Noch acht Einheiten bis zum Soloabend

Ein harmonischer Mensch

Für einen harmonischen Menschen hielt sich Erast Petrowitsch, seit er die erste Stufe der Weisheit erlangt hatte. Das geschah weder zu spät noch zu früh, sondern genau zur rechten Zeit – in einem Alter, in dem man bereits Bilanz ziehen sollte, aber seine Pläne noch ändern kann.

Die wichtigste Schlussfolgerung, die er aus den erlebten Jahren zog, war eine äußerst kurze Maxime, die ebenso viel wert war wie sämtliche philosophischen Lehren zusammen: Alt werden, das ist gut. »Alt werden« bedeutet reifen, das heißt, nicht schlechter werden, sondern besser – stärker, weiser, vollkommener. Empfindet der Mensch das Altern jedoch nicht als Gewinn, sondern als Verlust, heißt das, dass sein Schiff vom Kurs abgekommen ist.

Um im seemännischen Bild zu bleiben, kann man sagen, dass Fandorin die Riffe des fünfzigsten Geburtstages, an denen Männer häufig Schiffbruch erleiden, mit vollen Segeln und wehender Flagge umschifft hatte. Zwar hätte die Mannschaft beinahe rebelliert, aber es war noch einmal gut gegangen.

Der Meutereiversuch hatte just am Tag seines halbhundertjährigen Jubiläums stattgefunden, was natürlich kein Zufall war. Diese Zahl besitzt zweifellos eine gewisse Magie, die nur Menschen ohne jede Phantasie nicht spüren.

Nachdem Erast Petrowitsch seinen Geburtstag mit einem Spaziergang im Taucheranzug auf dem Meeresgrund begangen hatte (zu der Zeit war er ein leidenschaftlicher Taucher), saß er am Abend auf der Veranda, betrachtete das auf der Esplanade flanierende Publikum, schlürfte einen Rumpunsch und sagte sich dabei in Gedanken immer wieder: »Ich bin fünfzig, ich bin fünfzig« – als koste er ein unbekanntes Getränk. Plötzlich blieb sein Blick an einem uralten Greis mit einem weißen Panamahut hängen; ein Mulatte schob die vertrocknete, zitternde Mumie in einem Rollstuhl. Der Blick des Methusalems war trübe, an seinem Kinn hing ein Speichelfaden.

Ich hoffe, ich werde nie so alt, dachte Fandorin – und begriff, dass er erschrocken war. Noch mehr erschrak er darüber, dass der Gedanke an das Alter ihn erschreckt hatte.

Die Stimmung war verdorben. Er ging in sein Zimmer, ließ seine Jadekette durch die Finger gleiten und malte das japanische Schriftzeichen »Alter« auf ein Blatt Papier. Als er das Blatt mit Darstellungen des Symbols in allen möglichen Stilen bedeckt hatte, war das Problem gelöst und eine Konzeption entwickelt. Die Meuterei an Bord war besiegt. Erast Petrowitsch hatte die erste Stufe der Weisheit erklommen.

Das Leben kann nie bergab gehen, nur bergauf – bis zum allerletzten Augenblick. Das erstens.

Die oft zitierte Puschkin-Zeile »So eilt denn Tag um Tag, und jeder Tag raubt uns ein Teilchen unsres Seins« enthält einen logischen Fehler. Wahrscheinlich war der Dichter gerade von Schwermut befallen, oder es handelt sich einfach um einen Schreibfehler. Das Gedicht müsste lauten: »So eilt denn Tag um Tag, und jeder Tag schenkt uns ein Teilchen unsres Seins.« Wenn der Mensch richtig lebt, macht ihn der Lauf der Zeit nicht ärmer, sondern reicher. Das zweitens.

Altern muss eine gewinnbringende Transaktion sein, ein natürlicher Tausch physischer und intellektueller Stärke gegen mentale, äußerer Schönheit gegen innere. Das drittens.

Alles hängt von der Sorte deines Weins ab. Ist er minderwertig, wird er mit der Zeit sauer. Ist er edel, wird er nur besser. Daraus folgt: Je älter der Mensch wird, desto qualitativ besser muss er werden. Das viertens.

Und schließlich fünftens. Ein Nachlassen der physischen und intellektuellen Kraft wollte Erast Petrowitsch nicht zulassen. Zu diesem Zweck erarbeitete er ein spezielles Programm.

In jedem kommenden Lebensjahr wollte er eine neue Grenze erreichen. Sogar zwei Grenzen: eine sportlich-physische und eine intellektuelle. So würde das Altern nicht beängstigend, sondern interessant sein.

Relativ schnell war der Perspektivplan der bevorstehenden Expansion erstellt – ein Plan, für den womöglich die nächsten fünfzig Jahre gar nicht reichen würden.

An intellektuellen Aufgaben nahm Fandorin sich vor: endlich richtig Deutsch zu lernen, da ein Krieg gegen Deutschland und Österreich-Ungarn offensichtlich unvermeidlich war; Chinesisch zu lernen (dafür würde ein Jahr nicht reichen, er würde zwei brauchen – und das auch nur, weil er mit den Schriftzeichen bereits vertraut war); eine schändliche Lücke in seinem Weltbild zu schließen und sich gründlich mit der muslimischen Kultur zu befassen, wofür er Arabisch lernen und den Koran im Original lesen musste (schätzungsweise drei Jahre); die klassische und zeitgenössische Literatur zu lesen (dafür hatte er immer zu wenig Zeit gehabt) und so weiter und so weiter.

An sportlichen Aufgaben für die nächste Zeit: einen Aeroplan steuern lernen; ein Jahr der interessanten und für die Koordination nützlichen olympischen Sportart des Stabhochspringens widmen; Bergsteigen; unbedingt ohne Skaphander tauchen lernen, mit dem neuartigen Rebreather, bei dem ein vervollkommneter Regulator für die Sauerstoffzufuhr es gestattet, für einen längeren Zeitraum in beachtlichen Tiefen zu tauchen. Ach, es war gar nicht alles aufzuzählen!

In den fünf Jahren, die verstrichen waren seit Fandorins Erschrecken vor seinem eigenen Schreck, hatte seine Methode des richtigen Alterns beachtliche Resultate erbracht. Jedes Jahr hatte er eine neue Stufe erklommen – genauer gesagt, zwei, so dass er auf sich als Fünfzigjährigen nun von oben herabsah.

 

Zu seinem einundfünfzigsten Geburtstag hatte Erast Petrowitsch zur intellektuellen Vervollkommnung Spanisch gelernt, das ihm bei seinen Seereisen in der Karibik so gefehlt hatte. Die physische »Stufe« war die Kunst der Dshigiten. Geritten war er natürlich auch früher schon, aber nicht eben glänzend, dabei war das eine nützliche und zudem äußerst spannende Angelegenheit, viel schöner als Autorennen, die ihn mittlerweile langweilten.

Mit zweiundfünfzig sprach Fandorin Italienisch und hatte sich beträchtlich verbessert in der Beherrschung des Kenjutsu, des japanischen Schwertkampfs. Unterrichtet wurde er in dieser großartigen Kunst vom japanischen Botschafter Baron Shigema, einem Träger des höchsten Dan. Am Ende besiegte Erast Petrowitsch den Baron in zwei von drei Kämpfen (einen Sieg überließ er dem Sensei, um diesen nicht zu kränken).

Das dreiundfünfzigste Jahr widmete Fandorin einerseits der antiken und neueren Philosophie (Fandorins Bildung beschränkte sich nämlich leider auf das Gymnasium), andererseits dem Motorradfahren, das in Punkto aufregender Empfindungen dem Reitsport in nichts nachstand.

Im zu Ende gegangenen Jahr 1910 war Fandorins Geist ganz von der Chemie beherrscht, der sich am rasantesten entwickelnden modernen Wissenschaft, während er seinen Körper in der Kunst des Jonglierens übte (scheinbar nichtiger Spielkram, aber sehr nützlich für die Feinmotorik und die Körperbeherrschung).

In der laufenden Saison schien es ihm logisch, vom Jonglieren zur Hochseilakrobatik zu wechseln – ein ausgezeichnetes Training für das körperliche und nervliche Gleichgewicht.

Die intellektuellen Übungen hatten teilweise mit dem vorjährigen Interesse für die Chemie zu tun. Fandorin hatte beschlossen, diese zwölf Monate seiner alten Leidenschaft zu widmen – der kriminalistischen Wissenschaft. Die gesetzte Frist war bereits abgelaufen, doch Fandorin führte seine Forschungen fort, denn sie hatten eine überraschende und äußert vielversprechende Richtung eingeschlagen, mit der sich außer Erast Petrowitsch noch niemand beschäftigte.

Die Rede ist von neuen Methoden der Arbeit mit Zeugen und Verdächtigen: Wie konnte man sie zu völliger Aufrichtigkeit stimulieren? In den barbarischen Zeiten hatte man sich dafür eines brutalen und recht unzuverlässigen Mittels bedient – der Folter. Fandorin fand heraus, dass die vollständigsten und zuverlässigsten Ergebnisse durch die Kombination dreier Methoden erzielt wurden – psychologische, chemische und hypnotische Einwirkung. Wenn man jemanden, der über eine benötigte Information verfügte, sie aber nicht preisgeben wollte, zunächst analysierte und seinem Typ entsprechend vorbereitete, dann seinen Widerstand mit Hilfe bestimmter Präparate schwächte und ihn anschließend unter Hypnose setzte, war dessen absolute Aufrichtigkeit garantiert.

Die Ergebnisse der Experimente waren beeindruckend. Allerdings hegte Fandorin ernsthafte Zweifel an ihrem praktischen Wert. Nicht nur, dass Fandorin seine Entdeckungen um nichts in der Welt mit dem Staat teilen wollte (ihn graute bei der Vorstellung, wie die unsensiblen Herren der Geheimpolizei und der Gendarmerie diese Waffe einsetzen würden), nein, auch er selbst würde sich sicher nicht gestatten, bei einer Ermittlung einen Menschen, und sei er noch so schlecht, mittels chemischer Einwirkung zu manipulieren. Immanuel Kant, der sagte, dass man die Menschen nicht als Mittel zum Zweck benutzen dürfe, würde das wohl kaum gutheißen – und nach einem Jahr philosophischer Studien betrachtete Fandorin den Königsberger Weisen als höchste moralische Autorität. Darum war die Erforschung des »Aufrichtigkeitsproblems« für Erast Petrowitsch eher abstrakter wissenschaftlicher Natur.

Offen blieb allerdings die Frage, inwieweit die Anwendung der neuen Methode bei der Verfolgung von besonders üblen Taten und von Verbrechen, die eine echte Gefahr für Staat und Gesellschaft bargen, ethisch vertretbar war.

 

Just darüber dachte Fandorin seit drei Tagen angestrengt nach – seit er vom Attentat auf Premierminister Stolypin erfahren hatte. Am Abend des 1. September hatte ein junger Mann in Kiew zwei Mal auf den obersten russischen Politiker geschossen.

Vieles an diesem Ereignis wirkte geradezu phantasmagorisch. Erstens hatte sich das blutige Drama nicht irgendwo abgespielt, sondern im Theater, vor den Augen eines vielköpfigen Publikums. Zweitens lief ein recht heiteres Stück – »Das Märchen vom Zaren Saltan«. Drittens war nicht nur der Märchenzar zugegen, sondern auch der echte, und den rührte der Attentäter nicht an. Viertens wurde das Theater so streng bewacht, dass kein Gwidon1 dort hätte eindringen können, auch nicht in eine Mücke verwandelt. Die Zuschauer wurden nur mit von der Geheimpoliziei ausgestellten persönlichen Besucherkarten eingelassen. Fünftens – und das war am unglaublichsten – besaß der Terrorist eine solche Besucherkarte, und die war nicht einmal gefälscht, sondern echt. Sechstens hatte der Täter nicht nur in das Theater gelangen, sondern auch noch eine Handfeuerwaffe einschmuggeln können.

Nach den Informationen zu urteilen, die Erast Petrowitsch erreichten (und seine Quellen waren zuverlässig), machte der Verhaftete keinerlei Aussagen, die dieses Rätsel zu lösen vermochten. Hier wären die neuen Vernehmungsmethoden sehr hilfreich gewesen!

Während das Regierungsoberhaupt im Sterben lag (die Verwundung war leider tödlich), während unfähige Ermittler sinnlos Zeit verloren, bebte und schwankte das ohnehin von zahlreichen Problemen heimgesuchte Riesenreich – womöglich würde es unversehens stürzen, wie ein überladenes Fuhrwerk, das in einer scharfen Kurve seinen Kutscher verloren hat. Allzu viel bedeutete Pjotr Stolypin für den Staat.

Fandorins Verhältnis zu diesem Mann, der fünf Jahre lang fast uneingeschränkt Russland regiert hatte, war kompliziert. Erast Petrowitsch schätzte den Mut und die Entschlossenheit des Premiers, hielt jedoch vieles an Stolypins Kurs für falsch, ja für gefährlich. Dennoch stand für ihn außer Zweifel, dass Stolypins Tod ein empfindlicher Schlag für den Staat war und das Land dadurch in ein neues Chaos zu sinken drohte. Vieles hing jetzt von einer raschen und effektiven Aufklärung ab.

Fandorin war sicher, dass man ihn als Experten hinzuziehen würde. Das war auch früher häufig geschehen, wenn die Ermittlungen in einem außerordentlichen Fall stagnierten, und etwas Außerordentlicheres und Wichtigeres als das Kiewer Attentat war schwer vorstellbar. Zumal Erast Petrowitsch den Premierminister persönlich gekannt hatte – er hatte mehrfach auf dessen Bitte an kniffligen oder besonders heiklen staatswichtigen Ermittlungen mitgewirkt.

 

Die Zeiten, da Fandorin aufgrund eines Konflikts mit den Mächtigen gezwungen gewesen war, sein Land und seine Heimatstadt für viele Jahre zu verlassen, waren längst vorbei. Fandorins persönlicher Widersacher, einst der mächtigste Mann in der alten Hauptstadt (besser gesagt, das, was von seinem kaiserlichen Leib übrig war), ruhte seit langem in einer pompösen Gruft, von den Bewohnern der Stadt nicht übermäßig betrauert. Nichts hinderte Fandorin, so viel Zeit in Moskau zu verbringen, wie er wollte. Nichts – außer seinem Hang zu Abenteuern und neuen Eindrücken.

Wenn Fandorin sich in der Stadt aufhielt, mietete er stets ein Gartenhaus in der Maly-Uspenski-Gasse, die im Volksmund Swertschkow-Gasse hieß. Vor langer Zeit, vor rund zweihundert Jahren, hatte ein gewisser Kaufmann Swertschkow2 hier ein Steinhaus errichtet. Der Kaufmann war lange tot, das Palais hatte mehrfach den Besitzer gewechselt, doch der anheimelnde Name hielt sich noch immer im Moskauer Gedächtnis. Hier erholte sich Fandorin von seinen Reisen und Forschungen und lebte ruhig und still – wie ein Heimchen hinterm Ofen.

Das Haus war bequem und für zwei Personen recht geräumig: sechs Zimmer, Bad, Wasserleitung, Strom, Telefon – für 135 Rubel im Monat, inklusive der Kohle für die holländischen Kachelöfen. In diesen Wänden absolvierte Fandorin den größten Teil seines intellektuellen und sportlichen Programms. Hin und wieder stellte er sich mit Behagen vor, wie er sich eines Tages, wenn er der Reisen und Abenteuer überdrüssig war, für immer in der Swertschkow-Gasse niederlassen und sich ganz dem interessanten Prozess des Alterns hingeben würde.

Eines Tages. Noch nicht jetzt. Noch nicht so bald. Wahrscheinlich mit über siebzig.

Von Überdruss war Erast Petrowitsch einstweilen weit entfernt. Jenseits des Heimchenofens gab es noch zu viele rasend interessante Orte, Ereignisse und Phänomene. Manche Tausende Kilometer entfernt, manche mehrere Jahrhunderte.

Vor rund zehn Jahren hatte Fandorin begonnen, sich für die Unterwasserwelt zu interessieren. Er hatte sogar ein eigenes Tauchboot entworfen und gebaut, das auf der entfernten Insel Aruba lag und dessen Konstruktion er ständig verbesserte. Das erforderte enorme Ausgaben, doch nachdem Erast Petrowitsch mit Hilfe des Unterseebootes eine wertvolle Fracht vom Meeresboden hatte bergen können, hatte das Hobby sich nicht nur mehr als rentiert, sondern ihn darüber hinaus auch der Notwendigkeit enthoben, von Honoraren für Ermittlungen und detektivisch-kriminalistische Beratungen zu leben.

Nun übernahm er nur noch die interessantesten Fälle oder solche, die er aus verschiedenen Gründen nicht ablehnen konnte. Jedenfalls war der Status eines Mannes, der jemandem einen Gefallen oder einen Dienst erwies, weit angenehmer als der eines noch so geschätzten bezahlten Dienstleisters.

