Erstes Bild
O-Baras Zimmer. An der Seite brennt eine Papierlaterne. In der Mitte steht in einer vergoldeten Porzellanvase der Apfelbaumzweig. O-Bara schminkt sich. Yuba sitzt neben ihr und reicht ihrer Herrin Döschen, kleine Pinsel und Einreibungen. Nach einem Trommelschlag beginnen die beiden, sich zu bewegen. O-Bara ist in vortrefflicher Stimmung, sie singt vor sich hin und schaut immer wieder zu dem Zweig.
O-BARA (nach einer Pause) Wer ist denn dieser Schelm nun? YUBA Ich weiß nicht, was ihr meint.
O-BARA Ich meine deinen Liebsten. Nun sag schon, wer er ist.
YUBA Ach, wie könnt Ihr nur fragen! Ich schwöre, niemand ist …
O-BARA (fällt ihr ins Wort) Nein, spar dir deine Schwüre, ich glaube nicht daran. Doch kann ich an den Augen und hundert Zeichen sehn, ob ein Liebhaber da ist und auch, ob er was taugt. Der deine, kann ich sehen, bereitet Freude dir. Darum will ich gern wissen, woher er plötzlich kommt. Nun bist du rot geworden. Dummchen, was ist dabei?
YUBA Euch kann man nichts verhehlen. Er ist … einfach ein Mann.
O-BARA Ist er denn reich?
YUBA Nicht sehr.
O-BARA Das dachte ich mir schon. Dass du so strahlst, liegt also allein am Liebesspiel, nicht daran, dass mit Münzen und Schmuck er dich beschenkt? Du warst ein Dummchen, Yuba, und bleibst es alle Zeit. Pass ja gut auf, sonst kriegst du noch einen dicken Bauch! Gib dich nicht allzu sehr hin der Sinnenfreuden Lust. Die Liebe kann berauschen, doch Nutzen bringt sie kaum.
YUBA Doch ohne ihre Freuden ist ja das Leben trüb …
O-BARA Der Preis für diese Freuden ist leider oft sehr hoch.
YUBA Für eine gute Ware zahl ich gern jeden Preis.
O-BARA (sich erstaunt umdrehend) Das ist ja ganz was Neues! Du streitest dich mit mir? Die Fleischeslust ist irdisch, sie wirft dich in den Schmutz und lässt dich darin liegen. Dann bist du nichts mehr wert. Du nichtsnutziges Mädchen! Mein Gott, was bist du dumm! Ich denke, nach Satsumi nehme ich dich nicht mit. Des Fürsten Konkubine braucht eine Dienerin, listig wie eine Füchsin, kein Dummchen so wie dich.
YUBA (verbeugt sich bis zum Boden) Verzeiht, ich will mich bessern! Bitte verjagt mich nicht! Ich schwöre, ich will lernen, zu werden, wie Ihr sagt.
O-BARA Na schön, wir werden sehen … Ich gehe jetzt hinaus. Denn für mein Ikebana brauche ich Blumen noch.
YUBA Sagt, was wollt Ihr für Blumen? Ich pflücke sie Euch gern.
O-BARA (streichelt liebevoll den Apfelbaumzweig) O nein, für dieses Zweiglein will ich lieber allein würdige Nachbarn wählen. Du räum einstweilen auf.
Sie geht hinaus.
Yuba streckt ihr die Zunge heraus. Sie dreht sich um und gibt ein Zeichen. Nach einem Trommelschlag schleicht sich von der anderen Seite her Kinjo mit einem Sack auf den Rücken herein.
KINJO Ich nahm bei eurer Herrin mir Seide, Perlen, Geld. Nun lass uns bei O-Bara schaun, was sich holen lässt. Hast du herausgefunden, wo ihre Schätze sind?
YUBA Gestern hab ich’s gesehen. Hier, ihr Geheimversteck.
Sie zeigt auf ein Tischbein. Kinjo hebt den kleinen Tisch an, öffnet das Versteck und nimmt den Jaspis-Drachen heraus.
KINJO Mehr nicht? Ich hörte sagen, dass sie sehr sparsam sei. Außerdem wird gemunkelt, ihr Liebhaber sei reich.
YUBA Da muss noch ein Geheimfach für Geld sein irgendwo. Das konnte ich nicht finden, es tut mir wirklich leid.
