützlich sein könnten.«
»Als Kollegen?«
»In der Tat. Ich würde vorschlagen, dass wir darüber nachdenken, noch einmal als Partner zusammenzuarbeiten, wenn sich die Gelegenheit dazu ergibt«, erklärte er und war entschlossen, ihr eine zustimmende Antwort zu entlocken.
»Partner«, meinte sie mit einer vollkommen ausdruckslosen Stimme.
Eine Frau wie sie konnte einen Mann verrückt machen, dachte er. Aber er behielt die Kontrolle über sich. »Wirst du über meinen Vorschlag nachdenken?«
»Ich werde sehr ernsthaft darüber nachdenken.«
Er zog sie näher an sich. »Das werde ich für den Augenblick akzeptieren«, flüsterte er an ihrem Mund.
Sie legte beide Hände um sein Gesicht. »Wirst du das?«
»Ja.«
»Ich sollte dich warnen, dass ich die Absicht habe, alles zu tun, um dich davon zu überzeugen, mir irgendwann einmal eine zustimmende Antwort zu geben.«
Er öffnete die Bänder ihrer Haube und legte sie beiseite. Dann nahm er eine ihrer Hände nach der anderen und zog ihr die Wildlederhandschuhe aus. Er hob ihre Hände an seine Lippen und küsste die zarte Haut der Innenseite ihrer Handgelenke.
Sie flüsterte seinen Namen so leise, dass er ihn kaum hören konnte, dann vergrub sie die Finger in seinem Haar. Sie küsste ihn auf den Mund. Er zog sie fest an sich und fühlte, wie sie reagierte, lebhaft und ruhelos, als die Leidenschaft zu brennen begann. Sie drängte sich an ihn und erfüllte ihn mit einer großen, eindringlichen Leidenschaft.
Er legte sich auf die Steinbank und zog sie auf sich. Dann hob er ihre Röcke, damit er den Anblick ihrer Beine in den Strümpfen genießen konnte. Sie öffnete seine Krawatte und machte sich dann an den Knöpfen seines Hemdes zu schaffen. Als sie ihre warmen Handflächen auf seine nackte Brust legte, holte er tief Luft.
»Ich liebe es, dich zu fühlen«, sagte sie. Sie senkte den Kopf und küsste seine Schulter. »Es ist sehr belebend, dich zu berühren, Tobias March.«
»Lavinia.« Er zog die Haarnadeln aus ihrem Haar und hörte, wie sie auf den Steinboden fielen.
Sie knabberte eine Weile an seiner Haut und flößte ihm so den Gedanken ein, dass er, wenn er einen Federkiel und Tinte hätte, wahrscheinlich in der Lage sein würde, ein Gedicht zu schreiben.
Als es ihm endlich gelang, seine Hose zu öffnen, bebte sie in seinen Armen. Und als er sie dann sanft von der Bank auf den Boden legte, schlang sie ihre schlanken Beine um ihn. Er war nicht länger in Versuchung, Gedichte zu schreiben.
Es gab keinen Weg, eine so die Seele anrührende Erfahrung wie diese in Worte zu fassen.
Sie bewegte sich an ihm und hob den Kopf. »War es das, was du gemeint hast, als du sagtest, du würdest alles tun, um mich zu überzeugen, dass wir zukünftig als Partner zusammenarbeiten sollen?«
»Mmm, ja.« Er schob die Hände in ihr zerzaustes feuerrotes Haar. »Glaubst du, dass ich ein überzeugendes Argument angebracht habe?«
Sie lächelte, und er fühlte, wie er plötzlich in die tiefen, verlockenden Seen ihrer Augen eintauchte. »Was du da geboten hast, war äußerst überzeugend. Wie ich schon sagte, ich werde über die Angelegenheit sehr ernsthaft nachdenken.«