Seine Ruhe hatte Fandorin nur selten und nie für lange. Das verdankte er dem Ruf, den er sich in internationalen Profikreisen in den letzten zwanzig Jahren erworben hatte. Seit dem unseligen japanischen Krieg suchte auch sein eigener Staat häufig die Hilfe des unabhängigen Experten. Manchmal lehnte Erast Petrowitsch ab – seine Vorstellungen von Gut und Böse deckten sich nicht immer mit denen der Regierung. Zum Beispiel übernahm er höchst ungern innenpolitische Fälle, es sei denn, es handelte sich um eine besonders üble Tat.

Das Attentat auf den Premier roch nach einer solchen üblen Geschichte. Es gab dabei verdächtig viele unerklärliche Merkwürdigkeiten. Nach Fandorins vertraulich eingeholten Informationen waren gewisse Kreise in Petersburg derselben Ansicht. Freunde aus der Hauptstadt hatten Fandorin per Telefon mitgeteilt, dass der Justizminister am Vortag nach Kiew gereist sei, um die Ermittlungen persönlich zu leiten. Das bedeutete, dass er kein Vertrauen hatte zur Geheimpolizei und dem Polizeidepartement. Heute oder morgen würde man den »unabhängigen Experten« Fandorin hinzuziehen. Wenn nicht, konnte das nur bedeuten, dass die Fäulnis im Staatsapparat auch die oberste Spitze durchdrungen hatte …

 

Erast Petrowitsch wusste bereits, wie er vorgehen würde.

Über den Einsatz chemischer Mittel musste er noch nachdenken, psychologische und hypnotische Methoden aber konnte man bei dem Täter durchaus anwenden. Vermutlich würden diese genügen. Der Terrorist Bogrow sollte vor allem eines gestehen: wessen Werkzeug er war, wer ihm die Besucherkarte besorgt und ihn mit einem Revolver ins Theater gelassen hatte.

Außerdem wäre es nicht übel, den Chef der Kiewer Geheimpolizei, Oberstleutnant Kuljabko, und den für die Sicherheitsmaßnahmen zuständigen Vizedirektor des Polizeidepartements, Staatsrat Werigin, zum Reden zu bringen. Bei diesen beiden in höchstem Maße verdächtigen Herren musste man eingedenk ihrer Tätigkeit und ihrer allgemeinen Unsensibilität nicht sonderlich heikel sein. Hypnotisieren würden sie sich wohl kaum lassen, aber er konnte sich mit jedem zu einem Tete-à-tete in inoffiziellem Rahmen verabreden und dem Oberstleutnant ein geheimes Präparat in seinen geliebten Kognak und dem Nichttrinker Werigin in den Tee tröpfeln. Dann würden sie schon von der rätselhaften Besucherkarte erzählen und auch, warum in der Pause kein einziger Leibwächter bei dem Premier gewesen war. Und das, obwohl Stolypin schon seit Jahren von Sozialrevolutionären, Anarchisten und Einzelkämpfern gegen die Tyrannei gejagt wurde.

 

Der Gedanke, in das Attentat auf das Regierungsoberhaupt könnten die für die Sicherheit des Imperiums verantwortlichen Organe involviert sein, ließ Fandorin schaudern. Seit drei Tagen tigerte er unruhig durch die Wohnung, ließ seine Jadekette durch die Finger gleiten oder zeichnete allein ihm selbst verständliche Schemata. Dabei rauchte er Zigaretten und verlangte ständig nach Tee, aß jedoch fast nichts.

Masa – Diener, Freund und einziger ihm nahestehender Mensch – wusste sehr gut, dass er seinen Herrn in diesem Zustand lieber in Ruhe ließ. Der Japaner war die ganze Zeit in Fandorins Nähe, kam ihm jedoch nicht unter die Augen und verhielt sich mucksmäuschenstill. Er sagte zwei Rendezvous ab und schickte die Hauswartsfrau mehrfach zum Kaufmann nach Tee. Die schmalen Augen des Asiaten funkelten leidenschaftlich – Masa erwartete interessante Ereignisse.

Im vorigen Jahr war auch Fandorins treuer Vertrauter fünfzig geworden und diesem Meilenstein mit echt japanischem Ernst begegnet. Er hatte sein Leben noch radikaler geändert als sein Herr. Erstens hatte er sich, der alten Tradition folgend, den Kopf kahlgeschoren – zum Zeichen, dass er innerlich in einen mönchischen Zustand wechselte und sich, um sich auf das Jenseits vorzubereiten, von allem Eitlen lossagte. Allerdings hatte Fandorin nicht feststellen können, dass Masa seine Liebesgewohnheiten geändert hätte. Aber die Regeln der japanischen Mönche verlangten ja keine körperliche Enthaltsamkeit.

Zweitens hatte Masa beschlossen, einen neuen Namen anzunehmen, um sich endgültig von seinem früheren Ich zu lösen. Hier ergab sich eine Schwierigkeit: Es stellte sich heraus, dass man nach den Gesetzen des Russischen Reichs seinen Namen nur bei der Taufe ändern konnte. Doch dieses Hindernis schreckte den Japaner nicht ab. Mit Vergnügen wechselte er zum orthodoxen Glauben, hängte sich ein gewaltiges Kreuz um und bekreuzigte sich inbrünstig vor jeder Kirchenkuppel und bei jedem Glockenläuten, was ihn jedoch nicht hinderte, nach wie vor Räucherstäbchen vor seinem heimischen buddhistischen Altar abzubrennen. Auf dem Papier hieß er nun nicht mehr Masahiro, sondern Michail Erastowitsch (nach seinem Taufpaten). Fandorin musste mit dem frischgebackenen Knecht Gottes auch seinen Familiennamen teilen – der Japaner hatte ihn darum gebeten, als höchste Auszeichnung, die ein treuer Vasall für lange, eifrige Dienste von seinem Herrn bekommen kann.

Doch Papiere hin oder her, Erast Petrowitsch hatte sich das Recht ausgebeten, seinen Diener weiterhin Masa zu nennen. Und unterband gnadenlos jeden Versuch seines Patensohnes, ihn »Otoo-san« (Vater) zu nennen oder gar »Batjuschika«3.

 

Erast Petrowitsch und Michail Erastowitsch saßen nun also vier Tage ununterbrochen zu Hause und blickten in Erwartung eines Anrufs immer wieder ungeduldig zum Telefon. Der lackierte Kasten blieb stumm. Mit Lappalien wurde Fandorin selten behelligt, kaum jemand kannte seine Telefonnummer.

Am Montag, dem 5. September, um drei Uhr nachmittags, klingelte das Telefon endlich.

Masa packte den Hörer – er polierte den Apparat gerade mit einem Samttuch, als wolle er den launischen Gott gnädig stimmen.

Fandorin ging ins Nebenzimmer und trat ans Fenster, um sich innerlich auf die wichtige Unterredung einzustimmen. Ich muss maximale Vollmachten verlangen und absolute Handlungsfreiheit, dachte er. Oder ablehnen. Das erstens …

Masa schaute zur Tür herein. Sein Gesicht wirkte konzentriert.

»Ich weiß nicht, auf wessen Anruf Sie all die Tage gewartet haben, Herr, aber ich vermute, das ist er. Die Stimme der Dame zittert. Sie sagt, die Sache sei dringend, von auße-le-ohden-te-licheh Wichtige-keite.« Die letzten Worte hatte Masa auf Russisch gesagt.

»Eine Dame?«, fragte Erast Petrowitsch erstaunt.

»Hat gesagt, ›Oliga‹.«

Vatersnamen hielt Masa für unnütze Dekoration, darum merkte er sie sich selten und ließ sie häufig weg.

Fandorins Verwunderung legte sich. Olga … Natürlich. Das war zu erwarten gewesen. In einem so verworrenen Fall mit womöglich unvorhersehbaren Komplikationen wollte die Regierung nicht direkt eine Privatperson um Hilfe bitten. Es war angemessener, über die Familie zu gehen. Mit Olga Borissowna Stolypina, der Frau des verwundeten Premierministers, einer Urenkelin des großen Feldherrn Suworow, war Fandorin bekannt. Eine starke, kluge Frau, sie ließ sich von keinem Schicksalsschlag unterkriegen.

Sie wusste natürlich, dass sie sehr bald Witwe sein würde. Es war nicht ausgeschlossen, dass sie aus eigenem Antrieb anrief, weil sie spürte, dass die offiziellen Ermittlungen schleppend verliefen.

Nach einem tiefen Seufzer griff Erast Petrowitsch zum Telefon. »Fandorin. Ich höre.«

Ach, wie unschön!

»Erast Petrowitsch, um meinetwillen, um unserer Freundschaft willen, um der Barmherzigkeit willen, zu guter Letzt um meines toten Mannes willen, weisen Sie mich nicht ab!«, sagte eine klangvolle, Fandorin zweifellos bekannte, wenn auch von Erregung entstellte Frauenstimme. »Sie sind ein nobler und hilfsbereiter Mensch, ich weiß, Sie werden mich nicht abweisen!«

»Er ist also gestorben …« Fandorin senkte den Kopf, obgleich die Witwe das nicht sehen konnte, und sagte mit aufrichtigem Gefühl: »Nehmen Sie mein t-tiefempfundenes Beileid entgegen. Das ist nicht nur Ihr persönlicher Kummer, sondern ein gewaltiger Verlust für ganz Russland. Sie sind ein starker Mensch. Ich weiß, Sie werden nicht den Kopf verlieren. Und ich meinerseits werde selbstverständlich alles tun, was ich kann.«

Nach einer kurzen Pause entgegnete die Dame leicht verwirrt:

»Ich danke Ihnen, aber ich habe mich bereits daran gewöhnt. Die Zeit heilt alle Wunden …«

»Die Zeit?«

Erast Petrowitsch starrte verwundert auf das Telefon.

»Nun ja. Immerhin ist Anton Pawlowitsch schon seit sieben Jahren tot … Hier ist Olga Leonardowna Knipper-Tschechowa. Ich habe Sie wohl geweckt?«

Ach, wie unschön! Fandorin warf einen wütenden Blick auf den unschuldigen Masa und errötete. Kein Wunder, dass ihm die Stimme bekannt vorgekommen war. Mit der Witwe des Schriftstellers verband ihn eine langjährige freundschaftliche Beziehung – sie waren beide Mitglieder der Kommission zur Verwaltung des Tschechowschen Erbes.

»Um Himmels w-willen, v-verzeihen Sie!«, rief er, heftiger stotternd als üblich. »Ich hielt Sie für … Unwichtig …«

Durch das dumme, im Grunde komische Missverständnis befand sich Fandorin bei diesem Gespräch von Anfang an in der Position des Schuldigen, der sich rechtfertigte. Anderenfalls hätte er auf die Bitte der Schauspielerin vermutlich mit einer höflichen Absage reagiert, und sein ganzes weiteres Leben wäre anders verlaufen.

Doch Erast Petrowitsch war verlegen, und das Wort eines Ehrenmannes war kein Spatz, es ließ sich nicht zurückholen.

»Werden Sie wirklich alles für mich tun, was Sie können? Ich nehme Sie beim Wort«, sagte Olga, bereits weniger erregt. »Da ich Sie als Ritter und Ehrenmann kenne, bin ich sicher, dass die Geschichte, die ich Ihnen erzählen will, Sie nicht gleichgültig lassen wird.«

Übrigens wäre es Fandorin auch ohne den konfusen Beginn dieses Gesprächs nicht leichtgefallen, dieser Frau ihre Bitte abzuschlagen.

In der Gesellschaft wurde das Verhalten von Tschechows Witwe missbilligt. Es galt als guter Ton, sie zu verurteilen, weil sie es vorgezogen hatte, auf der Bühne zu glänzen und die Zeit fröhlich mit ihren Freunden vom Künstlertheater zu verbringen, statt den todkranken Schriftsteller in seiner traurigen Einsamkeit in Jalta zu pflegen. Sie hatte ihn nicht geliebt, nein, sie hatte ihn nicht geliebt! Sie hatte den Sterbenden aus kalter Berechnung geheiratet, um an Tschechows Ruhm teilzuhaben, zugleich ihren eigenen zu mehren und sich überdies für ihre Bühnenkarriere den berühmten Namen zu sichern – so das allgemeine Urteil.

Erast Petrowitsch empörte diese Ungerechtigkeit. Tschechow war ein reifer und kluger Mann gewesen. Er wusste, dass er nicht irgendeine Frau heiratete, sondern eine große Schauspielerin. Olga Leonardowna war bereit gewesen, die Bühne aufzugeben, um ständig bei ihm zu sein, aber was taugte ein Mann, der dieses Opfer annahm? Lieben hieß, dem Geliebten Glück zu wünschen. Ohne Großmut war Liebe keinen Groschen wert. Dass die Frau ihrem Mann den Sieg in diesem Großmut-Wettbewerb überlassen hatte, war richtig. Und unmittelbar vor seinem Tod war sie bei ihm gewesen und hatte ihm das Sterben erleichtert. Sie hatte erzählt, dass er am letzten Abend viel gescherzt habe und sie beide herzlich gelacht hätten. Was konnte man sich mehr wünschen? Ein guter Tod. Niemand hatte das Recht, diese Frau zu verurteilen.

Diese Gedanken gingen Erast Petrowitsch wieder einmal durch den Kopf, während er dem stockenden, verworrenen Bericht der Schauspielerin lauschte. Sie sprach von einer gewissen Elisa, einer Freundin, offenbar auch Schauspielerin. Dieser Elisa war etwas passiert, wodurch »die Ärmste in ständiger Todesangst schwebt«.

»Ich bitte um Verzeihung«, schaltete sich Erast Petrowitsch ein, als die Anruferin innehielt, um aufzuschluchzen. »Ich v-verstehe nicht ganz, Altaïrskaja und Lointaine – ist das eine Person oder sind das zwei?«

»Eine! Elisa Altaïrskaja-Lointaine, das ist ihr voller Name. Früher war ihr Bühnenpseudonym Lointaine, dann hat sie geheiratet und wurde eine Altaïrskaja, nach ihrem Mann. Allerdings haben sie sich schon bald wieder getrennt, aber Sie müssen zugeben, für eine Schauspielerin wäre es dumm gewesen, auf einen so schönen Namen zu verzichten.«

»Trotzdem habe ich nicht ganz …« Fandorin runzelte die Stirn. »Diese Dame hat vor irgendetwas Angst, Sie haben ihren nervlichen Zustand sehr anschaulich beschrieben. Aber was genau macht ihr Angst?«

Und vor allem: Was wollen Sie von mir, setzte er in Gedanken hinzu.

»Das sagt sie nicht, das ist es ja! Elisa ist sehr verschlossen, sie klagt nie. Eine Seltenheit bei einer Schauspielerin! Aber gestern hat sie mich besucht, wir haben uns sehr angenehm unterhalten, und plötzlich brach es aus ihr heraus. Sie fing an zu schluchzen, warf sich an meine Brust, stammelte, ihr Leben sei ein Alptraum, sie würde es nicht mehr aushalten, sie fühle sich gehetzt und gequält. Doch als ich genauer nachfragte, wurde Elisa schrecklich blass, biss sich auf die Lippen, und ich bekam kein Wort mehr aus ihr heraus. Offensichtlich bereute sie ihre Offenheit. Schließlich stammelte sie etwas Unverständliches, bat mich, ihre kurzzeitige Schwäche zu entschuldigen, und lief davon. Ich habe die Nacht nicht geschlafen und fand den ganzen Tag keine Ruhe! Ach, Erast Petrowitsch, ich kenne Elisa schon sehr lange. Sie ist nicht hysterisch und phantasiert sich nichts zusammen. Ich bin sicher, ihr droht Gefahr, und zwar eine, von der sie nicht einmal ihrer Freundin erzählen kann. Im Namen all dessen, was uns verbindet, flehe ich Sie an: Finden Sie heraus, was da los ist. Für Sie ist das eine Kleinigkeit, Sie sind schließlich ein Meister im Lüften von Geheimnissen. Sie haben so genial das verschwundene Manuskript von Anton Pawlowitsch wiedergefunden!«, erinnerte sie Fandorin an die Geschichte, mit der ihre Bekanntschaft begonnen hatte, und er verzog das Gesicht ob dieser unverhüllten Schmeichelei. »Ich werde Sie in Elisas Kreise einführen. Sie ist im Moment die Jugendliche Heldin in der »Arche Noah«.

»Was? W-wo?«, fragte Erast Petrowitsch erstaunt.

»Sie spielt im Rollenfach Jugendliche Heldin in diesem neumodischen Theater, das versucht, dem Künstlertheater Konkurrenz zu machen«, erklärte Olga. In ihrem Ton schwang leichte Herablassung mit – gegenüber Fandorins Unwissenheit oder gegenüber jenen Toren, die sich erdreisteten, mit dem großen Künstlertheater zu konkurrieren. »Die ›Arche Noah‹ ist auf Gastspiel aus Petersburg angereist, um das Moskauer Publikum zu verblüffen und zu erobern. Man bekommt keine Karten dafür, aber ich habe alles arrangiert. Sie werden auf dem besten Platz sitzen, damit Sie sich alle dort genau ansehen können. Und anschließend gehen Sie hinter die Kulissen. Ich rufe Noah Nojewitsch an (das ist der Direktor, Noah Nojewitsch Stern) und bitte ihn, Sie in allem voll zu unterstützen. Er umwirbt mich schon eine Weile, er hofft, mich zu sich zu locken, er wird meine Bitte also ohne überflüssige Fragen erfüllen.«

Erast Petrowitsch trat ärgerlich gegen ein Stuhlbein, woraufhin es in der Mitte brach. Eine alberne, lächerliche Angelegenheit, die hypochondrischen Launen einer Diva mit unmöglichem Namen, aber eine Absage war völlig ausgeschlossen. Und das, da er jeden Moment damit rechnete, zu den Ermittlungen in einem historischen, ja epochalen Fall hinzugezogen zu werden!