KINJO (steckt den Jaspis-Drachen in den Sack) Egal. Der Jaspis-Drache bringt sicher gutes Geld. Warum ihn sonst verstecken an einem solchen Ort? Doch meine größte Beute aus diesem Haus bist du! Komm, fort von hier, zum Teufel, es ist ein weiter Weg!
Sie gehen hinaus auf den Hanamichi.
Erstes Michiyuki
Im Michiyuki geht die gesamte Handlung auf dem Hanamichi vor sich. Kinjo und Yuba laufen im Koruki-Stil, das heißt, sie imitieren das Laufen, bewegen sich dabei aber kaum von der Stelle. Er hat den Sack über der Schulter und hält sie an der Hand. Yuba hat den Saum ihres Kimonos gerafft und läuft nicht wie eine Frau, sondern wie ein Mann, mit großen Schritten – das symbolisiert ihren Bruch mit der »Welt der Blumen und Weiden«, in der Künstlichkeit und affektierte Weiblichkeit herrschen. Anfangs schaut sie sich immer wieder zum geschlossenen Vorhang um, dann lässt sie es sein. Der Wind hat ihre Frisur zerzaust.
YUBA Und wenn sie uns verfolgen? Was ist dann?
KINJO Ganz egal!
YUBA Und wenn sie uns einsperren? Was ist dann?
KINJO Ganz egal!
YUBA Und wenn wir keine Bleibe mehr finden?
KINJO Ganz egal!
YUBA Wirst du mich nicht verlassen? Sag es mir!
KINJO Ganz e… (korrigiert sich – mit großer Geste) Nein, niemals!
Die beiden wollen eilig verlassen diesen Ort.
Vom heißen Wind der Sünde ist ganz zerzaust ihr Haar.
Irdische Liebe führt sie auf unsicherem Weg,
Und unter ihren Füßen der Pfad ist kahl und hart –
Die Erde mal großzügig, mal grausam und mal karg.
So wird sie lange leiten ihr irdisches Gefühl,
Bis es unter die Erde sie alle beide bringt
Und nur ein Häufchen Asche verweht der laue Wind.
Zweites Bild
Wieder O-Baras Zimmer. Die Geisha kommt herein, Blumen in der Hand. Ihr folgt der in einen Umhang gehüllte Futoya. O-Bara dreht sich zu ihm um, und beide verharren auf der Stelle.
ERZÄHLER
Noch einmal trifft O-Bara mit dem Komplizen sich,
Diesmal, um ihm zu sagen, dass sie das Zeichen gab.
Die Intrigantin weiß nicht, dass ihr von nun an stets
Ein Mitwisser unsichtbar auf leisen Sohlen folgt.
Er schlägt die Trommel. Auf der anderen Seite der Falttür erscheint der Unhörbare und schiebt sie ein wenig auseinander. O-Bara und Futoya bewegen sich wieder.
O-BARA Schon heute oder morgen ist’s mit Ijumi aus. Nichts steht dann mehr im Wege meinem großen Triumph.
Sie setzt sich an den kleinen Tisch und widmet sich aufmerksam und ohne Hast ihrem Ikebana. Futoya setzt sich neben sie.
Alles, was wir uns wünschen, wird in Erfüllung gehn. Da gibt es keinen Zweifel – schon bald, mein lieber Freund.
FUTOYA Das freut mich sehr zu hören! Dann möchte ich jetzt gern das Ding zurück, das ich dir zur Aufbewahrung gab. Das Zeichen ist gegeben, das Urteil ist gefällt, und ein Shinobi zögert mit der Vollstreckung nicht. Ein Bote kann erscheinen bei mir zu jeder Zeit und den Drachen von mir fordern, den Jaspis-Talisman.
O-Bara beendet in Ruhe ihren Ikebana-Strauß. Dann hebt sie den Tisch an, öffnet das Geheimfach und stochert darin herum. Sie glaubt, das Tischbein verwechselt zu haben, und sucht auch in den übrigen.
ERZÄHLER (während sie sucht)
Der Unsichtbare hörte den beiden genau zu,
Und nun ist er im Bilde über den ganzen Plan.
Des Mordes Auftraggeber – sie stehen hier vor ihm.
Es ist ihr Wille, dass er Ijumi töten soll!
O-Bara und Futoya, die würde er mit Lust
Brutal und grausam morden, ganz ohne jeden Lohn!
Doch das Gesetz der Ninja verbietet es ihm streng,
Auftraggeber zu töten ohne triftigen Grund.
