21. Kapitel
Lavinia stand zusammen mit Joan in dem Schutz einer Nische und betrachtete den überfüllten Ballsaal. Sie war hin und her gerissen zwischen ihrer Sorge um Tobias und dem Gefühl des Triumphes. Da sie gegen Ersteres nichts unternehmen konnte, erlaubte sie es sich, ihren neuesten gesellschaftlichen Coup zu genießen.
Der Colchester-Ball war alles, was sie sich als Hintergrund für Emeline nur hatte wünschen können. Der Ballsaal war im chinesischen Stil geschmückt, mit einer Mischung aus etruskischen und indischen Motiven. Spiegel und Vergoldung waren in glänzendem Überfluss eingesetzt worden, um den Effekt noch zu verstärken. Gekleidet in ein türkisfarbenes Kleid, das Madame Francesca für eine solche Gelegenheit angeraten hatte, das dunkle Haar zu einer eleganten Frisur hochgesteckt und geschmückt mit kleinen Ornamenten, sah Emeline genauso exotisch aus wie ihre Umgebung.
»Meinen Glückwunsch, Lavinia«, murmelte Joan. »Der junge Mann, der Emeline gerade auf die Tanzfläche führt, wird einmal einen Titel erben.«
»Landgüter?«
»Einige, denke ich.«
Lavinia lächelte. »Er scheint sehr charmant zu sein.«
»Ja.« Joan beobachtete die Tänzer. »Glücklicherweise kommt der junge Reginald nicht auf seinen Vater. Aber das ist unter diesen Umständen ja auch nicht überraschend.«
»Was soll das heißen?«
Joans Lächeln war kalt. »Reginald ist der dritte Sohn Böllings. Den ersten hat man tot in einer Gasse hinter einem Bordell gefunden. Man nimmt an, dass er von einem Straßenräuber ermordet wurde, den man nie gefunden hat.«
»Ich nehme an, Sie glauben dieses Märchen nicht?«
Joan hob eine Schulter in einer anmutigen Bewegung. »Es war kein Geheimnis, dass er eine Vorliebe für ganz junge Mädchen hatte. Es gibt Leute, die glauben, dass er von einem Verwandten eines seiner jungen unschuldigen Opfer erstochen worden ist, das er gerade entehrt hatte. Vielleicht von einem älteren Bruder.«
»Wenn das der Fall ist, so kann ich mit Böllings erstem Erben kein Mitleid haben. Was geschah mit dem zweiten Sohn?«
»Er hatte es sich zur Angewohnheit gemacht, sehr viel zu trinken und dann in die Bordelle zu gehen, um sich dort Unterhaltung zu suchen. Eines Nachts wurde er mit dem Gesicht nach unten in der Gasse vor einer verrufenen Spielhölle gefunden. Man sagt, er sei in nur wenigen Zentimetern Wasser ertrunken.«
Lavinia erschauerte. »Keine glückliche Familie.«
»Niemand hätte es sich je träumen lassen, dass der junge Reggie einmal den Titel erben würde, ganz sicher nicht Lady Bölling. Als sie ihre Pflicht erfüllt hatte und ihrem Ehemann einen Erben und noch einen Nachfolger geboren hatte, ging sie nach der Geburt ihres zweiten Sohnes ihre eigenen Wege.«
Lavinia warf ihr einen Blick zu. »Sie nahm sich einen Geliebten?«
»Jawohl.«
»Wollen Sie etwa behaupten, dass dieser Geliebte der Vater von Reginald ist?«
»Ich denke, das ist sehr wahrscheinlich. Er hat das braune Haar und die dunklen Augen seiner Mutter, deshalb ist es unmöglich, sicher zu sagen, wer sein Vater ist. Aber ich erinnere mich, dass die ersten beiden Söhne Böllings beide helles Haar und helle Augen hatten.«
»Also wird der Titel wahrscheinlich an den Nachkommen eines anderen Mannes gehen.«
So etwas passierte viel öfter, als irgendjemand wusste, überlegte Lavinia.