Zungenschnalzend griff Masa nach dem beschädigten Möbelstück. Er versuchte, sich darauf zu setzen, und der Stuhl kippte.

»Sie schweigen? Sie werden mir meine Bitte doch nicht etwa abschlagen? Wenn auch Sie mich im Stich lassen, das überlebe ich nicht!«, sagte die Witwe des großen Autors im Tonfall der Arkadina, die Trigorin4 beschwört.

»Wie k-könnte ich es wagen«, entgegnete Erast Petrowitsch trübsinnig. »Wann soll ich im Theater sein?«

»Sie sind ein Schatz! Ich wusste, dass ich mich auf Sie verlassen kann! Die Vorstellung beginnt um acht. Ich erkläre Ihnen alles …«

Halb so schlimm, beruhigte sich Fandorin. Schließlich verdient es diese bemerkenswerte Frau, dass ich einen Abend für ihre Launen opfere. Sollte allerdings ein Anruf wegen des Falls Stolypin kommen, erkläre ich ihr, dass es sich um ein staatswichtiges Problem handelt …

Doch bis zum Abend kam kein Anruf – weder aus Petersburg noch aus Kiew. Erast Petrowitsch band eine weiße Krawatte um und begab sich, vergebens gegen seine Gereiztheit ankämpfend, ins Theater. Masa schärfte er ein, sich nicht vom Telefon zu entfernen und im Fall des Falles mit dem Motorrad zum Theater zu eilen.

Der Tag des Gedenkens an Elisabeth

Fandorin selbst nahm eine Droschke, weil er wusste, dass er zu der Stunde, da im Bolschoi, im Maly und im Neuen Theater gleichzeitig die Vorstellungen begannen, sein Automobil auf dem Theaterplatz nirgends abstellen konnte. Beim letzten Mal, bei einem Besuch von Wagners »Walküre«, hatte er seinen Isotta-Fraschini unvorsichtigerweise zwischen zwei Kutschen geparkt, und ein heißblütiger Traber hatte mit einem Tritt mit dem dornengespickten Huf den verchromten Kühler zertrümmert – es hatte zwei Monate gedauert, bis aus Mailand ein neuer eintraf.

In den wenigen Stunden seit dem Anruf der Schauspielerin hatte Erast Petrowitsch einige Informationen über das Theater zusammengetragen, in dem er den Abend verbringen sollte.

Er wusste nun, dass die Truppe, die letzte Saison in Sankt-Petersburg entstanden war, in der ersten Hauptstadt bereits Furore gemacht, das Publikum bezaubert und die Kritiker in zwei unversöhnliche Fraktionen gespalten hatte, von denen die eine das Genie des Regisseurs Stern in den Himmel hob, die andere dagegen ihn einen »Scharlatan der Kunst« nannte. Viel wurde auch über Elisa Altaïrskaja-Lointaine geschrieben, doch hier sah das Meinungsspektrum ein wenig anders aus: es reichte von verzückter Bewunderung bei wohlwollenden Kritikern bis hin zu Bedauern bei boshaften – schade um das Talent der großartigen Schauspielerin, die ihre Gabe in den prätentiösen Aufführungen des Herrn Stern ruinieren muss.

Jedenfalls war über die »Arche Noah« viel und leidenschaftlich geschrieben worden, nur las Fandorin normalerweise die Zeitungen nie bis zu der Seite, auf der Neuigkeiten aus dem Theater besprochen wurden. Erast Petrowitsch schätzte die Schauspielkunst leider nicht, er interessierte sich nicht dafür, und wenn er doch einmal ins Theater ging, dann ausschließlich in die Oper oder ins Ballett. Theaterstücke las er lieber selbst, um sich den Eindruck nicht durch die Ambitionen eines Regisseurs oder durch schlechtes Spiel verderben zu lassen (denn selbst in der besten Inszenierung gibt es immer jemanden, der gekünstelt spielt und damit alles verdirbt). Fandorin betrachtete das Theater als eine zum Aussterben verurteilte Kunst. Wenn die Kinematographie sich erst richtig entwickelte, sich Ton und Farbe erschloss – wer würde dann noch viel Geld ausgeben, um sich Pappkulissen anzuschauen und so zu tun, als höre er das Flüstern des Souffleurs nicht, als entgingen ihm das Wehen des Vorhangs und das vorgerückte Alter der Jugendlichen Heldin?

Für das Moskauer Gastspiel hatte die »Arche Noah« das Gebäude des ehemaligen Neuesten Theaters gepachtet, das jetzt einer gewissen »Gesellschaft für Theater und Kinematographie« gehörte.

Auf dem berühmten Theaterplatz angelangt, musste Erast Petrowitsch bereits am Brunnen aussteigen – bis zum Theater vorzufahren war aufgrund der Ansammlung von Kutschen und Zuschauern unmöglich. Dabei fiel ins Auge, dass das Gedränge vor dem Neuesten Theater weit dichter war als vor dem gegenüberliegenden Maly-Theater mit seinem ewigen »Gewitter«5 und selbst als vor dem Bolschoi, das die Saison mit der »Götterdämmerung« eröffnete.

Wie geplant ging Fandorin zunächst zum Anschlag, um sich anzuschauen, wer alles zur Truppe gehörte. Vermutlich beruhten die herzzerreißenden Leiden der Diva, wie üblich in der Theaterwelt, auf Intrigen eines Kollegen. Um das schreckliche Geheimnis zu lüften und die alberne Geschichte so rasch wie möglich abzuschließen, musste er sich zunächst die Namen der Akteure notieren.

Der Titel des Stücks verdarb dem Theatergänger wider Willen endgültig die Laune. Mit finsterem Blick betrachtete er das affige Plakat mit den Vignetten und sagte sich, dass der Abend noch quälender zu werden versprach als vermutet.

Erast Petrowitsch verabscheute die Karamsin-Erzählung »Die arme Lisa«, die als Meisterwerk des Sentimentalismus galt, und zwar aus persönlichen, äußerst gewichtigen Gründen, die nichts mit Literatur zu tun hatten. Noch mehr schmerzte es ihn, zu lesen, die Aufführung sei »dem Gedenken an die heilige Elisabeth« gewidmet.

Just in diesem Monat ist es fündunddreißig Jahre her, dachte Fandorin, schloss für einen Moment die Augen und schüttelte sich, um die schreckliche Erinnerung zu vertreiben.

Um sich davon zu lösen, ließ er seiner Gereiztheit freien Lauf.

»Was für eine alberne Phantasie – im z-zwanzigsten Jahrhundert solchen altmodischen Quatsch aufzuführen!«, murmelte er. »Und wo ist da genug Stoff für eine ›Tragödie in drei Akten‹, selbst ohne Pause? Und dafür nehmen sie auch noch erhöhte Preise!«

»Wünschen Sie eine Karte, mein Herr?« Ein Mann mit einer über die Augen gezogenen Schirmmütze fasste ihn unter. »Ich habe eine Karte fürs Parkett. Ich wollte die Vorstellung selbst besuchen, muss aber aus familiären Gründen leider darauf verzichten. Ich kann sie Ihnen überlassen. Ich habe sie aus dritter Hand, sie ist also, verzeihen Sie, recht teuer.« Mit einem raschen Blick streifte er den Londoner Smoking, die geometrisch perfekten Kragen und die schwarze Perle in der Krawatte. »Fünfundzwanzig …«

Unerhört! Fünfundzwanzig Rubel, und das nicht einmal für einen Logenplatz, sondern fürs Parkett! In einem höchst boshaften Artikel über das Gastspiel der »Arche Noah«, betitelt mit »Erhöhte Preise«, hatte Fandorin von den exorbitant teuren Karten für die Vorstellungen der gastierenden Truppe gelesen. Ihr Leiter, Herr Stern, besaß großes unternehmerisches Talent. Er hatte sich eine höchst effektive Methode des Kartenverkaufs ausgedacht. Die Plätze in den Logen, im Parkett und im ersten Rang kosteten doppelt oder sogar dreimal so viel wie üblich, dafür gelangten der zweite Rang und die Galerie gar nicht in den Verkauf, sondern wurden für geringes Entgelt unter der studierenden Jugend verlost. Die Lose für Studenten und höhere Töchter kosteten fünfzig Kopeken; jedes zehnte Los gewann. Der glückliche Gewinner konnte entweder selbst in das Theater gehen, über das so viel geredet und geschrieben wurde, oder seine Karte vor der Vorstellung verkaufen und mit seinen fünfzig Kopeken einen ordentlichen Gewinn machen.

Diesen Einfall, der den Verfasser des Zeitungsartikels zutiefst empört hatte, fand Fandorin ziemlich klug. Erstens kosteten so die billigsten Plätze bei Stern trotzdem zehn Rubel (wie ein guter Parkettplatz im Bolschoi). Zweitens redete das ganze studentische Moskau über die »Arche Noah«. Drittens saßen in jeder Vorstellung viele junge Leute, und deren Begeisterung fördert den Erfolg eines Theaters am meisten.

 

Ohne den Spekulanten einer Antwort zu würdigen, schritt Erast Petrowitsch finster entschlossen auf eine Tür mit der Aufschrift »Verwaltung« zu. Hätte Fandorin seine Karte drinnen abholen müssen, wäre er umgekehrt und gegangen. Um keinen Preis hätte er sich an den vielen Leuten vorbeigedrängt. Aber Olga Leonardowna hatte gesagt: »Fünf Schritte neben der Tür, auf der Treppe, wird ein Mann mit grünem Portefeuille stehen …«

Tatsächlich: Genau fünf Schritte entfernt von der die Tür belagernden Menge stand, an die Wand gelehnt, ein breitschultriger Mann in einem Nadelstreifen-Anzug, der einen gewissen Kontrast zu seinem derben, wie aus braunem Lehm geformten Gesicht bildete. Ungerührt, die lärmenden Liebhaber der Melpomene gleichgültig ignorierend, stand der Mann da und pfiff vor sich hin, ein auffälliges grünes Portefeuille unter den Arm geklemmt.

Fandorin konnte nicht gleich zu dem gestreiften Herrn vordringen; ständig drängelten sich andere vor. Sie hatten allesamt eine diffuse Ähnlichkeit mit dem Gauner, der Erast Petrowitsch fünfundzwanzig Rubel für eine Karte abknöpfen wollte – sie waren ebenso flink, huschten umher wie Schatten und sprachen hastig und gedämpft.

Der Besitzer des grünen Portefeuilles fertigte sie rasch ab, ohne ein einziges Wort – er pfiff nur. Bei dem einen kurz und spöttisch, woraufhin derjenige unverzüglich verschwand. Beim nächsten drohend – und derjenige zog sich zurück. Beim dritten wohlwollend.

Der Chef der Schwarz- und Zwischenhändler, konstatierte Fandorin. Schließlich hatte er die Kunstpfeiferei und das unablässige hin und her Gerenne satt. Er trat auf die Treppe, hielt den nächsten der wie aus dem Nichts auftauchenden Schatten an der Schulter zurück und sagte, wie ihm aufgetragen worden war:

»Ich komme von Frau Knipper.«

Zum Antworten kam der Pfeifer nicht. Erneut schob sich jemand zwischen ihn und Fandorin, der ihn jedoch nicht bei der Schulter oder einem anderen Körperteil packte – aus Respekt vor seiner Uniform. Es war ein Offizier, ein Husarenkornett, überdies ein Gardeoffizier.

»Sila Jegorowitsch, ich flehe Sie an!«, rief der junge Mann, die vollkommen irren Augen auf den gestreiften Herrn gerichtet. »Im Parkett! Nicht weiter hinten als sechste Reihe! Ihre Leute sind total übergeschnappt, verlangen zwei Rote! Von mir aus, aber nur auf Pump. Ich hab alles, was ich hatte, für einen Blumenkorb ausgegeben. Sie wissen doch, Wladimir Limbach begleicht seine Schulden immer! Bei Gott, ich erschieße mich!«

Der Händler sah den verzweifelten Kornett träge an und stieß einen gleichgültigen Pfiff aus.

»Keine Karten mehr da. Alles ausverkauft. Ich kann dir eine Freikarte für einen Stehplatz geben, aus alter Freundschaft.«

»Ach, Sie wissen doch, als Offizier darf ich keinen Stehplatz nehmen!«

»Tja, wie Sie wollen … Einen Augenblick, mein Herr.«

Die letzten Worte wie auch das ehrerbietige Lächeln, das dem Lehmgesicht sichtlich schwerfiel, galten Erast Petrowitsch.

»Hier, bitte sehr. Eine Karte für die vierte Loge. Meine Verehrung an Olga Leonardowna. Stets gern zu Diensten.«

Begleitet vom freundlichen Pfeifen des Händlers und einem neidischen Blick des jungen Husaren, ging Fandorin zum Haupteingang.

»Na schön, geben Sie mir wenigstens den Stehplatz!«, hörte er noch.

Eine seltsame Welt

Die vierte Loge war die allerbeste. Wäre dies kein privates, sondern ein kaiserliches Theater gewesen, hieße sie vermutlich »Kaiserloge«. Die sieben Sessel mit vergoldeten Rückenlehnen – drei in der ersten Reihe, vier in der zweiten – standen ihm ganz allein zur Verfügung. Umso eindrucksvoller war der Kontrast zum übrigen Saal, wo keine Stecknadel zu Boden fallen konnte. Bis zum Beginn der Vorstellung blieben noch fünf Minuten, aber die Zuschauer saßen bereits alle auf ihren Plätzen, als fürchte jeder, es könne noch ein weiterer Anwärter auf denselben Platz erscheinen. Nicht ohne Grund: an zwei oder drei Plätzen redeten Saaldiener beruhigend auf Leute ein, die aufgeregt Karten schwenkten. Eine solche Szene spielte sich direkt unter Fandorins Loge ab. Eine füllige Dame in einer Hermelinstola rief, den Tränen nahe: »Wie – gefälscht? Wo hast du diese Karten gekauft, Jaquot?« Bei einem seriösen Herrn, stammelte der puterrote Jaquot, für fünfzehn Rubel das Stück. Die an derartige Szenen gewöhnten Saaldiener schleppten bereits zwei zusätzliche Stühle herbei.

Auf den Rängen saßen die Zuschauer noch gedrängter, manche standen sogar in den Gängen. Dort überwogen junge Gesichter, Studentenjacken und die weißen Blusen der höheren Töchter.

Um Punkt acht, sofort nach dem dritten Klingelzeichen, erlosch das Licht im Saal, und die Türen wurden fest geschlossen. Die Regel, die Vorstellung pünktlich zu beginnen und keine Verspäteten mehr einzulassen, hatte das Künstlertheater eingeführt, doch nicht einmal dort wurde sie so strikt eingehalten.

Fandorin vernahm hinter sich ein Knarren.

Wie ein Pascha in der Mitte der ersten Reihe sitzend, drehte er sich um und erblickte nicht ohne Verwunderung den jungen Husaren, der angekündigt hatte, sich zu erschießen.

Der Kornett Limbach – so hieß er wohl – flüsterte: »Sind Sie allein? Ausgezeichnet! Haben Sie etwas dagegen, wenn ich mich setze? Was wollen Sie allein mit so vielen Plätzen?«

Fandorin zuckte die Achseln – meinetwegen, warum nicht. Er rückte einen Platz nach rechts, damit sie nicht zu eng saßen. Doch der Offizier zog es vor, sich hinter ihm niederzulassen.

»Schon gut, ich sitze hier«, sagte der Kornett und packte einen Feldstecher aus.

Erneut knarrte die Logentür.

»Den schickt der Teufel! Verraten Sie mich nicht, ich gehöre zu Ihnen!«, flüsterte der Kornett Fandorin kaum hörbar ins Ohr.

Herein kam ein Mann in mittleren Jahren in Frack und gestärktem Hemd, wie Erast Petrowitsch mit einer weißen Krawatte, nur war die Perle darin nicht schwarz, sondern grau. Bankier oder erfolgreicher Anwalt, mutmaßte Fandorin nach einem kurzen Blick auf das gepflegte Bärtchen und die feierlich glänzende Glatze.

Der Eintretende verbeugte sich respektvoll.

»Zarkow. Und Sie sind ein Bekannter der unvergleichlichen Olga Leonardowna. Stets erfreut …«

Aus diesen Worten schloss Fandorin, dass Herr Zarkow der Besitzer der wundervollen Loge war und dass die Schauspielerin ihn um einen Platz gebeten hatte. Er verstand nicht ganz, was der Pfeifer mit dem grünen Portefeuille damit zu tun hatte, aber darüber wollte er sich nicht den Kopf zerbrechen.

»Gehört der junge Mann zu Ihnen?«, fragte der liebenswürdige Herr mit einem Blick auf den Kornett (der mit seinem Feldstecher den Stuck an der Decke studierte).