O-BARA Wieso ist er verschwunden? Ich weiß es doch genau, ich hab den Jaspis-Drachen in mein Versteck gelegt…
FUTOYA Bitte, lass diese Scherze! Gib mir den Talisman!
O-BARA Verflucht! Er ist gestohlen! Wie konnte das geschehn? Das hohle Tischbein war doch ein sicheres Versteck!
Futoya dreht den Tisch um.
FUTOYA Ich ahne, was du vorhast! Gemeine Schlange, du! Loswerden willst du mich jetzt? Weil du mich nicht mehr brauchst? Ich kann dir nicht mehr nützen? Hab meinen Teil getan? Du willst mich an die Ninja ausliefern, sag es nur! (Packt sie heftig bei den Schultern) Der Jonin wird mich töten für seinen Talisman! Und das ist deine Absicht! Gib ihn zurück, gib her!
O-BARA (sich wehrend) Seid Ihr denn ganz von Sinnen? Lasst mich doch los, Idiot! Wir beide sind Komplizen! Wie könnte ich das tun? Bestimmt hat diese Yuba gemein mich ausgeraubt! Sie ist so widerspenstig zu mir in letzter Zeit.
FUTOYA (hört ihr nicht zu) Gib mir den Drachen wieder! Los, her damit, du Aas! Weil ich dich so sehr liebe, versündigte ich mich. Verdorben ist mein Karma nun für die Ewigkeit.
Sie reißt sich los, er jagt sie durch das ganze Zimmer. Er wirft sie zu Boden, aber O-Bara ist stark und gewandt, sie reißt sich erneut los. Schließlich fallen beide und wälzen sich über die Strohmatten, einander schlagend und kratzend. Das alles geht vollkommen lautlos vor sich, nur pantomimisch.
ERZÄHLER (während der Pantomime)
Das Schicksal stellt uns Fallen aus reinem Hohn und Spott.
Den Sündern wie Gerechten. Ja, niemand ist geschützt.
Und diebisch seine Freude, wenn in das eigne Netz
Gerät ein Fallensteller im Eifer des Gefechts.
Der Unhörbare jubelt. Wie, was? Der Drache weg?
Nun darf er sie bestrafen mit vollem Ninja-Recht.
Die beiden, die Ijumi so sehr den Tod gewünscht!
Der Stumme greift zum Pinsel, zu einem Blatt Papier …
Der Unhörbare zieht eine Papierrolle aus dem Gürtel und reißt ein Stück davon ab. Er holt ein Tuschegefäß und einen Pinsel hervor und schreibt sehr schnell.
Mit schwarzer Tusche schreibt er: »Das Urteil ist vollstreckt.
Ich bitte um den Drachen, das Zeichen des Jonin.«
Ein Trommelschlag.
Der Shinobi öffnet mit einem Ruck die Falttür und tritt ins Zimmer.
O-BARA Genug! Hört auf zu raufen! Wir sind nicht mehr allein!
(zum Unhörbaren) Wie kannst du es nur wagen, hereinzukommen, Narr?
O-Bara und Futoya lösen sich voneinander. Beide setzen sich hin und bringen Haare und Kleider notdürftig in Ordnung. Der Unhörbare reicht, ohne die Geisha zu beachten, dem Kaufmann das Papier.
FUTOYA Ein Blatt Papier? Was soll das? Warum gibst du es mir?
(Liest still, schreit auf.) Allbarmherziger Buddha! Sie ist also schon tot!
Der Unhörbare zieht den Dolch mit der schlangenförmigen Klinge aus dem Gürtel, zeigt ihn Futoya und streckt die Hand nach dem Drachen aus.
FUTOYA (auf allen vieren davonkriechend) Wir zwei gaben den Auftrag. Den Drachen gab ich ihr, dass sie ihn aufbewahre, die ehrenwerte Frau.
O-BARA Er lügt! Ich weiß von gar nichts! Wovon redet er hier? Ich habe keine Ahnung. Was für ein Auftrag denn?
Der Unhörbare hebt den Apfelbaumzweig vom Boden auf und zeigt ihn der Geisha.
O-BARA (begreift, dass leugnen zwecklos ist) Schon gut, ich wollte nur nicht gleich unvorsichtig sein. Entschuldige mein Zögern. Sie ist schon tot? So rasch? Der Auftrag ist erledigt? Ist das auch wirklich wahr? Ich will mich überzeugen und ihre Leiche sehn.