»Ehrlich gesagt ist das meiner Meinung nach in diesem Fall für alle das Beste«, meinte Joan. »Es liegt etwas im Blut der Männer der Linie Böllings, das nicht ganz in Ordnung ist. Von ihnen wird behauptet, dass sie immer wieder durch ihre eigene Schwäche ein schlimmes Ende nehmen. Bölling selbst ist hoffnungslos dem Mohn verfallen. Es ist ein Wunder, dass er noch nicht an einer Überdosis umgekommen ist.«
Lavinia warf ihr einen schnellen, prüfenden Blick zu. Dies war nicht die erste Klatschgeschichte, die sie heute Abend von ihrer Begleiterin gehört hatte. Vielleicht war es Langeweile, die Joan dazu gebracht hatte, ihr so viele Gerüchte und Geheimnisse über die anderen Gäste zu erzählen. Lavinia hatte in der letzten Stunde mehr über die Eigenheiten und Skandale der gehobenen Gesellschaft erfahren als in den vergangenen drei Monaten.
»Für eine Dame, die nicht sehr oft auf Gesellschaften geht«, meinte Lavinia vorsichtig, »scheinen Sie aber außergewöhnlich gut über die Leute, die sich in den höchsten Kreisen bewegen, informiert zu sein.«
Joan umklammerte ihren Fächer ein wenig fester. Sie zögerte nur einen kurzen Augenblick, ehe sie den Kopf ein wenig senkte. »Mein Mann hat es sich zur Gewohnheit gemacht, Informationen und Gerüchte herauszufinden, von denen er glaubte, dass sie für seine finanziellen Transaktionen einmal wichtig sein könnten. Zum Beispiel hat er sich sehr gründlich mit dem Hintergrund von Colchesters Erben befasst, ehe er die Bitte um Maryannes Hand angenommen hat.«
»Natürlich«, stimmte Lavinia ihr zu. »Das Gleiche würde ich auch tun, wenn ein junger Mann starkes Interesse an meiner Nichte zeigen würde.«
»Lavinia -« »Ja?«
»Glauben Sie wirklich, dass es möglich ist, dass mein Mann die Wahrheit über seine kriminellen Aktivitäten all diese Jahre vor mir verborgen gehalten haben könnte?«
Der wehmütige Ton von Joans Frage trieb Lavinia einen Hauch von Feuchtigkeit in die Augen. Sie blinzelte schnell, damit sie wieder deutlich sehen konnte.
»Ich denke, dass er sich große Mühe gegeben hat, seine Geheimnisse vor Ihnen zu verbergen, weil er Sie so sehr geliebt hat, Joan. Er hätte nicht gewollt, dass Sie die Wahrheit erfahren. Vielleicht hat er auch geglaubt, dass Sie sicherer sein würden, wenn Sie nichts davon wüssten.«
»Mit anderen Worten, er wollte mich beschützen?«
»Ja.«
Joan lächelte traurig. »Das hätte Fielding sehr ähnlich gesehen. Sein erster Gedanke galt immer dem Wohlergehen seiner Frau und seiner Tochter.«
Anthony tauchte plötzlich aus der Menschenmenge auf. In jeder Hand hielt er ein Glas Champagner. »Mit wem zum Teufel tanzt Emeline da?«
»Mit Böllings Erben.« Lavinia nahm ihm eines der Gläser ab. »Kennen Sie ihn?«
»Nein.« Anthony sah über seine Schulter zur Tanzfläche. »Ich nehme an, die beiden wurden einander ordentlich vorgestellt?«
»Natürlich.« Sie hatte Mitleid mit ihm. »Machen Sie sich keine Sorgen. Sie hat doch den nächsten Tanz Ihnen versprochen. Ich bin sicher, sie wäre begeistert, mit Ihnen tanzen zu können.«
Anthonys Gesichtsausdruck veränderte sich sofort. »Glauben Sie?«
»Ich bin mir ziemlich sicher.«
»Danke, Mrs. Lake. Ich bin Ihnen sehr dankbar.« Anthony wandte sich um, um die Tanzfläche abzusuchen.