»Ja.«

»Nun denn, herzlich willkommen …«

In den wenigen Minuten bis zum Beginn – während das Publikum raschelte, knarrte und sich schnäuzte – erzählte der neue Nachbar Fandorin von der »Arche Noah«, und zwar mit einer solchen Sachkenntnis, dass dieser seinen ersten Eindruck revidieren musste: kein Bankier oder Anwalt, nein, vermutlich ein wichtiger Theatermann oder ein einflussreicher Kritiker.

»Die Meinungen über Sterns Talent als Regisseur sind geteilt, aber als Geschäftsmann ist er zweifellos ein Genie«, begann Zarkow gesprächig, wobei er sich ausschließlich an Fandorin richtete, als säßen sie beide allein in der Loge. Aber der Kornett Limbach schien nur froh, dass er nicht weiter beachtet wurde.

»Er hat mit seinen Vorstellungen eine Woche vor Saisonbeginn angefangen und dieses Monopol sozusagen voll genutzt. Das Publikum strömte ihm zu, erstens, weil es sonst nirgendwohin gehen konnte, zweitens startete er gleich mit drei Inszenierungen, über die in der letzten Saison ganz Petersburg gestritten hat. Zuerst zeigte er ›Hamlet‹, dann ›Drei Schwestern‹ und jetzt ›Die arme Lisa‹. Wobei er vorab erklärte, jedes Stück würde nur ein einziges Mal laufen. Und nun sehen Sie, was am dritten Abend los ist.« Der Theaterkenner wies mit einer ausholenden Geste auf den überfüllten Saal. »Das Ganze ist zudem ein hinterhältiger Schlag gegen den wichtigsten Konkurrenten, das Künstlertheater. Sie wollten nämlich in diesem Jahr das Publikum mit Neuinszenierungen von ›Drei Schwestern‹ und ›Hamlet‹ überraschen. Ich versichere Ihnen, nach Stern wird das Publikum jede Neuinterpretation, und sei sie noch so innovativ, nüchtern finden. Und ›Die arme Lisa‹, das ist schlicht eine Provokation. Weder Stanislawski6 noch Jushin7 hätten gewagt, diesen Stoff auf die Bühne zu bringen. Aber ich habe die Aufführung in Petersburg gesehen. Ich versichere Ihnen, das ist etwas! Die Lointaine als Lisa ist göttlich!« Der glatzköpfige Herr küsste seine Fingerspitzen – an einem blitzte ein beeindruckender Brillant auf.

Nein, wohl kaum ein Kritiker, dachte Erast Petrowitsch. Wie käme ein Kritiker zu einem Solitär von einem Dutzend Karat?

»Aber das Interessanteste kommt erst noch. Ich erwarte von der ›Arche‹ in dieser Saison sehr viel. Nach dem salvenartigen Auftakt mit drei Vorstellungen unterbrechen sie für einen Monat. Der schlaue Stern gibt dem Künstlertheater, dem Maly und Korsch8 Gelegenheit, dem Publikum ihre Neuheiten zu zeigen – er tritt quasi beiseite. Und danach, im Oktober, will er mit einer eigenen Premiere herauskommen und damit natürlich ganz Moskau anlocken.«

Fandorin verstand zwar wenig von den Gepflogenheiten des Theaters, doch das erschien ihm seltsam.

»A-aber erlauben Sie, das Gebäude ist doch gepachtet? Wie kann ein Theater einen ganzen Monat ohne Einnahmen auskommen?«

Zarkow zwinkerte listig.

»Die ›Arche‹ kann sich diesen Luxus leisten. Die ›Gesellschaft für Theater und Kinematographie‹ verpachtet ihnen das Gebäude mit allen Dienstleistungen für einen Rubel im Monat. Oh, Stern versteht sich einzurichten! In einem, anderthalb Monaten stellt er eine komplett neue Inszenierung auf die Beine. Noch ist unbekannt, um was für ein Stück es sich handeln wird, aber schon jetzt wird eine Karte für die Premiere mit fünfzig Rubeln gehandelt!«

»Was heißt – noch unbekannt?«

»Genau das! Er spekuliert auf den Überraschungseffekt. Morgen versammelt Stern seine Truppe, und da wird er den Schauspielern mitteilen, welches Stück sie proben werden. Übermorgen wird es in allen Zeitungen stehen. Und das Ziel ist erreicht: Das Publikum wird gespannt auf die Premiere warten. Egal, was sie inszenieren. Oh, mein lieber Herr, vertrauen Sie meinem Gefühl. Dank der ›Arche Noah‹ steht Moskau eine unerhört fruchtbare Saison bevor!«

Das sagte er mit so echtem Gefühl, dass Erast Petrowitsch seinen Nachbarn voller Respekt ansah. Eine so aufrichtige, selbstlose Liebe zur Kunst nötigte ihm unwillkürlich Achtung ab.

»Aber psst! Es geht los. Gleich kommt etwas – das wird ein Knüller!« Der Theaterfreund kicherte. »Diesen Kunstgriff hat Stern in Petersburg nicht gezeigt …«

Der Vorhang öffnete sich. Vor die gesamte Hinterbühne war ein weißes Tuch gespannt. Ein Viereck leuchtete auf. Eine Leinwand! Darauf erschien eine Kutsche mit vier Pferden. Sie galoppierten.

Eine Kombination aus Kinematographie und Theater? Interessant, dachte Erast Petrowitsch.

Der Kenner hatte recht – durch Parterre und Ränge ging ein begeistertes Raunen.

»Tja, er kann den Zuschauer vom ersten Moment an packen, der Teufel«, flüsterte Zarkow, zu Fandorin gebeugt – und schlug sich auf den Mund: Pardon, ich bin schon still.

Pastorale Musik ertönte, und auf der Leinwand erschien eine Schrift: »Eines Tages, gegen Ende der Herrschaft von Katharina der Großen, kehrte ein glänzender junger Gardeoffizier aus seinem Regiment zurück auf sein Gut …«

Die Inszenierung war höchst abwechslungsreich, mit vielen guten Einfällen, spielerisch und zugleich philosophisch, mit wunderschönen Dekorationen und Kostümen, angefertigt von einem populären Künstler der Gruppe Miriskussniki9. Die kurze Parabel vom einfachen, armen Mädchen, das sich wegen der Untreue ihres Geliebten ertränkt, war mit diversen Sujetschnörkeln angereichert. Zusätzliche Personen tauchten auf, teils gänzlich neue, teils solche, die bei Karamsin nur am Rande vorkommen. In dem Stück ging es um eine leidenschaftliche, sich über alle Verbote hinwegsetzende Liebe – schließlich gibt sich die arme Lisa ihrem Erast hin, ohne sich um Gerede oder mögliche Folgen zu scheren. Das Stück erzählte von selbstlosem weiblichem Mut und von männlicher Feigheit vor der öffentlichen Meinung; von der Schwäche des Guten und der Macht des Bösen. Letzteres verkörperten sehr lebendig und anschaulich die reiche Witwe (Lissizkaja) und der Falschspieler (Mefistow), den die Witwe anheuert, um den verliebten Erast zu ruinieren und ihn zur Heirat aus Berechnung zu zwingen.

Für die Veranschaulichung des historischen Moskau, von Landschaft und Natur wurde immer wieder die kinematographische Leinwand genutzt. Großartig war die Szene des Kampfs mit dem Geist von Lisas Vater (verkörpert von Rasumowski), der von einem hellblauen Scheinwerfer angestrahlt wurde. Beeindruckend waren auch Monolog und Tanz des Todes, der das Mädchen in den See lockt (diese Rolle spielte Herr Stern selbst).

Am meisten beeindruckte das Publikum jedoch der Trick mit der Skulptur. Fast den gesamten zweiten Akt hindurch stand eine Pan-Statue auf der Bühne, ein Sinnbild für die pastorale Sinnlichkeit der Liebeslinie. Nach einigen Minuten beachteten die Zuschauer die Statue natürlich nicht mehr und hielten sie für einen Teil des Bühnenbilds. Wie groß aber war das Entzücken, als der antike Gott am Ende des Aktes plötzlich lebendig wurde und auf seiner Flöte blies!

Zum ersten Mal erlebte Erast Petrowitsch eine Truppe, bei der keine Niveau-Unterschiede im Spiel der Akteure spürbar waren. Alle Schauspieler, selbst die Darsteller kleiner Rollen, waren tadellos. Jeder Auftritt war ein wahres Feuerwerk.

Doch die zahlreichen Vorzüge der Inszenierung blieben Fandorin so gut wie verborgen. Von dem Augenblick an, da die Elisa Altaïrskaja-Lointaine zum ersten Mal die Bühne betrat, zerfiel die Aufführung für ihn in zwei ungleiche Teile: Szenen, in denen sie mitwirkte, und solche ohne sie.

Kaum ertönte die sanfte Stimme mit einem schlichten Lied über Blumen am Feldrain, als unbarmherzige Finger das Herz des bis dahin gleichgültigen Zuschauers umklammerten. Er erkannte diese Stimme! Er glaubte sie vergessen zu haben, nun aber stellte sich heraus, dass er sich all die Jahre die Erinnerung daran bewahrt hatte!

Auch die Gestalt, der Gang, die Drehung des Kopfes – alles war ganz genau so!

»Erlauben Sie …«

Fandorin wandte sich um und entriss dem Kornett beinahe mit Gewalt den Feldstecher.

Das Gesicht … Nein, das Gesicht war anders. Aber der Ausdruck der Augen, das vertrauensvolle Lächeln, die Vorfreude auf das Glück und die Offenheit für das Schicksal! Wie konnte man das alles so glaubwürdig, so gnadenlos wiedergeben? Er kniff sogar die Augen zusammen und protestierte nicht, als der Husar ihm den Feldstecher wieder wegnahm, wobei er ärgerlich flüsterte: »Geben Sie her, geben Sie her, ich möchte sie auch bewundern!«

Zuzuschauen, wie die arme Lisa den leichtsinnigen Erast liebgewann, wie er ihre Liebe gegen andere Neigungen tauschte und sie zugrunde gehen ließ, war schmerzhaft und zugleich auch … lebensspendend – ein seltsames, aber sehr treffendes Wort. Als kratze ihm die Zeit mit scharfen Krallen die Hornhaut von der Seele, und diese beginne zu bluten, würde wieder empfindsam und schutzlos.

Noch einmal schloss Fandorin die Augen, weil er es nicht ertrug – in der Szene von Lisas Sündenfall, die der Regisseur äußerst kühn, ja, naturalistisch gestaltet hatte. Ein Scheinwerferstrahl riss einen nackten Mädchenarm mit ausgestreckten Fingern aus dem Dunkel; dann knickte er ab wie ein welker Stängel und sank nieder.

»Ach, diese Lointaine!«, rief Zarkow aus, als alle applaudierten. »Wundervoll, wie sie spielt! Nicht schlechter als die selige Kommissarshewskaja!«

Fandorin warf ihm einen wütenden Blick zu. Er fand diese Worte blasphemisch. Erast Petrowitsch ärgerte sich immer mehr über den Besitzer der Loge. Mehrmals kamen Leute herein und flüsterten mit ihm – und das nicht nur, wenn Lisa, also Elisa Lointaine, nicht auf der Bühne war. Während der musikalischen Intermezzi beugte sich der gesprächige Nachbar über die Sessellehne und teilte ihm seine Eindrücke mit oder erzählte ihm etwas über das Theater oder die Schauspieler. Über den Jugendlichen Liebhaber Smaragdow sagte er zum Beispiel geringschätzig: »Ein Partner unter ihrem Niveau.« Erast Petrowitsch fand das nicht. Er war ganz auf seiten dieser Figur, war nicht eifersüchtig, wenn der Bühnen-Erast Lisa umarmte, und hoffte entgegen jeder Logik wie ein Kind, dieser würde sich besinnen und zu seiner Geliebten zurückkehren.

Dem Geschwätz des erfahrenen Theaterliebhabers hörte Fandorin nur zu, wenn dieser über die Hauptdarstellerin sprach. Während einer langen, für Fandorin uninteressanten Szene im Spielkasino, wo ein befreundeter Offizier den Helden überredet, noch zu bleiben, und der Falschspieler ihn herausfordert, erfuhr Fandorin von Zarkow etwas über Elisa Altaïrskaja-Lointaine, das ihn finster dreinschauen ließ.

»Tja, die Lointaine ist zweifellos eine Perle von großem Wert. Gott sei Dank hat sich ein Mann gefunden, der nicht an Mitteln für eine würdige Fassung spart. Ich rede von Herrn Schustrow von der ›Gesellschaft für Theater und Kinematogeraphie‹.«

»Ist das ihr Gönner?«, fragte Erast Petrowitsch, der eine unangenehme Kälte in der Brust verspürte und sich deshalb über sich selbst ärgerte. »Wer ist er?«

»Ein höchst begabter junger Unternehmer. Hat von seinem Vater eine Lebkuchen-und-Kringel-Fabrik geerbt. Er hat in Amerika studiert und führt seine Geschäfte amerikanisch streng. Er hat sämtliche Konkurrenten niedergewalzt und dann sein Kringelreich für sehr gutes Geld verkauft. Nun baut er ein Unterhaltungsimperium auf – ein neues, zukunftsträchtiges Vorhaben. Ich glaube nicht, dass er ein Herzensinteresse an der Altaïrskaja hat. Schustrow ist kein romantischer Mann. Es geht ihm wohl eher um eine Investition, er spekuliert auf ihr künstlerisches Potenzial.«

Er redete noch weiter von den Napoleonischen Plänen des ehemaligen Kringelbäckers, doch Fandorin, nun beruhigt, hörte nicht mehr zu, unterbrach den Schwätzer sogar mit einer respektlosen Geste, als Lisa erneut die Bühne betrat.

Der zweite Logennachbar drängte Erast Petrowitsch zwar keine Gespräche auf, war ihm aber nicht minder lästig. Jeden Auftritt der Altaïrskaja-Lointaine begleitete er mit Bravo-Rufen. Von seiner lauten Stimme wurden Fandorins Ohren ganz taub. Mehrfach sagte er verärgert: »Lassen Sie das! Sie stören!«

»Pardon«, murmelte der Kornett Limbach, ohne sich von seinem gewichtigen Feldstecher zu lösen, um im nächsten Augenblick erneut loszubrüllen. »Göttlich! Bravo!«

Die Schauspielerin hatte eine Menge begeisterter Anhänger im Saal. Seltsam, dass die Ausrufe ihr Spiel nicht beeinträchtigten – sie schien sie gar nicht zu hören. Ihr Partner Smaragdow hingegen hatte, als im Saal die ersten Frauenstimmen kreischten und zischten, die Hand auf die Brust gelegt und sich verbeugt.

Unter anderen Umständen hätte diese Emotionalität des Publikums Fandorin abgestoßen, heute aber war er nicht ganz er selbst. Er hatte einen Kloß in der Kehle, und die Reaktion des Publikums erschien ihm nicht übertrieben.

Ungeachtet seiner Erregung, die weniger vom Spiel der Akteure ausgelöst worden war als von seinen Erinnerungen, registrierte Fandorin, dass die Reaktion des Saals von der psychologischen Anlage der Inszenierung vorgegeben war. Komische und sentimentale Szenen wechselten sich ab, in der Schlußszene saß das Publikum still da und schluchzte leise, und als der Vorhang fiel, ertönten donnernder Applaus und Bravorufe.

Kurz vor Ende der Vorstellung kam der gestreifte Pfeifer in die Loge und trat respektvoll hinter deren Besitzer, das grüne Portefeuille unter den Arm geklemmt und Notizbuch und Bleistift in der Hand.

»Nun denn«, sagte Zarkow zu ihm, während er beinahe lautlos in die Hände klatschte. »Ihr und Stern will ich meinen Dank persönlich abstatten. Stell mir etwas bereit, vom Besten. Smaragdow kann sich mit dir begnügen. Bring ihm meine Visitenkarte und vielleicht etwas Wein. Was trinkt er gern?«

»Bordeaux, Chateau Latour, zu fünfundzwanzig Rubel die Flasche«, sagte der Gestreifte nach einem kurzen Blick in sein Notizbuch und stieß einen leisen Pfiff aus. »Ein edler Geschmack.«

»Ein halbes Dutzend … He, Sie, nicht so laut!« Das galt dem Husaren, der, kaum war der Vorhang gefallen, immer wieder schrie: »Loin-taine! Loin-taine!«

Auch Erast Petrowitsch kränkte den Kornett.

»Geben Sie mal her.« Wieder nahm er dem Jungen den Feldstecher weg. Er wollte zu gern sehen, wie das Gesicht der erstaunlichen Schauspielerin aussah, wenn sie nicht mehr spielte.

»Aber ich muss doch sehen, wie sie meinen Korb empfängt!«

Der Offizier versuchte, Fandorin den Feldstecher zu entreißen, aber ebenso gut hätte er versuchen können, der Bronzestatue von Minin und Posharski das Schwert zu entreißen.

»Betrachten Sie es als Bezahlung für Ihren Platz«, zischte Fandorin, während er scharf stellte.

Nein, sie ist ihr kein bisschen ähnlich, sagte er sich. An die zehn Jahre älter. Und ihr Gesicht ist nicht oval, sondern eher eckig. Und ihre Augen sind nicht jung, sondern müde. Ach, was für Augen …

Er ließ den Feldstecher sinken, plötzlich von einem unerklärlichen Schwindelgefühl erfasst. Das war ja ganz was Neues!