FUTOYA (laut flüsternd) Bist du denn ganz von Sinnen? Ihn zu beleidigen! In solchen ernsten Dingen lügt ein Shinobi nicht! Gib ihm den Jaspis-Drachen! Dein dummes Spiel ist aus! Sonst macht er gleich uns beiden endgültig den Garaus!
O-BARA (flüstert ebenfalls und kriecht dabei zu dem Papierlampion) Ihr seid selbst nicht gescheit, Herr! Ich hab den Drachen nicht! Wenn Euch das Leben lieb ist, schweigt und vertraut auf mich.
Futoya kriecht unter Verbeugungen vor dem schrecklichen Boten zu ihr. Der Unhörbare sieht sie an und streckt fordernd die Hand aus. Den Dolch hat er wieder weggesteckt. O-Bara kippt die Lampe um, und sie verlischt. Dunkel.
O-BARA Rettet mich, meine Beine!
FUTOYA So warte doch! Und ich?
Füßegetrappel.
Der Vorhang schließt sich. Während der Michiyuki-Szene wird die Dekoration umgebaut.
FUTOYA Wie sinnlos, wegzulaufen! Sie finden uns ja doch! Sie werden uns erwischen, selbst auf dem Meeresgrund!
O-BARA (ohne sich umzudrehen) Ich flieh vor dir, du Trottel, nicht vor dem Ninja-Clan. Was sollten sie mich jagen – ich hab den Drachen nicht.
Futoya läuft schneller, holt sie ein.
FUTOYA Was sind denn das für Reden, hast du mich nie geliebt?
O-BARA Ich liebte dich, natürlich, doch darum geht es nicht.
FUTOYA Da hast du recht, wie immer. Und die Idee ist gut. Soll er nur dich erst töten, derweil ich fliehen kann.
Er packt sie am Ärmel und schleudert sie zu Boden. Dann stürmt er vorwärts.
Ich muss vor allem heute dem sichren Tod entgehn, dann hole ich mir Geld und besteche den Jonin!
O-Bara packt den Saum seines Kimonos, und er stürzt. Beide springen auf und setzen ihren panischen Lauf fort, einander ständig schubsend.
ERZÄHLER
Hier seht ihr jene Liebe in ihrer ganzen Pracht
Die Okasan erst kürzlich die »höllische« genannt.
In den Geliebten lodert ein Feuer, stark und heiß.
Doch macht es ihre Seelen nicht wärmer, sondern kalt.
Ein jeder sinnt auf Vorteil, läuft dem Gewinn nur nach.
Am Ende dieses Weges lauert der Hölle Schlund.
Er schlägt die Trommel. Ein Lichtstrahl reißt den vor dem Vorhang stehenden Unhörbaren aus der Dunkelheit. Er führt ein Bambusblasrohr zum Mund, schießt einen vergifteten Pfeil ab, und Futoya stürzt zu Boden. Ein weiterer Schuss, und O-Bara fällt. Sie winden sich auf der Erde und liegen dann still. Der Unhörbare geht zu den Leichen. Er zieht den Schlangendolch hinter seinem Rücken hervor, bückt sich und macht etwas. Der Lichtstrahl erlischt.
Dunkel. Man hört den Unsichtbaren auf die Bühne zurückgehen.
Wieder der verlassene Tempel. Drinnen ist es dunkel, nur ein einsamer Lichtstrahl fällt auf den Unhörbaren. Er ist ohne Maske, doch sein Gesicht ist nicht zu sehen, weil er dem Saal den Rücken zugedreht hat. Er hat die Arme seitlich ausgestreckt: in der linken Hand hält er einen Frauenkopf, in der rechten einen Männerkopf.
ERZÄHLER
Ein unerhörter Vorfall! Der Auftrag nicht erfüllt,
Und dennoch trifft der Ninja sich mit seinem Jonin.
Die Aufhebung des Auftrags ist seiner Bitte Ziel.
Der Auftraggeber habe die Absprache verletzt.
Er schlägt die Trommel.
Die Buddha-Statue wird von hinten schwach angeleuchtet. Eine Stimme ertönt.
Der Unhörbare legt die beiden Köpfe auf den Boden, kreuzt respektvoll die Arme über den Knien und senkt den Kopf.