Joan sprach so leise, dass nur Lavinia sie über dem Klang der Musik hören konnte. »Ich dachte, ich hätte gehört, dass Emeline den nächsten Tanz Mr Proudfoot versprochen hat.«
»Ich übernehme die volle Verantwortung. Ich werde sagen, ich hätte einen Fehler gemacht, als ich die Namen für Emeline aufgeschrieben habe.«
Joan betrachtete Anthony, der seine ganze Aufmerksamkeit den Tänzern widmete. »Verzeihen Sie mir, wenn ich Ihnen einen Rat gebe, Lavinia, aber ich finde, ich sollte deutlich machen, dass Sie Mr Sinclair keinen Gefallen tun, wenn Sie ihn ermuntern, mit Emeline zu tanzen, falls Sie ihn als zukünftigen Mann für Emeline unpassend finden.«
»Ich weiß. Er hat kein Geld, keinen Titel und auch keine Landgüter, aber ich muss zugeben, ich mag ihn. Außerdem sehe ich, wie glücklich er und Emeline sind, wenn sie zusammen sind. Ich bin entschlossen, meiner Nichte eine Saison oder zwei zu bieten und die Chance, einige begehrenswerte junge Männer kennen zu lernen. Aber am Ende wird sie ihre eigene Entscheidung treffen.«
»Und wenn sie Mr Sinclair wählt?«
»Die beiden sind wirklich klug, müssen Sie wissen. Irgendetwas sagt mir, dass sie niemals werden Hunger leiden müssen.«
Das große Haus war in Dunkelheit gehüllt, bis auf ein kleines Feuer, das unten brannte, dort, wo Tobias die Küche vermutete. Er stand im Schatten im hinteren Teil des großen Flurs und lauschte einen Augenblick. Er hörte unterdrücktes Kichern und das betrunkene Lachen eines Mannes in einiger Entfernung. Zwei Mitglieder der Dienerschaft hatten etwas gefunden, das unterhaltsamer war, als das Haus zu verlassen.
Ihre Anwesenheit unten im Haus würde kein Problem für ihn sein, entschied er. Er hatte keinen Grund, diesen Teil des Hauses zu durchsuchen. Ein Mann von Nevilles Format würde nur wenig Interesse für das Reich seiner Dienerschaft haben. Ihm würde sicher niemals der Gedanke kommen, seine Geheimnisse in einem Bereich zu verbergen, den er selten oder gar niemals betrat.
Tatsache ist, dachte Tobias, als er durch den düsteren Flur ging, Neville hat überhaupt keinen Grund, sich großartig zu bemühen, in diesem Haus überhaupt etwas zu verstecken. Warum sollte er sich die Mühe machen? Immerhin war er hier der Herr und Meister.
»Verdammte Hölle«, sagte Lavinia zu Joan. »Ich habe gerade Neville und seine Frau in der Menschenmenge gesehen.«
»Das ist nicht überraschend.« Joan schien geradezu belustigt über Lavinias gerunzelte Stirn zu sein. »Ich habe Ihnen doch gesagt, jeder, der Rang und Namen hat, wird heute Abend hier erscheinen, oder er wird riskieren, Lady Colchester zu beleidigen.«
»Ich kann noch immer nicht glauben, dass die süße alte Dame, die uns an der Tür begrüßt hat, die Macht hat, alle in der Gesellschaft in Angst und Schrecken zu versetzen.«
»Sie regiert mit eiserner Faust.« Joan lächelte. »Aber sie scheint meine Tochter sehr zu mögen. Und so soll es auch bleiben.«
Lady Colchester würde sicher nicht die große Erbschaft verlieren wollen, die Maryanne in die Schatzkisten der Colchesters bringen würde, dachte Lavinia. Aber sie entschied sich, diese offensichtliche Tatsache nicht zu erwähnen. Je höher man in der Gesellschaft stieg, desto höher waren die Einsätze bei einer Eheschließung. Während sie versuchte, genügend Geld zusammenzukratzen, um Emeline eine wirkliche Saison zu bieten, und während sie hoffte, einen jungen Mann anzulocken, der ihre Nichte komfortabel ernähren könnte, hatten Joans Pläne eher die Ausmaße einer Staatsaffäre.