Die Schauspieler traten zum Applaus nicht wie üblich einzeln vor den Vorhang, sondern alle zusammen: Vorn die Hauptdarstellerin und der Erste Herr, dahinter alle übrigen. Der Darsteller des Todes, also Noah Stern selbst, erschien gar nicht – er glänzte sozusagen durch Abwesenheit.

Unter unaufhörlichem Beifall trugen Saaldiener von beiden Seiten erst Blumensträuße auf die Bühne, anschließend Körbe voller Blumen – erst kleinere, dann größere. Rund die Hälfte der Gaben war für Smaragdow, die andere Hälfte für die Altaïrskaja. Die übrigen Schauspieler bekamen ein, zwei Sträuße, und auch das nicht alle.

»Gleich bringen sie meinen Korb! Geben Sie doch her! Da ist er! Er hat mich meinen ganzen Monatssold gekostet!«

Der Husar hängte sich an Fandorins Arm, und dieser musste ihm den Feldstecher zurückgeben.

Der Korb war wirklich üppig – eine ganze Wolke weißer Rosen.

»Jetzt nimmt sie meinen Korb, meinen!«, wiederholte der Kornett und bemerkte dabei offenbar nicht, dass er vor Aufregung seinen Nachbarn am Ärmel zupfte.

»Erlauben Sie. Ich sehe, es interessiert Sie.«

Herr Zarkow reichte Fandorin liebenswürdig seine perlmuttgefasste Lorgnette. Erast Petrowitsch griff nach dem Spielzeug, hielt es sich vor die Augen und stellte erstaunt fest, dass die Vergrößerung dem Offiziersfeldstecher in nichts nachstand.

Erneut sah er das lächelnde Gesicht von Elisa Altaïrskaja-Lointaine ganz nah vor sich. Sie schaute seitlich nach unten, und ihre feinen Nasenflügel erbebten leicht. Was mochte sie verstimmen? Doch nicht etwa, dass der letzte für Smaragdow bestimmte Korb (zitronengelbe Orchideen) prachtvoller war als ihre weißen Rosen? Nein, wohl kaum. Diese Frau konnte nicht so kleinlich und eitel sein!

Zudem wurde eben ein weiterer Korb auf die Bühne getragen, ein wahrer Blumenpalast. Für wen – für sie oder für Smaragdow?

Für sie! Das Wunder der Floristik wurde unter den begeisterten Rufen des Publikums vor der Altaïrskaja abgestellt. Sie machte einen Knicks, versenkte das Gesicht in die Blumen und umschlang sie mit ihren schlanken weißen Armen.

»Verdammt, verdammt …«, stöhnte Limbach kläglich, als er sah, dass er geschlagen war.

Erast Petrowitsch richtete die Lorgnette für einen Augenblick auf Smaragdow. Die bildschönen Züge des Karamsinschen Erast waren wutverzerrt. Meine Güte, solche Leidenschaft wegen Blumen!

Er schaute wieder zu Elisa und erwartete, sie triumphieren zu sehen. Doch das schöne Gesicht der Schauspielerin wirkte wie eine Schreckensmaske: Die Augen waren weit aufgerissen, die Lippen in einem lautlosen Schrei erstarrt. Was war los? Was hatte sie so erschreckt?

Plötzlich sah Fandorin, dass eine noch geschlossene dunkle Blüte sich bewegte und emporzustreben schien.

O Gott! Das war keine Blüte! In dem doppelten Kreis tauchte der rhombische kleine Kopf einer Schlange auf. Es war eine Viper, und sie strebte direkt auf die Brust der versteinerten Diva zu.

»Eine Schlange! In dem Korb ist eine Schlange!«, brüllte Limbach, schwang sich über die Brüstung und sprang hinunter in den Gang.

Das Ganze dauerte nur wenige Augenblicke. Die Zuschauer in den ersten Parkettreihen schrien und schwenkten die Arme. Der restliche Saal, der nichts begriff, brach in erneute Ovationen aus.

Der verwegene Husar sprang auf die Beine, riss seinen Degen aus der Scheide und rannte zur Bühne. Doch noch schneller eilte der weißgeschminkte Marmor-Pan der Altaïrskaja zu Hilfe. Er stand hinter der Schauspielerin und hatte darum als Erster die furchteinflößende Bewohnerin des Blumenkorbs entdeckt. Der gehörnte kleine Gott lief herbei, packte die Schlange furchtlos am Hals und riss sie mit einem Ruck heraus.

Nun sah der ganze Saal, was hier vorging. Die Damen quiekten. Frau Altaïrskaja schwankte und fiel rücklings zu Boden. Dann schrie der mutige Pan auf – die Schlange hatte ihn in den Arm gebissen. Er schlug sie schwungvoll auf den Boden und trampelte mit den Füßen auf ihr herum.

Das Theater war erfüllt von Schreien, Sesselklappen und Kreischen.

»Einen Doktor! Ruft einen Doktor!«, rief irgendwer auf der Bühne. Jemand fächelte Elisa mit einem Tuch Luft zu, ein anderer brachte den gebissenen Helden weg.

Ganz hinten auf der Bühne erschien ein großer, sehr hagerer Mann mit kahlgeschorenem Schädel.

Er stand mit vor der Brust gekreuzten Armen da, betrachtete den ganzen Tumult – und lächelte.

»Wer ist das? Der Mann da hinter den anderen?«, fragte Fandorin seinen allwissenden Nachbarn.

»Einen Augenblick«, sagte dieser und beendete sein leises Gespräch mit seinem gestreiften Handlanger. »Herausfinden, wer das war, und bestrafen!«

»Wird gemacht.«

Der Pfeifer ging rasch hinaus, und Herr Zarkow wandte sich, als sei nichts geschehen, mit einem höflichen Lächeln an Fandorin.

»Wo? Ach, das ist Noah Nojewitsch Stern höchstpersönlich. Er hat die Maske des Todes abgelegt. Nein, wie er strahlt! Na, kein Wunder. Ein solcher Erfolg! Jetzt werden die Moskauer wegen der ›Arche‹ endgültig kopfstehen.«

Was für eine seltsame Welt, dachte Fandorin. Unerhört seltsam!

Erste Bekanntschaft

Der Premieminister starb genau zu der Zeit, die Erast Petrowitsch im Theater verbrachte. Am nächsten Tag hingen überall Flaggen mit schwarzem Trauerflor, die Zeitungen erschienen mit riesigen Trauerschlagzeilen. In den liberalen Blättern hieß es: Der Verstorbene habe zwar reaktionäre Ansichten vertreten, doch mit ihm sei die letzte Hoffnung auf eine Erneuerung des Landes ohne Erschütterungen und Revolutionen gestorben. Die patriotischen verfluchten den Stamm der Juden, dem der Mörder angehörte, und sahen eine besondere Bedeutung darin, dass Stolypin just am Todestag des gottesfürchtigen Fürsten Gleb10 verschieden war und das Heer der Märtyrer auf russischem Boden vermehrt habe. Die melodramatischen Boulevardgazetten zitierten eifrig Stolypins Vermächtnis, in dem er verfügt habe, er wolle dort begraben werden, wo er »getötet werde«.

Die tragische Nachricht (der Anruf erreichte Erast Petrowitsch, als er aus dem Theater kam) bewegte ihn nicht besonders. Der Anrufer, ein hochgestellter Beamter, erklärte auch, im Ministerrat sei erörtert worden, ob man Fandorin zu den Ermittlungen heranziehen sollte, doch der Kommandeur des Gendarmeriekorps sei entschieden dagegen gewesen, und der Minister habe dazu geschwiegen.

Interessanterweise war Fandorin nicht im mindesten enttäuscht, sondern im Gegenteil erleichtert, und wenn er die ganze Nacht kein Auge zutat, so nicht, weil er gekränkt gewesen wäre, und schon gar nicht aus Sorge um das Schicksal des Staates.

Er ging in seinem Kabinett auf und ab, den Blick auf das spiegelblanke Parkett gerichtet, legte sich mit einer Zigarre auf den Diwan und schaute an die weiße Decke; er setzte sich aufs Fensterbrett und starrte in die schwarze Dunkelheit – und sah immer dasselbe: einen schlanken Arm, müde Augen, einen Schlangenkopf zwischen Blüten.

Fandorin war es gewohnt, Tatsachen zu analysieren, nicht jedoch seine eigenen Emotionen. Auch jetzt blieb er auf dem Pfad rationaler Überlegungen, denn er spürte, wenn er auch nur einen Schritt davon abwich, würde er in einen Sumpf geraten, aus dem er keinen Ausweg wusste.

Die Konstruktion einer logischen Linie schuf die Illusion, dass nichts Besonderes geschehen war. Eine Ermittlung wie jede andere, die Welt stand nicht kopf.

Die Angst von Frau Altaïrskaja war berechtigt. Es gab eine reale Gefahr. Das zum ersten – Erast Petrowitsch reckte einen Finger und ertappte sich dabei, dass er lächelte. Sie ist keine törichte Spinnerin, keine Psychopathin!

Offensichtlich hatte sie einen erbitterten Feind mit einer perversen Phantasie. Oder Feinde. Das zweitens. Wie konnte man sie hassen?!

Nach der theatralischen Inszenierung des Attentats zu urteilen, musste man den Schuldigen vor allem in der Truppe oder in ihrer nächsten Umgebung suchen. Unwahrscheinlich, dass jemand ohne Zutritt zur Hinterbühne das Reptil in den Korb gesetzt haben konnte. Aber das musste überprüft werden. Das drittens. Und wenn die Schlange sie gebissen hätte? O Gott!

Er musste ins Theater gehen, sich alles genau ansehen und vor allem Frau Altaïrskaja-Lointaine zum Reden bringen. Das viertens. Ich werde sie wiedersehen! Ich werde mit ihr sprechen!

Dieser innere Monolog, bei dem aufgewühlte Gefühle ständig die Arbeit des Verstandes störten, währte bis zum Morgen.

Schließlich, der Morgen graute bereits, sagte sich Fandorin: Was zum Teufel ist das? Ich glaube, ich bin krank. Er ging zu Bett und zwang sich, zu entspannen und einzuschlafen.

 

Drei Stunden später stand er ausgeruht auf, absolvierte seine üblichen Leibesübungen, nahm ein eiskaltes Bad und balancierte zehn Minuten lang auf einem über den Hof gespannten Seil. Die Kontrolle über sein Innenleben war wieder hergestellt. Erast Petrowitsch frühstückte mit Appetit und sah die von Masa gebrachten Moskauer Zeitungen durch: Ein kurzer Blick auf die Trauerschlagzeilen – und rasch auf die Seite mit den Vorkommnissen.

Selbst die Blätter, die keine Rubrik Theaterkritik hatten, erwähnten die Vorstellung in der »Arche Noah« und die Schlange. Die einen voller Entsetzen, andere mit geistreichen Bemerkungen, aber ausnahmslos alle schrieben darüber. Die Hypothesen der Reporter (Schauspielerneid, ein abgewiesener Verehrer, ein übler Scherz) waren uninteressant, weil allzu offensichtlich. Die einzige nützliche Information, die Fandorin aus dieser Lektüre schöpfte, war, dass dem gebissenen Schauspieler (Herrn Dewjatkin) ein Gegengift gespritzt worden war und er sich außer Gefahr befand.

Mehrmals rief die aufgeregte Olga Knipper-Tschechowa an, aber Masa hatte Anweisung, zu sagen, sein Herr sei nicht zu Hause. Fandorin wollte weder Zeit noch geistige Energie mit sentimentalen Gesprächen verschwenden. Die konnte er besser nutzen.

 

Der Direktor der »Arche Noah« empfing den Gast am Bühneneingang, drückte ihm mit beiden Händen die Hand und führte ihn in sein Büro – ganz die Herzlichkeit in Person. Am Telefon war er Fandorin ein wenig misstrauisch vorgekommen, hatte aber sofort in ein Treffen eingewilligt.

»Der Wille von Frau Tschechowa ist mir heilig«, sagte Stern und dirigierte Erast Petrowitsch in einen Sessel. Seine aufmerksamen schmalen Augen musterten das undurchdringliche Gesicht des Besuchers, den eleganten cremefarbenen Anzug und verharrten schließlich auf den Krokodillederschuhen. »Sie hat gestern angerufen und um eine Freikarte für Sie gebeten, aber es war schon zu spät, es gab keinen einzigen guten Platz mehr. Olga sagte, sie werde sich ohne meine Hilfe arrangieren, äußerte aber den Wunsch, ich solle mir nach der Vorstellung Zeit für Sie nehmen. Heute Morgen rief sie an, um zu fragen, ob unsere Begegnung stattgefunden habe …« »Ich wollte Sie gestern nicht behelligen, angesichts der Umstände.«

»Ja, ja, ein ungeheuerliches Vorkommnis. Das Geschrei hinter den Kulissen! Und die Aufregung im Publikum!« Die schmalen Lippen des Regisseurs verzogen sich zu einem wonnevollen Lächeln. »Aber was ist der Grund Ihres Besuchs? Frau Tschechowa hat es mir nicht erklärt. Das werde Herr Fandorin mir selbst erzählen … Verzeihung, was ist Ihr berufliches Metier?«

Erast Petrowitsch beschränkte sich auf die Beantwortung der ersten Frage.

»Frau Tschechowa meint, Ihre Jugendliche Heldin …« Er stockte kurz. Er wollte den Namen sagen, unterließ es aber. »… sei in Gefahr. Der gestrige Zwischenfall beweist, d-dass Olga Leonardowna recht hat. Ich habe versprochen, mich darum zu kümmern.«

Im scharfen Blick des Theatererneuerers blitzte Neugier auf.

»Ach, sind Sie etwa ein Hellseher? Ich habe gehört, in Moskau seien Wahrsager und Seher groß in Mode. Das interessiert mich, sehr sogar!«

»Ja, ich habe mich mit Hellsehen befasst. In Japan«, sagte Erast Petrowitsch mit ernster Miene. Er fand, das sei eine sehr bequeme Version für die bevorstehenden Ermittlungen. Zumal Hellseherei und Deduktion (also ein heller Kopf) vieles gemeinsam hatten.

»Phänomenal!« Stern sprang lebhaft aus seinem Sessel auf. »Können Sie Ihre Kunst vielleicht demonstrieren? Jetzt gleich, an mir? Ich bitte Sie, schauen Sie in meine Zukunft! Nein, besser in die Vergangenheit, damit ich Ihr Können auch beurteilen kann.«

Was für ein agiler Herr, dachte Fandorin. Eine wahre Quecksilberkugel. (Dieser Vergleich kam ihm in den Sinn, weil der kahle Schädel des Regisseurs unter einem Sonnenstrahl aufblitzte – es war ein schöner Septembertag.)

Die Lektüre der Zeitungen und die Anrufe, mit denen Erast Petrowitsch den halben Tag verbracht hatte, gaben wenig Aufschluss über die Biographie von Noah Stern. Er galt als verschlossener Mann, der nicht gern über seine Vergangenheit sprach. Bekannt war lediglich, dass er im jüdischen Ansiedlungsgebiet aufgewachsen war, in äußerster Armut, und in seiner Jugend herumvagabundiert war. Angefangen hatte er als Zirkusclown, dann sehr lange an Provinztheatern gespielt, bis er schließlich berühmt wurde. Eine eigene Truppe leitete er erst seit einem Jahr, seit ihn die »Gesellschaft für Theater und Kinematographie«, die auf sein Talent setzte, förderte. Den Zeitungsleuten tischte Stern jedes Mal andere Phantasiegeschichten auf, offenkundig mit Absicht. In einem waren sich alle einig: Dieser Mann ist von einer einzigen Leidenschaft besessen – dem Theater. Familie hatte er nicht, und offenbar ebenso wenig ein Zuhause. Nicht einmal Affären mit Schauspielerinnen.

»Ich soll in Ihre V-vergangenheit schauen?«

Das lebhafte Gesicht des Regisseurs zuckte vor Gier nach einem unverzüglichen Wunder.

»Ja, irgendetwas aus meiner Kindheit.«

Er ist sicher, dass niemand etwas über diesen Abschnitt seines Lebens weiß, begriff Erast Petrowitsch. Na schön, wenn schon hellsehen, dann …

»Sagen Sie, ist Noah Nojewitsch Ihr richtiger Name?«

»Absolut. Laut Geburtsurkunde.«

»Verstehe …« Fandorin zog die schwarzen Brauen zusammen und rollte die Augen in Richtung Stirn, über die sein graumelierter Schopf fiel (genau das würde seiner Vorstellung nach ein Hellseher tun).

»Der Anfang Ihres Lebens war traurig, m-mein lieber Herr. Ihr Vater hat Sie nie gesehen. Er ist ins Jenseits eingegangen, als Sie noch im Bauch Ihrer Mutter weilten. Sein Tod kam ganz plötzlich – ein überraschender Schicksalsschlag.«

Die Wahrscheinlichkeit, dass er sich irrte, war gering. Bei den Juden ist es alter Brauch, die Kinder nach einem verstorbenen Verwandten zu benennen, fast nie nach einem Lebenden. Darum kommt es selten vor, dass der Sohn denselben Namen trägt wie der Vater. Es sei denn, dieser ist tot. Die Vermutung hinsichtlich des plötzlichen Todes war ebenfalls kein allzu großes Risiko. Menschen, die lange und schwer krank sind, bringen keinen so vitalen Nachwuchs hervor.