DER UNSICHTBARE Unhörbarer, man brachte mir heute deinen Brief. Er hat bei mir Empörung in großem Maß entfacht. Nur all deine Verdienste halten mich davon ab, dich hinrichten zu lassen für diesen Treuebruch.
Der Unhörbare zieht den Schlangendolch und hält ihn sich an die Kehle, um zu demonstrieren, dass er bereit ist, einen derartigen Befehl unverzüglich auszuführen.
Der Vorhang raschelt. Ein Trommelschlag.
DER UNSICHTBARE (fährt fort) Und den Auftrag zu geben an einen and’ren Mann. Das Urteil zu vollstrecken ist ehernes Gesetz. Wer auch der Auftraggeber oder das Opfer sei. Es gibt für uns Shinobi eine heilige Pflicht. Wir brechen die Gesetze der ganzen Menschenwelt, Geschöpfe aus der Hölle nennt ihre Fama uns. Wir sehen unsern Weg nicht, doch gibt es einen Stern, dessen Licht hell erleuchtet unseren leisen Schritt. Wozu er lebt auf Erden, das weiß er nicht, der Mensch. Die wunderlichsten Dinge ersinnt er gern für sich. Von gut und böse spricht er, von hässlich oder schön, und diese Ketten fesseln ihn stets in seinem Tun. Aber es weiß nur Buddha, was gut, was böse ist; schnell wird das Schöne hässlich, nichts bleibt so, wie es ist. Es gibt nur eine Größe von wahrem, echtem Wert: Dem Weg, den du erwählt hast, dem bleib für immer treu. Unser Weg ist das Töten. Ein Handwerk, das zur Kunst wir ausgebildet haben in langer Tradition. Verletze nie die Ehre. Folge dem Weg des Sterns. Wer bist du ohne Ehre? Einfach ein Mörder nur.
Der Kopf des Unhörbaren senkt sich immer tiefer. Schließlich streckt er sich zum Zeichen unbedingten Gehorsams bäuchlings auf dem Boden aus.
Nun also, geh, erfülle den Auftrag ungesäumt, dann kann ich deine Schwäche vergessen und verzeihn. Und bring mir meinen Drachen aus Jaspis auch zurück. Du haftest mit dem Leben für diesen Talisman …
Das Licht hinter der Statue erlischt. Der Unhörbare setzt sich abrupt auf und bleibt reglos sitzen, in derselben Haltung wie der Buddha.
ERZÄHLER
Beschämt haben den Ninja die Worte des Jonin.
Wie wahr sie sind, das weiß er, der Unhörbare, wohl
Er hat sein ganzes Leben nur Tod gesät – wozu?
Wozu schnitt ohne Zögern er sich die Zunge ab?
Wozu tat er das alles, wenn er den Weg verlässt?
Sein Leben wär’ ohn’ Ehre und ohne jeden Sinn.
Ohne Blut kann nicht leben ein Löwe oder Hai.
Und ein Shinobi darf nicht weichen von seinem Weg!
Das sagt er sich, zu stärken seinen erlahmten Geist.
Im Kampf von Pflicht und Liebe hat nun die Pflicht gesiegt.
Ein Trommelschlag. Der Unhörbare springt auf und erstarrt, in seiner Hand blitzt der Schlangendolch.
Dunkel. Vorhang. Die Bühne wird gedreht.
Viertes Bild
Der Garten vor Ijumis Pavillon. Nacht. Die Falttüren sind geschlossen, aber drinnen brennt Licht. Man sieht die Silhouette der Geisha, die melancholisch die Saiten der Samishen anschlägt. Der Unhörbare schleicht sich heran. Er bleibt vor der Engawa stehen. Zückt den Dolch. Verharrt reglos.
ERZÄHLER
Und in derselben Nacht noch, dem Schicksal untertan,
Will der Shinobi redlich erfüllen seine Pflicht.
Heute soll nun geschehen, was ihn sein Karma heißt.
Der Mensch kann nicht entrinnen dem vorbestimmten Los.
Und doch, als der Shinobi die Silhouette sieht,
Verlangsamt er die Schritte, bleibt unentschlossen stehn …
Er schlägt die Trommel.
Am Rand der Engawa erscheint Soga. Er entdeckt den Unhörbaren mit dem Dolch in der Hand, zückt das Schwert und stürzt sich wortlos und rasend auf den Mörder.