Noch einmal entdeckte sie Neville in der Menge und entschied, dass es gut war, dass er hier war. Das bedeutete, dass er nicht zu Hause war, wo Tobias ihm durch Zufall begegnen konnte.
Sie fragte sich, was Neville wohl damals an sich gehabt haben mochte, was Joans Aufmerksamkeit erweckt hatte.
Als hätte sie ihre Gedanken gelesen, beantwortete Joan ihre Frage. »Ich weiß, dass er das unangenehme Aussehen eines Lebemannes besitzt, der zu viele Jahre damit verbracht hat, bedeutungslosen Freuden nachzujagen, aber ich versichere Ihnen, als ich ihm das erste Mal begegnete, war er ein sehr schneidiger, sehr gut aussehender und äußerst charmanter Mann.«
»Ich verstehe.«
»Wenn ich jetzt zurücksehe, dann hätte ich den Anflug von Gier und Selbstsüchtigkeit unter der Oberfläche sehen müssen. Ich bin stolz darauf, eine intelligente Frau zu sein. Aber wie dem auch sei, ich habe seinen wahren Charakter erst erkannt, als es zu spät war. Selbst jetzt noch kann ich mir kaum vorstellen, dass er all die Frauen umgebracht haben soll.«
»Aber warum?«
Joan zog mit einem kleinen, nachdenklichen Stirnrunzeln die Augenbrauen zusammen. »Er ist nicht die Art Mann, der sich die Hände schmutzig macht.«
»Es ist oft schwierig, in die Herzen anderer Menschen zu sehen, wenn man sehr jung ist und nicht viel Erfahrung hat.« Lavinia zögerte. »Macht es Ihnen etwas aus, wenn ich Ihnen eine sehr persönliche Frage stelle?« »Was für eine Frage?«
Lavinia räusperte sich. »Ich weiß, dass Sie nicht sehr oft in Gesellschaft gehen, aber offensichtlich gibt es Gelegenheiten, bei denen Sie Neville in der Öffentlichkeit begegnen müssen. Wie verhalten Sie sich in diesen Augenblicken?« Joan lächelte, wie es schien, war sie sehr belustigt. »Sie werden schon sehr bald die Antwort auf diese Frage erfahren. Lord und Lady Neville kommen in unsere Richtung. Soll ich Sie ihnen vorstellen?«
Nichts.
Frustriert schloss Tobias das Buch mit den Haushaltsausgaben und ließ es in die Schublade des Schreibtisches fallen. Er trat einen Schritt zurück und hob die Kerze höher, damit das Licht tief in die Schatten des Arbeitszimmers fallen konnte. Er hatte jede Ecke des Raumes abgesucht, doch hatte er keinerlei Anzeichen für Mord oder Verschwörung gefunden.
Neville hatte Geheimnisse. Sie mussten irgendwo in diesem Hause sein.
Es war sehr eigenartig, wenn man einem Mörder vorgestellt wurde. Lavinia ließ sich von Joan leiten. Ein kühles Lächeln und einige gemurmelte Worte, die sich gelangweilt anhörten. Sie stellte jedoch fest, dass Neville es vermied, Joans vorsichtigem Blick zu begegnen.
Constance, offensichtlich in glücklicher Ahnungslosigkeit der gemeinsamen Vergangenheit, die ihr Mann mit Joan teilte, begann sofort eine fröhliche Unterhaltung.