Die simple Deduktion verblüffte den emotional empfänglichen Theatermann.

»Phänomenal!«, rief er und griff sich ans Herz. »Das habe ich nie jemandem erzählt! Keiner Menschenseele! Niemand in meiner Umgebung weiß das! Mein Gott, ich liebe alles Unerklärliche! Erast Petrowitsch, Sie sind einfach einmalig! Ein Wundertäter! Mir war vom ersten Augenblick an klar, dass ich einen außergewöhnlichen Menschen vor mir habe. Wäre ich eine Frau oder ein Anhänger Oscar Wildes, ich würde mich zweifellos in Sie verlieben!«

Den Scherz begleitete ein charmantes Lächeln. Die weit geöffneten braunen Augen sahen Fandorin mit echter Sympathie an, auf die nicht zu reagieren unmöglich war.

Er umgarnt mich, dachte Erast Petrowitsch, lässt seinen Charme spielen, und zwar äußerst geschickt. Dieser Mann ist ein ausgezeichneter Schauspieler, ein geborener Manipulator. Mein kleiner Trick hat ihn erschreckt, und nun will er herausfinden, was ich für ein Vogel bin, will mich knacken und zähmen. Bittesehr, knack ruhig. Aber beiß dir nicht die Zähne aus.

»Sie besitzen die innere Stärke der Großmut«, schmeichelte Noah Nojewitsch ihm weiter. »Oh, mit solchen Dingen kenne ich mich aus. Ich verspüre bei kaum jemandem das Bedürfnis, offen zu sein, aber bei Ihnen möchte man gern schutzlos sein … Ich bin schrecklich froh, dass Olga Leonardowna Sie zu uns geschickt hat. In der Truppe gärt es wirklich ungut. Es wäre wunderbar, wenn Sie sich meine Schauspieler einmal genauer anschauten und den Tunichtgut entdeckten, der die Schlange in den Blumen versteckt hat. Und nebenbei auch herausfänden, wer mir vor zwei Tagen Klebstoff in die Galoschen gegossen hat. Ein dummer Scherz! Ich musste die Absätze an meinen nagelneuen Stiefeletten auswechseln lassen und die Galoschen wegwerfen!«

Erast Petrowitsch versprach, herauszufinden, wer die Galoschen verdorben hatte, wenn er die Möglichkeit bekäme, die Truppe kennenzulernen.

»Das machen wir am besten sofort!«, verkündete Stern. »Warum die Sache aufschieben? Wir haben gleich eine Versammlung. In einer halben Stunde. Ich werde mitteilen, welches Stück wir als Nächstes aufführen, und die Besetzung bekanntgeben. Schauspieler offenbaren ihr wahres Ich am besten beim Gezänk um die Rollen. Sie werden Sie ganz nackt erleben.«

»Was ist das für ein Stück?«, fragte Erast Petrowitsch, der sich an das Gespräch mit seinem Logennachbarn erinnerte. »Oder ist das noch ein Geheimnis?«

»Erlauben Sie.« Noah Nojewitsch lachte. »Wer hat schon Geheimnisse vor einem Hellseher? Zudem wird es morgen in allen Zeitungen stehen. Ich habe mich für den ›Kirschgarten‹ entschieden. Ein großartiges Material, um Stanislawski mit seinen eigenen Mitteln zu schlagen, auf seinem eigenen Terrain! Soll das Publikum ruhig meinen Kirschgarten mit Stanislawskis schmalbrüstigen Exerzitien vergleichen! Ich gebe zu, das Künstlertheater war einmal nicht schlecht, aber es hat sich überlebt. Vom Maly-Theater ganz zu schweigen! Und das Theater von Korsch, das sind Possenspiele für Kaufleute! Ich werde ihnen allen zeigen, was echte Regie ist und richtige Arbeit mit Schauspielern! Soll ich Ihnen erzählen, lieber Erast Petrowitsch, wie das ideale Theater sein muss? Ich sehe, ich finde in Ihnen einen klugen und dankbaren Zuhörer.«

Das Angebot abzulehnen wäre unhöflich gewesen, außerdem wollte Fandorin sich tatsächlich gern in dieser sonderbaren, für ihn neuen Welt zurechtfinden.

»Sehr g-gern, das interessiert mich.«

Noah Nojewitsch trat in der Pose des alttestamentarischen Propheten vor seinen Gast, und seine Augen funkelten.

»Wissen Sie, warum mein Theater ›Arche Noah‹ heißt? Erstens, weil nur die Kunst die Welt vor der Sintflut retten wird, und die höchste Gattung der Kunst ist das Theater. Zweitens, weil in meiner Truppe alle menschlichen Typen versammelt sind. Und drittens, weil ich von jeder Art ein Paar habe.«

Stern bemerkte die Verwunderung in der Miene seines Gegenübers und lächelte zufrieden.

»Ja, ja. Ich habe einen Helden und eine Heldin; einen Charakter- und Vaterdarsteller und eine Salondame und Mutter; einen Diener und Komiker, eine Muntere und Kokette; einen Intriganten und eine Intrigantin; einen Dümmling und eine Darstellerin für Hosenrollen (die beiden sind kein Paar, aber diese beiden Rollenfächer haben grundsätzlich kein Gegenüber); und schließlich sind da noch ich und mein Assistent für alle übrigen Rollen – ich in der zweiten Reihe, er in der dritten. Meine Schauspieltheorie besteht darin, dass man nicht auf den sogenannten universellen Schauspieler setzen muss, der jede Rolle spielen kann. Ich zum Beispiel bin universell. Ich kann mit dem gleichen Erfolg was auch immer spielen – ob den Lear, den Shylock oder den Falstaff. Aber solche Genies sind äußerst selten«, erklärte Noah Nojewitsch bedauernd. »Eine ganze Truppe davon bekommt man nie zusammen. Doch Schauspieler, die in einem Rollenfach sehr gut sind, gibt es mehr als genug. Ich nehme einen solchen Menschen und helfe ihm, seine große, aber einseitige Begabung bis zur Vollendung zu entfalten. Das Rollenfach muss untrennbar mit seiner Persönlichkeit verbunden sein, das ist am besten. Schauspielerinnen unterziehen sich übrigens höchst willig dieser Mimikry, und ich verstehe mich darauf, sie zu lenken. Jeden, den ich in meine Truppe aufnehme, verpflichte ich, sich einen Künstlernamen zuzulegen, der zu seinem Rollenfach passt. Denn der Name bestimmt das Wesen, wissen Sie. Ihren früheren Künstlernamen haben nur meine Erste Schauspielerin und mein Erster Schauspieler beibehalten, weil beide beim Publikum bereits bekannt waren. Der Charakterdarsteller wurde zu Rasumowski11, der Intrigant zu Mefistow, die Muntere zu Klubnikina12 und so weiter. Sie werden sie alle ja gleich sehen und sofort erkennen, dass jeder von ihnen mit seinem Rollenfach fest verwachsen ist. Sie feilen auch außerhalb der Bühne ständig an ihrer Figur!«

Erast Petrowitsch, der die Zusammensetzung der Truppe bereits auswendig gelernt hatte, fragte: »Und was für ein Rollenfach besetzt der Gott Pan, der gestern solchen M-mut bewiesen hat? Sein Name, Dewjatkin13, weckt doch keinerlei Assoziationen.«

»Er ist der zweite Regisseur, mein unersetzlicher Assistent, mein Mädchen für alles, er ist so viel wert wie neun Personen. Und übrigens der Einzige, abgesehen von mir, der unter seinem echten Namen agiert«, erklärte Stern. »Ich habe ihn in einer grauenhaften Provinztruppe aufgelesen, wo er herzlich schlecht Heldenrollen spielte, und zwar unter dem Pseudonym ›Lermont‹14, obwohl er eher aussieht wie Hauptmann Soljony15. Jetzt ist er an seinem Platz und von unschätzbarem Wert, ohne ihn bin ich wie ohne Hände. Das ist nämlich das Eigentliche: In meinem Theater ist jeder an seinem Platz. Jeder, bis auf Smaragdow vielleicht.« Die Stirn des Regisseurs bildete tragische Falten. »Ich bedaure, dass ich mich von seinem beeindruckenden Äußeren und seinem Anhang aus unzähligen Verehrerinnen blenden ließ. Der Held muss von einem Helden gespielt werden, aber unser guter Ippolit ist nur ein Pfau mit bunten Federn.«

Doch das Genie blieb nicht lange traurig. Erneut leuchtete sein Gesicht triumphierend auf.

»Mein Theater ist ideal! Wissen Sie, was ein ideales Theater ist?«

Fandorin verneinte.

»Ich will es Ihnen erklären. Das ist ein Theater, in dem es alles Notwendige gibt und nichts Überflüssiges, denn ein Zuviel ist für eine Truppe ebenso schädlich wie ein Zuwenig. Die Schwierigkeit besteht darin, dass es auf der Welt nur sehr wenige ideale Stücke gibt. Wissen Sie, was ein ideales Stück ist?«

»Nein.«

»Das ist ein Stück, in dem alle Rollenfächer vertreten sind. Als klassisches Beispiel gilt ›Verstand schafft Leiden‹. Aber so schreibt heute niemand mehr, doch man kann nicht endlos von der Klassik leben. Das wird dem Publikum bald langweilig. Schön wäre etwas ganz Neues, Exotisches, mit dem Odem einer anderen Kultur. Sagten Sie nicht, Sie hätten in Japan gelebt? Sie sollten etwas über Geishas und Samurais übersetzen. Seit dem Krieg liebt das Publikum alles Japanische.« Er lachte. »Ein Scherz. ›Der Kirschgarten‹ ist ein fast ideales Stück. Es hat genau so viele Rollen, wie ich brauche. Einiges muss korrigiert werden, klarer gezeichnet, dann wird es eine ausgezeichnete Maskenkomödie, ganz auf Charaktere gegründet, ohne die üblichen Tschechowschen Halbtöne. Wir werden ja sehen, mein lieber Konstantin Sergejewitsch16, wessen Garten üppiger blüht!«

»Ich heiße Erast Petrowitsch«, erinnerte ihn Fandorin und verstand nicht, warum Stern ihn so mitleidig ansah.

Die Besatzung der »Arche«

Auf der Versammlung der Truppe, die im Künstlerfoyer stattfand, stellte der Regisseur Fandorin wie verabredet kurz als einen Anwärter auf die Stelle eines »Stücke-Suchers« vor, also eines Dramaturgen. Stern hatte ihm erklärt, diese Funktion gelte als weniger wichtig und die Schauspieler würden sich vor einer so unbedeutenden Figur weniger spreizen. Genau so war es auch. Anfangs starrten alle den bildschönen eleganten Herrn (seitlich gescheiteltes graumeliertes Haar, gepflegter schwarzer Schnurrbart) neugierig an, doch nachdem sie gehört hatten, wer er war, beachteten sie ihn bald nicht mehr. Das war Erast Petrowitsch ganz recht. Er setzte sich bescheiden in eine entfernte Ecke und begann sie zu beobachten – alle außer der Altaïrskaja. Fandorin spürte ihre Anwesenheit überdeutlich (sie saß ihm schräg gegenüber), als dringe von diesem Teil des Raums ein flackerndes Leuchten herüber, das er jedoch nicht genauer anzuschauen wagte, denn er befürchtete, dann würde der ganze übrige Raum in Dämmerung versinken und er nicht arbeiten können. Erast Petrowitsch versprach sich, sich anschließend an ihr sattzusehen, wenn er die Übrigen ausreichend studiert hatte.

Zunächst hielt Noah Nojewitsch eine energische Rede, in der er der Truppe zum kolossalen Erfolg der »Armen Lisa« gratulierte und bedauerte, dass das »bewusste Vorkommnis« die übliche Kritik im Anschluss an die Vorstellung verhindert hatte.

»Ich erinnere an unsere gestrige Abmachung: Diese abscheuliche Geschichte werden wir nicht erörtern. Die Sache wird untersucht und der Schuldige wird entlarvt und bestraft werden, darauf mein Wort, so wahr ich Noah Stern heiße.« Ein kurzer, vielsagender Blick zu Fandorin. »Aber ein solches Geschrei und ein derartiges Durcheinander wie gestern Abend unterbleibt künftig. Klar?«

Aus der Richtung, aus der das schillernde Licht kam, ertönte eine sanfte Stimme, die Erast Petrowitsch so gern hatte erneut hören wollen.

»Nur noch eines, wenn Sie erlauben, Noah Nojewitsch. Ich war gestern Abend nicht in der Verfassung, dem lieben Georgi Iwanowitsch gebührend für seine Kühnheit zu danken. Er hat sein Leben riskiert und ist mir zu Hilfe geeilt! Ich … ich weiß nicht, was mit mir … Wenn diese Scheußlichkeit mich gebissen, ach nein, wenn sie mich auch nur berührt hätte …« Fandorin vernahm ein unterdrücktes Schluchzen, das ihm einen Stich ins Herz versetzte. »Georgi Iwanowitsch, Sie sind der letzte Ritter unserer Zeit! Darf ich Sie küssen?«

Alle applaudierten, und Erast Petrowitsch gestattete sich einen ersten raschen Blick auf die Jugendliche Heldin des Theaters. Sie trug ein helles, in der Taille mit einem breiten bordeauxroten Tuch gegürtetes Kleid und einen leichten breitkrempigen Hut mit Federn. Ihr Gesicht sah er nicht, denn die Altaïrskaja hatte sich ab- und einem nicht sehr großen, blassen Mann mit verbundener Hand zugewandt. Auf seiner hohen Stirn mit angeklatschtem Lermontowschem Schläfenhaar glänzten Schweißperlen, die runden braunen Augen waren anbetungsvoll auf Elisa gerichtet.

»Ich danke Ihnen … Das heißt, ich wollte sagen, nicht der Rede wert«, stammelte Dewjatkin, als sie den Hut abnahm und mit den Lippen seine Wange berührte. Und wurde plötzlich rot.

»Bravo!«, rief ein kleines Fräulein mit einer lustigen Stupsnase voller Sommersprossen, unablässig weiter klatschend (Fandorin taufte sie bei sich Spätzchen). »Lieber George, Sie sind wie der heilige Georg, der Drachentöter! Ich möchte Sie auch küssen! Und Ihre arme Hand drücken!«

Sie stürzte zu dem verwirrten Helden, stellte sich auf die Zehenspitzen und umarmte ihn, doch die Küsse des Spätzchens empfing der Regieassistent mit geringerer Freude.

»Drücken Sie doch nicht so heftig, Soja, das tut weh! Ihre Finger sind ganz knochig!«

»Hier also verbarg sich mein grausiger Tod, in einem toten Pferdeknochen. Es kommt aus dem Schädel leis eine zischende Schlange gekrochen«17, deklamierte ein umwerfender Mann im weißen Anzug mit einer roten Nelke im Knopfloch spöttisch. Das war natürlich Smaragdow, von nahem noch schöner als auf der Bühne.

Fandorin warf einen vorsichtigen Blick auf Elisa, um zu sehen, wie sie ohne Hut wirkte. Doch sie richtete gerade ihre Frisur, und er sah nur, dass ihr feines Haar hochgesteckt und zu einem entweder sehr schlichten oder im Gegenteil höchst raffinierten Knoten geschlungen war, was ihrer Silhouette etwas Ägyptisches verlieh.

»Ich muss diese rührende Szene jetzt leider unterbrechen. Genug bewundert und geküsst, es ist schon eine Minute vor vier«, sagte der Regisseur und schwenkte eine Uhr, die er aus der Tasche gezogen hatte. »Meine Damen und Herren, wir kommen nun zu einem sehr wichtigen Ereignis. Bevor wir das neue Stück in Angriff nehmen, möchte sich unser Wohltäter und guter Engel Andrej Gordejewitsch Schustrow mit uns unterhalten.«

Alle fuhren auf, einige Frauen stießen sogar einen kleinen Schrei aus.

Stern lächelte.

»Ja, ja. Er möchte Sie alle kennenlernen. Bisher hatten nur ich und Elisa das Vergnügen der Bekanntschaft mit diesem wunderbaren Mäzen, ohne den unsere ›Arche‹ nie in See gestochen wäre. Aber nun sind wir in Moskau, und Herr Schustrow hat sich die Zeit genommen, um Sie alle persönlich zu begrüßen. Er wollte um vier hier sein, und dieser Mann kommt niemals zu spät.«

»Sie Scheusal, hätten Sie uns nicht vorwarnen können? Dann hätte ich mein Moirékleid angezogen und die Perlen angelegt«, bedauerte im tiefen Alt eine füllige Dame, die bestimmt einmal sehr schön, geradezu königlich gewesen war.

»Schustrow ist zu jung für Sie, meine liebe Wassilissa Prokofjewna«, sagte ein imposanter Mann mit herrlichem bläulich schimmerndem grauem Haar. »Mich deucht, er ist noch keine dreißig. Mit Perlen und Moiré können Sie ihn nicht verführen.«

Die Dame parierte, ohne den Kopf zu wenden: »Alter Narr!«

Jemand klopfte höflich an die Tür.