Es folgt die Szene eines ungewöhnlichen Zweikampfs: Er geht vollkommen lautlos vor sich. Die Gegner bewegen sich ohne das geringste Geräusch. Das Besondere an der Fechtkunst des Shinobi besteht darin, dass er Hiebe nicht mit der Klinge abwehrt, sondern ihnen mit raschen Bewegungen und Sprüngen ausweicht, hin und wieder sogar mit einem Salto. Sogas langes Schwert trifft ständig ins Leere. Der Unhörbare hat seinen Dolch wieder weggesteckt, in die verborgene Scheide auf seinem Rücken.
Das Duell erinnert an ein akrobatisches Ballett oder an Pantomime: Musikalisch begleitet wird es von Ijumis Spiel auf der Shamisen.
Der Kampf endet auf diese Weise: Der Unhörbare weicht am Apfelbaum einem Schwerthieb aus, und das Schwert spaltet den Baum in zwei Hälften. Soga dreht sich unwillkürlich nach dem fallenden Baum um. Dieser Augenblick genügt dem Unhörbaren, um den Dolch zu zücken und ihn dem Ronin in die Brust zu bohren. Im selben Moment bricht die Musik ab, und das Licht im Pavillon erlischt.
Der Shinobi fängt den Körper auf, als wolle er ihn umarmen, und lässt ihn langsam zu Boden gleiten. Sich zum Pavillon umschauend, versteckt er, wie Soga im ersten Akt, den Leichnam unter der Engawa. Der Dolch steckt wieder in der Scheide. Dann geht der Unhörbare zur Veranda hinauf. Er öffnet die Falttür einen Spalt, schlüpft hinein und schließt die Tür wieder. Pause.
Der Erzähler schlägt leise, aber schnell die Trommel, im Rhythmus aufgeregten Herzschlags.
IJUMIS STIMME Wer atmet hier? Wer schaut mich dort aus dem Dunkel an?
Die Lampe geht wieder an. Man sieht die Silhouetten der beiden: Ijumi hat sich auf ihrem Lager aufgerichtet, vor ihr steht der Unhörbare. Die Szene geht als Schattentheater weiter.
IJUMI Ach, du bist es? Ich wusste, du kehrst zu mir zurück!
Der Unhörbare weicht zurück.
Warum nun so verlegen? Verlässt dich schon der Mut? Du denkst, dass ich voll Abscheu dich gleich verjagen will? So wisse denn, ich warte auf dich voll Ungeduld.
Sie streckt ihm die Arme entgegen.
Ich habe schon so viele Liebesschwüre gehört, dass ich mich nicht geniere, mich dir zu offenbarn. Ich liebe dich von Herzen, du sollst mein Schicksal sein. Und es spielt keine Rolle, ob dein Gesicht entstellt. Ach, was für dumme Reden! Für mich ist dein Gesicht fortan für alle Zeiten der Schönheit Ideal. Die hübschen Larven werden dagegen hässlich sein, ein widerlicher Anblick, abscheulich anzusehn! Komm, lass mich ohne Maske nun dein Gesicht anschaun! Ich werde dein Vertrauen betrachten als Geschenk!
Ein Trommelschlag. Der Unhörbare reißt sich mit einem Ruck die Maske herunter.
IJUMI (verwirrt) Du hast gar keinen Makel! Du bist doch wunderschön! Warum in aller Welt nur verbirgst du dein Gesicht? Mein Schicksalsauserwählter ist stumm und wunderschön, wie nachts der Mond am Himmel, wie ein tagheller Stern!
Auch ich steh ohne Maske, ganz ungeschminkt vor dir. Du siehst mich jetzt genau so, wie ich in Wahrheit bin. Komm, lass uns beide schwören, dass wir fortan nie mehr unser Gesicht verbergen, wenn wir zusammen sind. Ich will nicht länger Geisha sein, ich geh fort mit dir! Lass uns zusammenleben, wie andre Paare auch. Eben ein wenig anders … Dein Stummsein ist nicht schlimm. Ich werde für uns beide doppelt geschwätzig sein. Ach, es spielt keine Rolle, was einst mit uns geschieht. Hier und jetzt, mein Geliebter, lass uns zusammen sein!
Er streckt die Arme nach ihr aus, sie zieht ihn auf ihr Lager. Erst verlischt das Licht im Pavillon, dann auf der ganzen Bühne. Leise Musik.
Vorhang.