»Ich beglückwünsche Sie zur Verlobung Ihrer Tochter«, wandte sie sich voller Wärme an Joan. »Es ist eine ausgezeichnete Verbindung.«
»Mein Mann und ich waren sehr erfreut«, antwortete Joan. »Ich bedaure zutiefst, dass Fielding nicht mehr auf ihrer Hochzeit tanzen kann.«
»Das verstehe ich.« Mitleid blitzte in Constances Augen auf. »Aber immerhin hatte er die Befriedigung zu wissen, dass ihre Zukunft gesichert ist.«
Lavinia betrachtete Nevilles abgewandtes Gesicht, während sie Joan und Lady Neville zuhörte. Er sah jemanden an, begriff sie. Es lag ein unangenehmer Ausdruck in seinen Augen. Sehr diskret wandte sie den Kopf, um seinem Blick zu folgen.
Voller Erschrecken zog sich ihr Magen zusammen, als sie feststellte, dass er Emeline betrachtete, die in einiger Entfernung zusammen mit Anthony und einer Gruppe junger Leute stand. Als hätte er die Gefahr gefühlt, warf Anthony ihr einen Blick zu. Seine Augen zogen sich zusammen, als er Neville entdeckte.
»Was für ein hübsches Kleid, Mrs. Lake.« Constance lächelte. »Es sieht aus wie eine der Schöpfungen von Madame Francesca. Ich schwöre, ihre Arbeiten sind einzigartig, nicht wahr?«
Lavinia gelang ein Lächeln. »Sicher. Ich nehme an, Sie sind auch Kundin von ihr?«
»In der Tat. Ich bin schon seit Jahren Kundin in ihrem Laden.« Constance warf ihr einen höflich fragenden Blick zu. »Sie sagen, Sie sind auf Besuch aus Bath?«
»Ja.«
»Ich bin sehr oft dorthin gereist, um das Wasser zu genießen. Eine charmante Stadt, nicht wahr?«
Lavinia glaubte, sie würde durchdrehen, wenn sie diese verrückte Unterhaltung noch fortführen müsste. Wo war Tobias? Er hätte längst auf dem Ball erscheinen müssen.
Das Kichern und das Gelächter von unten konnte man hier oben nicht hören, in der Etage, in der Nevilles Schlafzimmer lag. Tobias stellte die Kerze auf die Anrichte. Schnell und methodisch begann er Schubladen und Schränke zu öffnen und wieder zu schließen.
Zehn Minuten später fand er den Brief in einer kleinen Schublade, die in einem der Schränke versteckt war. Er holte ihn hervor und trug ihn hinüber zu der Anrichte, wo seine Kerze stand.
Der Brief war an Neville gerichtet und von Carlisle unterschrieben. Er enthielt Ausgaben, Kosten und Gebühren für den Auftrag, den er in Rom angenommen und ausgeführt hatte.
Tobias wurde klar, dass er auf eine geschäftliche Abmachung blickte, die das Todesurteil für Bennett Ruckland gewesen war.
Neville nahm den Arm seiner Frau. »Wenn die Damen uns bitte entschuldigen wollen, ich glaube, ich habe Bennington dort drüben gesehen, in der Nähe der Treppe. Ich möchte gern mit ihm reden.«
»Ja, natürlich«, murmelte Joan.
Neville führte seine Frau schnell durch die Menge davon. Lavinia sah ihm nach und versuchte, das Paar im Auge zu behalten. Schon bald wurde deutlich, dass Neville nicht in Richtung Treppe ging. Stattdessen führte er Constance zu einer kleinen Gruppe von Frauen, die sich in der Nähe des
Eingangs zum Büffet unterhielten, und ging dann zur anderen Seite des Raumes hinüber.