»Wie ich gesagt habe: ausnehmend pünktlich!« Noah Nojewitsch wedelte erneut mit der Uhr und lief öffnen.

Fandorin war über den bevorstehenden Besuch des Unternehmers unterrichtet. Der Regisseur hatte gesagt, das sei eine ausgezeichnete Gelegenheit, die Truppe kennenzulernen – er werde dem Mäzen alle Schauspieler vorstellen.

 

Der Besitzer der »Gesellschaft für Theater und Kinematographie« hatte wenig von einem Industriellen, jedenfalls von einem russischen. Er war jung, hager, unauffällig gekleidet und wortkarg. Das Interessanteste an diesem auf den ersten Blick unscheinbaren Herrn waren für Fandorin eine gewisse Konzentriertheit des Blicks und die außerordentliche Ernsthaftigkeit, die er ausstrahlte. Er schien nie zu scherzen, nie zu lächeln, keine sinnlosen Gespräche zu führen. Normalerweise imponierten solche Menschen Fandorin, doch Schustrow gefiel ihm nicht.

Während Stern seine Begrüßungsrede hielt – hochtrabend, mit den üblichen schauspielerischen Übertreibungen (»hochverehrter Wohltäter«, »aufgeklärter Förderer der Musen«, »Schirmherr der Kunst und des Geistes«, »ein Muster des tadellosen Geschmacks« und Ähnliches), schwieg der Kapitalist und betrachtete eingehend die Truppe. Schließlich blieb sein Blick auf der Altaïrskaja-Lointaine ruhen.

Von diesem Augenblick an empfand Fandorin gegen das »Muster des guten Geschmacks« einen heftigen Widerwillen. Er schaute zur Jugendlichen Heldin – was tat sie? Sie lächelte freundlich. Ließ auch kein Auge von Schustrow. Und obgleich das eigentlich ganz natürlich war – die gesamte Truppe blickte auf den jungen Mann mit dem strahlenden Lächeln –, verdüsterte sich Erast Petrowitsch.

Er könnte wenigstens gegen die Komplimente protestieren, Bescheidenheit vortäuschen, dachte Fandorin gehässig.

Aber die Schauspieler der »Arche Noah« hatten tatsächlich allen Grund, Schustrow dankbar zu sein. Er hatte nicht nur den Umzug von Petersburg nach Moskau bezahlt und ihnen für ihr Gastspiel ein vorzüglich ausgestattetes Theater zur Verfügung gestellt. Wie aus Sterns Rede hervorging, standen der Truppe auch ein kompletter Stab an Musikern und Saaldienern, Maskenbildern und Ankleiderinnen, Beleuchtern und Bühnenarbeitern zur Verfügung sowie sämtliche notwendigen Requisiten, Schneidereien und Werkstätten, in denen erfahrene Meister rasch jedes beliebige Kostüm oder Bühnenbild fertigen konnten. Vermutlich hatte keine andere Truppe, die der kaiserlichen Bühnen eingeschlossen, je unter derart günstigen Bedingungen gearbeitet.

»Wir leben hier wie in einem Zauberschloss!«, rief Noah Nojewitsch. »Wir brauchen nur einen Wunsch zu äußern, nur in die Hände zu klatschen – und der Traum wird erfüllt. Nur unter derartig idealen Bedingungen kann man Kunst machen, ohne die demütigende und zermürbende Sorge darum, wie man sich über Wasser hält. Begrüßen wir unseren Schutzengel, meine Freunde!«

Unter Applaus und feurigen Begeisterungsrufen, denen sich nur Fandorin nicht anschloss, verbeugte sich Schustrow leicht – mehr nicht.

Danach begann die Vorstellung der Schauspieler.

Zuerst führte Stern den hohen Gast zur Altaïrskaja.

Jetzt darf ich, sagte sich Fandorin und gestattete sich endlich, sich ganz auf die Frau zu konzentrieren, wegen der er sich den zweiten Tag in unerklärlicher Erregung befand.

Heute wusste er weit mehr über sie als gestern.

Alter – um die dreißig. Aus einer Schauspielerfamilie. Sie hatte die Schauspielschule im Fach Ballett absolviert, sich aber für das Sprechtheater entschieden, dank ihrer wunderbaren Bühnenstimme mit dem erstaunlich tiefen und sanften Timbre. Sie hatte an Theatern beider Hauptstädte gespielt, mehrere Spielzeiten hintereinander am Künstlertheater geglänzt. Böse Zungen behaupteten, sie sei fortgegangen, weil sie sich nicht mit ebenbürtigen Schauspielern messen wollte, von denen es dort zu viele gab. Bevor sie die Jugendliche Heldin der »Arche Noah« wurde, hatte Elisa Altaïrskaja-Lointaine in Petersburg großen Erfolg mit Programmen im populären Genre der Rezitation zu Musikbegleitung gefeiert.

Ihr Name erschien Erast Petrowitsch nun nicht mehr zu prätentiös. Er passte zu ihr: weit entfernt, wie der Stern Altaïr … Ganz am Anfang ihrer Karriere hatte sie die Prinzessin im Morgenland in Edmond Rostands Stück gespielt – daher Lointaine (im französischen Original heißt die Prinzessin Princesse Lointaine, Die ferne Prinzessin). Der zweite Teil ihres Pseudonyms, der ihre unerreichbare Ferne unterstrich, war erst vor kurzem dazugekommen, nach einer kurzen Ehe. Die Zeitungen schrieben darüber recht verschwommen. Der Ehemann der Schauspielerin war ein orientalischer Fürst, ein halber regierender Khan, und in einigen Artikeln wurde Elisa sogar als »Khanin« bezeichnet.

Nun, wenn Fandorin sie so ansah – er würde alles glauben. Eine solche Frau konnte auch Prinzessin oder Gemahlin eines Khans sein.

Obwohl er sich innerlich lange vorbereitet hatte, bevor er sie aus der Nähe betrachtete, linderte das den Schlag kaum. Durch den Feldstecher hatte er sie in Maske gesehen, zudem in der Rolle eines einfachen, naiven Mädchens vom Lande. Im Leben aber, in ihrem natürlichen Zustand, war Elisa ganz anders – nicht im Vergleich mit ihrer Bühnenfigur, sondern einfach überhaupt anders, nicht wie andere Frauen, einzigartig … Fandorin hätte diesen seinen Gedanken nicht genauer erklären können, der ihn die Sessellehnen fest umklammern ließ – so unbändig war das Verlangen, aufzustehen und sich ihr zu nähern, um sie direkt anzuschauen, gierig und unablässig.

Was ist so Besonderes an ihr, fragte er sich, wie üblich bestrebt, das Irrationale zu rationalisieren. Woher kam dieses Gefühl einer unglaublichen, magisch anziehenden Schönheit?

Er versuchte, unvoreingenommen zu urteilen.

Strenggenommen war sie nicht einmal eine Schönheit. Ihre Züge waren zu wenig ausgeprägt. Ihre Figur nicht klassisch: eckige Gestalt, spitze Schultern. Der Mund schmallippig und zu breit. Die Nase hatte einen kleinen Höcker. Doch all diese Unregelmäßigkeiten minderten den Eindruck eines Wunders nicht, sondern verstärkten ihn nur.

Ich glaube, es liegt an den Augen, entschied Erast Petrowitsch. Eine sonderbare, undefinierbare Eigenheit, die einen zwingt, ihren Blick zu suchen, um sein Geheimnis zu enträtseln. Er scheint auf dich gerichtet, dich aber nur zu streifen, als nehme er dich nicht wahr. Oder als sähe er etwas ganz anderes als das Offensichtliche.

An Beobachtungsgabe mangelte es Fandorin nicht. Selbst in seinem jetzigen, zweifellos nicht ganz normalen Zustand hatte er das Geheimnis rasch gelüftet. Frau Altaïrskaja schielte ein wenig, daher die Ungreifbarkeit des Blicks. Doch schon war da ein neues Rätsel – ihr Lächeln. Besser gesagt, das halbe oder nicht vollständige Lächeln, das fast ständig ihre Lippen umspielte. Offenbar macht das den Zauber aus, wagte Erast Petrowitsch eine neue Hypothese. Diese Frau scheint in einem ständigen Vorgefühl des Glücks zu leben, als wolle sie fragen: »Sind Sie der, auf den ich warte? Sind Sie mein Glück?« Außerdem lag in diesem wunderbaren Lächeln eine gewisse Verlegenheit. Als schenke Elisa sich der Welt und geniere sich selbst ein wenig für dieses großzügige Geschenk.

Alles in allem musste sich Fandorin eingestehen, dass er das Geheimnis der Diva nicht bis ins Letzte enträtselt hatte. Er hätte sie noch lange betrachten mögen, doch Schustrow wurde bereits zu dem Mann neben ihr geführt, und Erast Petrowitsch lenkte den Blick widerwillig auf Ippolit Smaragdow.

Über dessen Schönheit brauchte man sich nicht den Kopf zu zerbrechen. Schlank, breitschultrig, hochgewachsen, idealer Scheitel, klarer Blick, blendendes Lächeln, vorzüglicher Bariton. Eine Augenweide, ein wahrer Adonis. Die Zeitungen schrieben, aus Petersburg seien ihm an die fünfzig verliebte Verehrerinnen gefolgt, die keinen seiner Auftritte verpassten und ihr Idol mit Blumen überschütteten. Stern habe ihn aus dem Alexander-Theater mit einer unglaublichen Gage abgeworben, fast tausend Rubel im Monat.

»Sie waren großartig als Hamlet und als Werschinin. Auch Karamsins Erast ist Ihnen gelungen«, sagte der Mäzen, während er ihm die Hand drückte. »Aber vor allem – Sie verfügen über ein sehr vorteilhaftes Aussehen. Auch aus der Nähe betrachtet. Das ist wichtig.«

Der Millionär hatte eine besondere Art zu sprechen – man spürte, dass dieser Mann mit Komplimenten nicht verschwenderisch umging. Er hatte genau das gesagt, was er tatsächlich dachte. Ohne sich sonderlich darum zu scheren, ob sein Gegenüber ihn verstand.

Charmant lächelnd erwiderte der Schauspieler: »Ich sollte sagen ›Schauen Sie nur, schauen Sie, anschauen kostet nichts‹, aber es wäre ja geradezu eine Sünde, Sie nicht um etwas zu bitten. In diesem Zusammenhang möchte ich gern wissen, ob ich nicht doch am Ende der Saison einen kleinen Soloabend bekommen könnte?«

»Nein!«, unterbrach ihn Noah Nojewitsch. »In der Satzung der ›Arche Noah‹ heißt es ganz klar: Kein Soloabend, für niemanden.«

»Auch nicht für Ihre Favoritin?« Der Beau wies mit einem Kopfnicken auf Elisa, an Schustrow gewandt.

Was für eine Unverschämtheit, dachte Fandorin stirnrunzelnd. Weist ihn denn niemand zurecht? Und was meint er mit »Favoritin«?

»Ippolit, halt den Mund. Du langweilst alle«, sagte die Dame, die sich vorhin bedauert hatte, dass sie nicht ihr Moirékleid trug.

»Und das ist Wassilissa Prokofjewna Reginina, unsere Grande Dame«, sagte Stern, während er den Mäzen zu ihr führte. »Sie war eine geniale Königin Gertrud, die Kritiker haben sie einhellig gelobt.«

»Sie nannten sie ›unvergänglich‹«, ergänzte der Nachbar der Grande Dame, der Mann mit dem bläulichen Schimmer im grauen Haar.

Begleitet von gedämpftem Kichern, warf die monumentale Wassilissa Prokofjewna einen vernichtenden Blick auf den Witzbold.

»Eine Stimme aus dem Jenseits«, zischte sie. »Tote sollten schweigen.«

Das Lachen wurde lauter.

Die Beziehungen in der Truppe sind kompliziert, die Atmosphäre ist elektrisch geladen, konstatierte Erast Petrowitsch. Die Reginina reckte ihr molliges Kinn.

»Nichts ist schlimmer für eine Schauspielerin, als sich zu lange an die Rolle der jugendlichen Heldin zu klammern. Man muss rechtzeitig von einem Frauenalter ins nächste wechseln können. Ich werde Noah Nojewitsch auf ewig dankbar sein dafür, dass er mich überredet hat, Schluss zu machen mit den Desdemonas, Cordelias und Julias. Mein Gott, was für eine Befreiung, sich nicht mehr jünger machen zu müssen, nicht wegen jeder neuen Falte hysterisch zu werden! Jetzt kann ich bis an mein seliges Ende Katharina die Große und die Kabanicha spielen. Ich esse Kuchen, habe vierzig Pfund zugenommen und leide kein bisschen!«

Das hatte sie wahrhaft majestätisch gesagt. Stern rief:

»Eine Königin! Eine wahre Regina! Sie sollten sich ärgern, dass Sie Ihr Glück laufenließen«, tadelte er den Grauhaarigen. »Das ist unser Räsoneur Lew Spiridonowitsch Rasumowski, ein höchst weiser Mann, wenn auch manchmal ein wenig spitz. Früher einmal Erster Liebhaber. Und wohl nicht nur auf der Bühne, wie, Lew Spiridonowitsch? Lüften Sie endlich das Geheimnis – warum haben Sie sich von Wassilissa scheiden lassen? Warum nennt sie Sie einen Toten?«

Fandorin bemerkte die Lebhaftigkeit in der Truppe, erriet, dass dieses Thema sehr beliebt war, und wunderte sich: War das nicht seltsam – in einer so kleinen Truppe geschiedene Ehepartner zu beschäftigen, die zudem keine guten Beziehungen bewahrt hatten?

»Wassilissa nennt mich so, weil ich für sie gestorben bin«, antwortete der Charakterdarsteller. »Ich habe tatsächlich etwas Ungeheuerliches getan, für das es keine Vergebung gibt. Nicht, dass ich darum betteln würde … Aber die Details sollten besser unter uns bleiben.«

»Leichnam. Ein lebender Leichnam.« Die Reginina verzog den Mund, als sie den Titel eines Theaterstücks18 zitierte, über das in dieser Spielzeit ganz Russland sprach.

Schustrow wurde plötzlich lebhaft.

»Richtig«, sagte er. »›Der lebende Leichnam‹ ist ein ausgezeichnetes Beispiel dafür, wie Theater und Kinematograph einander unterstützen und füreinander werben. Graf Tolstoi hat ein nichtveröffentlichtes Stück hinterlassen, der Text gelangte auf geheimnisvolle Weise zu meinem Konkurrenten Perski, und der hat bereits begonnen, einen Film danach zu drehen, ohne erst auf die Theateraufführung zu warten! Den Inhalt kennt noch niemand, maschinengeschriebene Abschriften werden gestohlen und für dreihundert Rubel verkauft! Die Familie des Verstorbenen geht vor Gericht! Ich kann mir vorstellen, wie das Publikum die Kinematographen und die Theater stürmen wird! Ein großartiges Arrangement! Wir werden darüber später noch sprechen.«

Er beruhigte sich so plötzlich, wie er sich erregt hatte. Alle sahen den Unternehmer mit respektvollem Unverständnis an.

»Mein Assistent Dewjatkin.« Noah Nojewitsch zeigte auf den von der Schlange Gebissenen. »Und zugleich Schauspieler ohne Rollenfach, ein sogenannter Mitspieler. Seine Geschichte ist in gewisser Weise einzigartig. Er ist in einer Kadettenanstalt aufgewachsen, hat in einem Pionierbataillon bei Beschbarmak gedient …«

»Auf Mangyschlak«, korrigierte Dewjatkin.

»Jedenfalls in einem fürchterlichen Kaff, wo die größte kulturelle Attraktion der Schweinemarkt ist.«

Der Regieassistent korrigierte ihn erneut: »Nicht der Schweine-, sondern der Pferdemarkt. Schweine werden dort nicht gezüchtet, das ist moslemisches Land.«

»Und plötzlich kommt ein kleines Theater auf Gastspiel. Ein schäbiges kleines Theaterchen, aber mit klassischem Repertoire. Unser Fähnrich ist hingerissen, verliebt, verzaubert! Er quittiert den Dienst, geht unter einem romantischen Pseudonym zum Theater und spielt in grauenhaften Aufführungen grauenhaft schlecht. Und dann geschieht erneut ein Wunder. Auf der Durchreise in Petersburg gerät er in eine Vorstellung von mir und begreift endlich, was wahres Theater ist. Er kommt zu mir, bittet mich, ihn einzustellen, egal als was. Ich verstehe etwas von Menschen, das ist mein Beruf. Ich nahm ihn als Assistenten zu mir und habe das bis jetzt kein einziges Mal bereut. Und gestern hat sich Dewjatkin als Held erwiesen. Aber das wissen Sie natürlich, Andrej Gordejewitsch.«

»Das weiß ich.« Schustrow drückte dem Assistenten fest die linke, nicht verbundene Hand. »Sie sind großartig. Sie haben uns alle vor großen Verlusten bewahrt.«

Erast Petrowitsch hob die linke Braue, und seine Laune besserte sich plötzlich. Wenn Elisas Gesundheit für den Mäzen lediglich eine Frage von »Verlusten« war, dann … Das war etwas ganz anderes.