Drittes Michiyuki
Auf dem Hanamichi erscheint der Unhörbare, eine Laterne in der erhobenen Hand. Die Zuschauer sehen zum ersten Mal sein Gesicht, es ist leidenschaftslos. Hinter dem Unhörbaren geht Ijumi, ein Bündel in der Hand. Ihr Gesicht, ohne weiße Schminke, wird von einem Lichtstrahl beleuchtet. Sie trägt einen schlichten dunklen Kimono. Beide erstarren.
Noch vor dem Morgengrauen gingen sie aus dem Haus,
Verließen das Yanagi und ihre alte Welt.
So dachte sich Ijumi … Wohin ihr Weg sie führt,
Das will sie gar nicht wissen, sie folgt ihm unverzagt,
Schwatzt munter wie ein Bächlein und ohne Unterlass.
Die finstre Nacht erscheint ihr auf einmal wunderschön.
Er schlägt die Trommel.
Die beiden laufen im Koaruki-Stil, der Unhörbare mit weit ausgreifenden Schritten, Ijumi dagegen, dem Gebot der Weiblichkeit folgend, mit kleinen Trippelschritten.
IJUMI Die Nacht ist ohne Sterne, und auch der Mond scheint nicht. Spurlos verschwinden werden wir beide in der Nacht. Ich glaubte, dass mein Leben verglüht wie ein Komet. Nur eine Spur am Himmel, ganz kurz, dann Dunkelheit. Doch nun hat mir das Schicksal ein andres Los beschert: Leben mit dem Geliebten werd ich, als seine Frau. Ein Grashalm unter vielen, im Blätterwald ein Blatt. Ein ganz normales Leben – was für ein großes Glück! Doch wozu der Kimono, was soll ich mit dem Stück, in dem ich im Yanagi vor Publikum getanzt? (Sie zeigt auf das Bündel.) Für ein einfaches Leben ist er nicht schlicht genug, ich kann ihn nirgends tragen, nicht im, nicht außer Haus.
Der Unhörbare bleibt abrupt stehen und dreht sich zu ihr um.
IJUMI (legt das Bündel ab) Du wähltest diese Stelle für eine kleine Rast? Ja, es ist wirklich schön hier: der steile Hang, der Fluss … (Sie tritt an den Rand des Hanamichi und blickt hinunter.) Ja, so ist die Karyukai, wo wahre Schönheit wohnt, die Blumen und die Weiden, ergeben dem Yugen.
Währenddessen nimmt der Unhörbare den Kimono aus dem Bündel und breitet ihn auf der Erde aus. Dann zieht er eine Papierrolle aus dem Ärmel und reicht sie seiner Begleiterin.
IJUMI (mit leisem Lachen) Du hast noch im Yanagi irgendetwas verfasst. Du wolltest mir nicht zeigen, was du geschrieben hast. Nun hab ich eine Ahnung: Wohl ein Liebesgedicht? Und hier soll ich es lesen, an diesem schönen Ort?
Sie nimmt mit einer Hand das Papier, mit der anderen die Laterne. Sie liest. Nach einer Weile beginnt die Laterne zu zittern.
ERZÄHLER
Ach, leider irrt Ijumi! Nein, es ist kein Gedicht.
Darin bekennt der Ninja, was sein Gewerbe ist.
Er schreibt, sie müsse sterben, der Tod sei ihr gewiss,
Sie könne sich nur retten, indem sie flieht ins Nichts.
Sie soll aus Tokio fortgehn, rasch und für alle Zeit
Und in der Fremde suchen ein anderes Geschick.
Verwirkt sei seine Ehre, weil er sie laufen ließ.
Ein Leben ohne Ehre sei sinnlos für den Mann.
Er müsse sein Versagen drum büßen mit dem Tod.
Doch wolle er zuvor noch verwischen ihre Spur.
Die Mörder sollten finden Ijumis Kimono,
Mit ihrem Blut besudelt – doch ihren Körper nicht.
Sie sollten denken, dass er, geworfen in die Schlucht,
Vom Wasser fortgetragen, vom starken, schnellen Strom.
Ob sie des Ninjas Leichnam fänden oder nicht,
Das spiele keine Rolle für den Jonin des Clans.
Er wüsste, dass der Ninja seinen Befehl erfüllt,
Doch offenbar den Drachen, des Jonins Talisman,
Nicht wiederfinden konnte und sich darum entleibt,
Wie das Gesetz der Ninja es von jedem verlangt,
Dem seine Ehre lieb ist. So will es alter Brauch.