»Verzeihen Sie mir«, murmelte Lavinia, »aber ich frage mich die ganze Zeit, ob Sie wirklich so weit gegangen sind, Neville und seine Frau zum Verlobungsball Ihrer Tochter einzuladen.«
Zu ihrer Überraschung lachte Joan. »Fielding hat mir gesagt, dass es nicht nötig sein würde, Lord und Lady Neville eine Einladung zu schicken. Er war ganz glücklich darüber, Neville nicht auf die Gästeliste zu setzen.«
»Das kann ich verstehen.«
»Nun«, meinte Joan, »jetzt haben Sie gesehen, wie man mit dem ärgerlichen Problem fertig wird, in der Gesellschaft einem früheren Geliebten zu begegnen, der sehr gut ein Mörder sein könnte.«
»Sie tun so, als sei nichts geschehen.«
»Ganz genau.«
Tobias steckte den Brief in seine Jacke, blies die Kerze aus und ging dann durch den Raum zur Tür. Er lauschte einen Augenblick. Als er im Flur draußen kein Geräusch hörte, verließ er das Schlafzimmer.
Die schmale Treppe, die für die Dienstboten gedacht war, lag am anderen Ende des Flurs. Er fand sie und ging hinunter in die tiefen Schatten.
Als er das Erdgeschoss erreicht hatte, blieb er noch einmal stehen. Von unten hörte er nur Schweigen. Die beiden Menschen, die er zuvor gehört hatte, waren entweder eingeschlafen oder sie hatten eine andere Beschäftigung gefunden, bei der nicht gekichert und gelacht wurde. Er nahm eher das Letztere an.
Er hatte gerade die Tür des Wintergartens geöffnet, als einer der riesigen Schatten im Flur sich von der Wand löste. Es gab gerade genug Mondlicht, um zu sehen, dass in der Hand des Mannes eine Pistole glänzte.
»Halt, Dieb!«
Tobias ließ sich auf den Boden fallen, er rollte durch die Öffnung und stieß hart gegen einen Pflanzenkübel aus Stein. Schmerz durchzuckte sein linkes Bein, doch der Schmerz kam nicht von einer Kugel, es war der ihm so wohl bekannte Protest seiner alten Wunde, deshalb ignorierte er ihn.
»Ich habe mir doch gedacht, dass ich jemanden auf der Hintertreppe gehört habe.«
Die Pistole ging los, ein Tontopf in der Nähe zersplitterte. Tobias warf einen Arm vor sein Gesicht, um seine Augen zu schützen.
Der Mann ließ die leere Pistole fallen und warf sich durch die Tür auf ihn. Tobias kam wieder auf die Beine, nur knapp entkam er dem Mann. Ein weiterer heftiger Schmerz warnte ihn, ehe sein Bein unter ihm nachgab. Er fiel nach vorn und versuchte, sich abzustützen.
Der Mann war wieder auf den Beinen. Die riesigen Hände an seinen ausgestreckten Armen sahen aus wie Klauen.
»Es wird keine Tricks mehr geben.«
Tobias gelang es, sich an der Kante einer Werkbank festzuhalten. Seine Fingerknöchel berührten einen großen Topf, in dem ein riesiger Farn wuchs. Mit beiden Armen hob er den schweren Topf hoch.
Der Mann war nur noch zwei Schritte entfernt, als Tobias den Topf mit dem Farn gegen seine Schulter und die Seite seines Kopfes warf. Er ging zu Boden wie ein gefällter Baum.
Eine unheimliche Stille legte sich über den Wintergarten. Tobias stützte sich gegen die Werkbank und lauschte. Es gab keine Schritte. Keine Alarmrufe.
Nach einem Augenblick stieß er sich von der Werkbank ab und humpelte zu der Tür, die sich zu dem großen Garten hin öffnete. Kurze Zeit später erreichte er die Straße. Es war weit und breit keine Mietkutsche zu sehen.
Wieder einmal sein verdammtes Glück. Es würde ein langer Weg werden bis zum Colchester-Herrenhaus. Aber immerhin regnete es nicht.