Und in den letzten Zeilen dieses schrecklichen Briefs
Fleht sie der Unhörbare zum Abschied innig an:
Flieh! Rette dich! Lauf weg schnell! Lebe! Und mich vergiss.
Ich bleib für dich ein Schatten, ein Mann ohne
Gesicht.«
Der Unhörbare setzt die Maske wieder auf.
Ganz ohne alle Fassung, bleibt nun Ijumi stumm.
Ja, sie kann sich nicht rühren, ihr scheint, das ist ein Traum,
Ein böser, schlimmer Alptraum. Wann wacht sie endlich auf?!
So nimmt sie ohne Worte Abschied vom stummen Freund …
Er schlägt die Trommel.
Der Unhörbare reißt den Schlangendolch heraus, durchbohrt sich die Kehle, beugt sich vor, damit das Blut auf den ausgebreiteten Kimono fließt, und stürzt in die Schlucht (in den dunklen Winkel zwischen Hamamichi und Bühne). Wasser plätschert. Ijumi schreit durchdringend. Sie wirft die Laterne hin – und alles versinkt in Dunkelheit.
Ein Totensutra ertönt, begleitet von gleichmäßigen Trommelschlägen.
Währenddessen verschwindet die Schauspielerin hinter dem Vorhang, mit Laterne und Kimono.
Fünftes Bild
Ijumis Zimmer Sie steht reglos auf der Schwelle ihres Zimmers, in das sie eben zurückgekehrt ist.
ERZÄHLER
Blind stolpernd durch das Dunkel, ohne den Weg zu sehn,
Lief ziellos fort Ijumi durch sternenlose Nacht.
Dann kommt sie wieder zu sich. Und sieht: Zurück ins Haus
Trugen sie ihre Schritte ohne Verstand und Sinn.
Wie eine Marionette am Abend, nach dem Spiel,
Leblos in ihrer Truhe wieder liegt, Tag für Tag.
Er schlägt die Trommel.
Ijumi blickt sich langsam im Zimmer um, als sähe sie es zum ersten Mal, und setzt sich vor ihre Schatulle, das Profil dem Saal zugewandt. Sie schaut die Schatulle an und klappt den Deckel mit dem Spiegel auf.
Vorm Spiegel hat Ijumi die meiste Zeit verbracht,
Bewunderte das Abbild ihres schönen Gesichts.
Auch jetzt sucht sie im Spiegel, in seinem glatten Glas
Nach Antworten, als könne sie dort die Wahrheit sehn.
»Er war Ninja, ein Mörder. Aber sag, wer bist du?
Wozu bist du geboren? Was ist dein wahres Ich?«
Das fragt sie ihren Spiegel in ihrer großen Not.
Als ob darin das Abbild ihr Antwort geben könnt.
IJUMI (ekstatisch) »Ein Leben ohne Ehre ist sinnlos für den Mann«, sprach er und ging dann von mir in tiefer, dunkler Nacht. Ich konnte nicht mehr fragen, vor Schrecken ganz erstarrt: »Aber kann ohne Ehre denn leben eine Frau?« Wer bin ich? Ich bin Geisha, darum ist es mein Weg, unsterblich zu verkörpern das Bild der schönen Frau. Um unsterblich zu werden, gibt es nur ein Rezept: Das Leben von Ijumi muss bald Legende sein. Poeme, Lieder, Dramen werden berichten dann vom Ninja und der Geisha, die einst die Liebe traf. Ein jeder dieser beiden war treu nur seiner Kunst. Als unverhofft die Liebe dann kreuzte ihren Weg, war nicht zu überwinden, was zwischen ihnen stand. Sie flogen in den Himmel, ganz weit und hoch hinauf; dort sind Liebe und Ehre in Harmonie vereint.
Sie nimmt ihr Stilett aus der Schatulle und sieht es an. Leise, ohne jede Affektiertheit, fährt sie fort.
Ach, das ist dumm, Geliebter. Ich will nur bei dir sein. Schluss jetzt mit diesem hohlen, dummen Geisha-Geschwätz. Durch schwarze Ewigkeiten fliegen wir beide bald, zwei leuchtende Kometen in sternenloser Nacht.
Sie durchbohrt sich mit dem Stilett die Kehle. Das Licht erlischt, und über dem Saal flammen, wie zwei Kometen, zwei Lichtstrahlen auf.
Vorhang.