»Ich habe das nicht wegen Ihrer Verluste getan«, murmelte Dewjatkin, doch der Gast begrüßte bereits den nächsten Schauspieler.

»Kostja Lowtschilin19. Wie aus dem Pseudonym zu ersehen – unser Komiker«, stellte Stern einen jungen Mann mit einer unglaublich lebhaften Physiognomie vor. »Er hat den Truffaldino gespielt, den Leporello und den Scapin.«

Der Vorgestellte fuhr sich mit der Hand durch den ungebändigten Lockenschopf, verzog die dicken Lippen und verbeugte sich scherzhaft.

»Zu Diensten, Euer Erlaucht.«

»Ein lustiges Gesicht«, bemerkte Schustrow wohlwollend. »Ich habe Nachforschungen anstellen lassen. Das Publikum liebt die Komiker fast ebenso wie die Femme fatales.

»Wir sind nur Diener. Wir spielen, wen Sie befehlen. Eine Femme fatale? Ist mir eine Freude!« Lowtschilin salutierte und ahmte sogleich recht gelungen die Altaïrskaja nach: verschleierter Blick, geziert gefaltete Hände, selbst das halbe Lächeln gelang ihm.

Alle Schauspieler lachten, sogar die Lointaine selbst. Nur zwei Personen waren nicht belustigt: Schustrow, der mit ernster Miene nickte, und Fandorin – ihm war die Grimassiererei unangenehm.

»Und das hier ist unsere Muntere, Serafima Klubnikina. Ich habe sie als Susanna in ›Figaros Hochzeit‹ gesehen und sofort engagiert.

Die hübsche mollige Blondine machte einen raschen Knicks.

»Ist es wahr, dass Sie Junggeselle sind?«, fragte sie, und in ihren Augen hüpften Teufelchen.

»Ja, aber ich werde bald heiraten«, antwortete Schustrow gelassen, ohne auf das Spiel einzugehen. »Es wird Zeit. Das Alter.«

Eine lange dünne Dame mit knochigem Gesicht sagte, den riesigen Mund verzogen, in lautem Bühnenflüsterton (wie es in Regieanweisungen heißt: »beiseite«):

»Entwarnung, Sima. Auf diesen Köder beißt der Fisch nicht an.«

»Xanthippa Petrowna Lissizkaja20 – Intrigantin. Der Regisseur wies mit ausgestrecktem Arm auf sie. »Sozusagen eine intrigante Füchsin. Früher war sie im komischen Fach, aber nicht sehr erfolgreich. Ich habe ihre wahre Bestimmung entdeckt. Sie war bei mir eine großartige Lady Macbeth und auch sehr gut in den ›Drei Schwestern‹. Ihre Natalja lässt das Publikum förmlich vor Hass brodeln.«

»Kindermärchen sind auch ein sehr perspektivreiches Genre«, bemerkte Schustrow dazu, seiner inneren Logik folgend. Die er sogleich erläuterte: »Sie wären eine gute Schneekönigin. Richtig furchteinflößend, die Kleinen würden weinen.«

»Merci«, bedankte sich die Intrigantin und strich sich demonstrativ übers Haar, das so eng am Kopf anlag, als sollten absichtlich die übergroßen Ohren betont werden. »Oh, hören Sie das?«

Sie zeigte zum Fenster. Draußen skandierten Frauenstimmen etwas. »Sma-rag-dow! Sma-rag-dow«, verstand Erast Petrowitsch.

Vermutlich Verehrerinnen; sie hoffen, dass ihr Idol aus dem Fenster schaut.

»Was rufen sie?« Die Lissizkaja tat, als lausche sie. »›Me-fis-tow?‹ Bei Gott, ›Mefistow‹!« Freudig erregt wandte sie sich ihrem Nachbarn zu. »Anton Iwanowitsch, das Moskauer Publikum weiß Ihr Talent zu schätzen! Ach, Sie waren phantastisch als Falschspieler!«

Fandorin wunderte sich – sie konnte sich unmöglich verhört haben.

Der Mann, an den sich die Intrigantin gewandt hatte, brünett, mit großer Nase und buschigen geschwungenen Brauen, grinste sardonisch.

»Hinge Popularität vom Talent ab und nicht vom Aussehen« – er warf einen unguten Blick auf Smaragdow –, »dann würde man mir am Eingang auflauern. Aber egal, wie genial man den Jago oder den Claudius spielt, dafür wird man nicht mit Blumen überhäuft. Dieses Vergnügen bleibt dem Unbegabten mit dem hübschem Frätzchen vorbehalten.«

Lächelnd den Ausrufen lauschend, sagte der Jugendliche Held träge gedehnt: »Anton Iwanowitsch, ich weiß, Sie versetzen sich vom frühen Morgen an in die Rolle des Bösewichts, aber wir haben heute keine Vorstellung, also kehren Sie in die Welt der anständigen Menschen zurück. Oder können Sie das schon nicht mehr?«

»Ich bitte Sie, streiten Sie nicht!«, flehte die Lissizkaja übertrieben besorgt. »Das ist meine Schuld! Ich habe mich verhört, und nun ist Antoscha gekränkt …«

»Sie haben sich verhört? Mit diesen Ohren?«, stichelte Smaragdow.

Die Intrigantin wurde flammend rot – sie leidet also doch unter ihrer Hässlichkeit, registrierte Fandorin.

»Kollegen! Freunde!« Ein rundgesichtiger Mann in einem zu kurzen Jackett erhob sich von seinem Stuhl. »Hört schon auf, wirklich! Ständig streiten wir, versetzen einander Nadelstiche – was soll das? Das Theater ist doch etwas so Schönes, Gutes, Herrliches! Wenn wir einander nicht lieben, wenn jeder die Decke dauernd nur zu sich zerrt, dann wird sie zerreißen!«

»So spricht ein Mann, der nie Regie führen darf«, sagte Stern darauf und legte dem Rundgesichtigen die Hand auf die Schulter. »Setz dich, Wassja. Und Sie beruhigen sich bitte. Sehen Sie nun, Andrej Gordejewitsch, in was für einem Irrenhaus ich arbeite? Also, wen haben wir noch? Nun, das hier ist, wie Sie sicher erraten haben, unser Intrigant und Bösewicht Anton Iwanowitsch Mefistow.« Er wies mit einer nachlässigen Geste auf den Brünetten. Dann zeigte er mit dem Finger auf den Rundgesichtigen. »Das ist Wassenka, unser Dümmling, darum trägt er auch das Pseudonym Prostakow21. In dieses Rollenfach gehören treue Kameraden und sympathische Dummköpfe. In den ›Drei Schwestern‹ war er Tusenbach, im Hamlet der Horatio … Ja, das ist die ganze Truppe.«

»Und Soja?«, meldete sich die Altaïrskaja vorwurfsvoll. Erast Petrowitsch hatte ihre Stimme ein paar Minuten lang nicht gehört und sie bereits vermisst.

»Ich werde immer vergessen. Wie ein unwichtiges Detail.«

Das sommersprossige Fräulein, das den Helden Dewjatkin geküsst und ihm im Überschwang der Gefühle die verletzte Hand gedrückt hatte, sagte das mit gespielter Fröhlichkeit. Sie war sehr klein – ihre Füße reichten nicht bis auf den Boden und baumelten vom Stuhl herab.

»Entschuldige, Soja! Mea culpa!« Stern schlug sich mit der Faust an die Brust. »Das ist unsere wunderbare Soja Durowa22. Rollenfach Jugendliche Naive, also unser weiblicher Schalk. Ein großartiges Talent für Groteskes, Parodien und Unsinn«, sprudelte er heraus, offensichtlich bemüht, seinen Fauxpas auszubügeln. »Und außerdem die ideale Besetzung für Hosenrollen. Stellen Sie sich vor, ich habe sie aus einem Liliputanerzirkus entführt. Sie stellte dort urkomisch einen Affen dar.«

Schustrow musterte die kleine Frau ohne besonderes Interesse und schaute nun Fandorin an.

»Für die Liliputaner war ich zu groß, und hier bin ich zu klein.« Die Durowa packte den Millionär am Ärmel, damit er sich wieder ihr zuwandte. »Das ist mein Schicksal, ich bin immer entweder zu viel oder zu wenig.« Sie schnitt ein klägliches Gesicht. »Dafür kann ich etwas, das sonst niemand kann. Ich habe die seltene Gabe, meine Tränen zu manipulieren. Ich kann nicht nur mit beiden Augen weinen, sondern wahlweise auch nur mit einem. Allerdings sind Tränen in meinem Rollenfach nur ein Mittel, das Publikum zum Lachen zu bringen.« Sie hustete – erstaunlich heiser. »Entschuldigen Sie, ich rauche viel … Das ist nützlich, wenn ich halbwüchsige Jungen spiele.«

»Ja, das ist die ganze Truppe«, wiederholte Noah Nojewitsch und umriss sein kleines Heer mit einer ausholenden Armbewegung. »Sozusagen die ›Besatzung der Arche‹. Herrn Fandorin brauchen Sie nicht weiter zu beachten. Er ist ein Kandidat für die Stelle des Dramaturgen, gehört aber noch nicht zur Mannschaft. Wir beäugen einander erst einmal.«

Erast Petrowitsch seinerseits hatte bereits genug gesehen. Er hatte die ersten Vermutungen angestellt und einen ersten Kreis von Verdächtigen ausgemacht.

Über den schicksalhaften Korb hatte er schon Erkundigungen eingezogen. Er war im Geschäft »Flora« bestellt worden, per Brief, dem fünfzig Rubel beigelegt waren. Der Brief war nicht erhalten, aber es hatte auch nichts Besonderes darin gestanden, nur der Auftrag, ein Kärtchen »Für die göttliche E. A. L.« beizulegen. Den Korb hatte ein Laufbursche ins Theater gebracht, wo er bis zum Ende der Vorstellung hinter den Kulissen stand, im Kabuff des Logendieners. Dort hätte im Grunde jeder eindringen können, sogar jemand von draußen. Doch Erast Petrowitsch war sich so gut wie sicher, dass für die gestrige Scheußlichkeit einer der hier Anwesenden verantwortlich war. Zumindest schien es ihm zweckmäßig, sich vorerst nicht mit anderen Hypothesen zu verzetteln.

Die Atmosphäre in der Truppe war angespannt, Leute, die sich nicht ausstehen konnten, gab es mehr als genug, aber für die Rolle des »Schlangenbeschwörers« kamen nicht alle in Frage.

Die königliche Reginina konnte er sich dabei zum Beispiel schwer vorstellen. Auch der Räsoneur würde sich bei aller Boshaftigkeit wohl kaum mit so etwas die Hände schmutzig machen – dazu war er zu gesetzt. Ruhigen Gewissens ausschließen konnte man auch Prostakow. Die Klubnikina würde kein Reptil in die rosa Fingerchen nehmen. Der Komiker Lowtschilin? Klebstoff in die Galosche des Regisseurs zu kippen – ein solcher Streich passte wohl zu ihm, aber für die Gemeinheit mit der Giftschlange bedurfte es einer besonderen Bösartigkeit. Sie verriet unbändigen, krankhaften Hass. Oder ebenso glühenden Neid.

Frau Lissizkaja mit ihrem schiefen Mund und den Fledermausohren konnte er sich ohne weiteres als Schlangenbeschwörerin vorstellen. Oder Herrn Mefistow mit seiner Abneigung gegen »hübsche Frätzchen« …

Plötzlich stockte Fandorin – er war unversehens dem schlauen Noah Nojewitsch auf den Leim gegangen und hatte lebendige Menschen mit ihrem Rollenfach gleichgesetzt. Und das kam dabei heraus: Die Hauptverdächtigen waren der Intrigant und die Intrigantin.

Nein, er durfte sich nicht vom ersten Eindruck leiten lassen. Besser, er zog vorerst keine Schlüsse. In dieser Welt war nichts so, wie es schien. Alles war unecht, vorgetäuscht.

Er musste genauer hinschauen. Schauspieler hatten keine Ähnlichkeit mit gewöhnlichen Menschen. Das heißt, sie waren ihnen eben ähnlich, aber in Wirklichkeit waren sie womöglich eine besondere Unterart des homo sapiens mit artspezifischen Verhaltensweisen.

Schon bekam er Gelegenheit, seine Beobachtungen fortzusetzen – Andrej Gordejewitsch Schustrow hielt eine Rede.

Die Besudelung der Annalen

Die Rede des Unternehmers entsprach seinem Äußeren – trocken, präzise, ohne alles Überflüssige. Als verlese Schustrow ein Memorandum oder eine Erklärung. Dieser Eindruck wurde noch verstärkt durch die Manier, seine Gedanken in Form nummerierter Thesen vorzutragen. Erast Petrowitsch bediente sich zwecks größerer gedanklicher Klarheit selbst oft dieses Mittels, doch aus dem Munde eines Förderers der Künste klang die Nummerierung seltsam.

»Punkt eins«, begann Andrej Gordejewitsch, die Augen an die Decke gerichtet, als sehe er dort die Zukunft. »Im zwanzigsten Jahrhundert werden Vorführungen zur Unterhaltung nicht mehr das Metier von Agenten, Impresarios und anderen Einzelpersonen sein, sondern eine gewaltige, gewinnbringende Industrie. Wer von uns Unternehmern dies am schnellsten begreift und am klügsten nutzt, wird hier die führenden Positionen besetzen.

Zweiter Punkt. Zu eben diesem Zweck haben ich und mein Kompagnon Monsieur Simon vor einem Jahr die ›Gesellschaft für Theater und Kinematographie‹ gegründet, in der ich mich um das Theater kümmere, er um die Kinematographie. Gegenwärtig ist Monsieur Simon auf der Suche nach Filmregisseuren und schließt Verträge mit Verleihern, kauft die notwendigen Apparaturen, baut eine Filmfabrik und pachtet Elektrotheater23. Gelernt hat er das alles in Paris im Studio ›Homon‹. Ich verhelfe indessen Ihrem Theater zu Berühmtheit in ganz Russland.

Punkt drei. Ich habe mich entschieden, auf Herrn Stern zu setzen, weil ich in ihm ein enormes Potenzial sehe, das ideal zu meinem Projekt passt. Noah Nojewitschs Theorie zur Verknüpfung von Kunst und Sensation halte ich für hundertprozentig richtig.

Punkt vier. Wie mein Kompagnon und ich unsere beiden Geschäftszweige zu verbinden gedenken, das erzähle ich Ihnen bei unserer nächsten Begegnung. Manches wird Ihnen ungewohnt, vielleicht sogar beunruhigend vorkommen. Darum möchte ich mir zunächst Ihr Vertrauen verdienen. Sie müssen begreifen, dass meine und Ihre Interessen sich vollkommen decken. Und damit kommen wir zum fünften und letzten Punkt.

Also, Punkt fünf. Ich erkläre mit aller Entschiedenheit, dass die Unterstützung der ›Arche Noah‹ für mich keine Laune oder momentane Grille ist. Mancher von Ihnen findet es vielleicht merkwürdig, dass ich dabei keinerlei Ansprüche auf Ihren Gewinn erhebe – der, wie ich meine, recht beträchtlich ist …«

»Unser Wohltäter!«, rief Noah Nojewitsch. »Nirgends in Europa bekommen Schauspieler solche Gagen wie in unserem, das heißt, in Ihrem Theater!«

Auch die Übrigen äußerten sich laut. Schustrow wartete geduldig ab, bis die sich Dankbarkeitsbekundungen gelegt hatten, und setzte seinen unterbrochenen Satz fort.

»… recht beträchtlich ist, und, so denke ich, noch nicht sein Maximum erreicht hat. Ich verspreche Ihnen, meine Damen und Herren, dass Sie, indem Sie Ihr Schicksal mit der ›Gesellschaft für Theater und Film‹ verbinden, für alle Zeiten jener finanziellen Sorgen enthoben sind, mit denen Schauspieler normalerweise zu kämpfen haben …« Erneut lebhafte Bewegung, emotionale Ausrufe, sogar Applaus. »Und die Schauspieler der ersten Reihe werden eines Tages sehr, sehr wohlhabend sein.«

»Führen Sie uns in den Kampf, Kommandeur!«, rief Smaragdow. »Wir folgen Ihnen, durch Feuer und Wasser!«

»Zum Beweis meiner ernsten Absichten – und das ist der eigentliche Punkt fünf – habe ich mich zu einem Schritt entschlossen, der die wirtschaftliche Unabhängigkeit der ›Arche Noah‹ endgültig festschreibt. Ich habe heute auf der Bank ein Konto mit dreihunderttausend Rubeln eröffnet, dessen Zinsen zu Ihren Gunsten gutgeschrieben werden. Weder ich noch meine Erben können dieses Geld zurückbekommen. Sollten Sie beschließen, sich von mir zu trennen, bleibt dieses Kapital trotzdem im Besitz des Theaters. Sollte ich sterben, ist Ihre Selbstständigkeit dennoch garantiert. Das war von meiner Seite alles … Ich danke Ihnen.«

Der großzügige Mäzen wurde mit stehendem Applaus bedacht, mit Schreien, Tränen und Küssen, die Schustrow ungerührt hinnahm, wobei er jedem Küssenden höflich dankte.

»Ruhe! Ruhe!«, brüllte Stern. »Ich habe einen Vorschlag! Hören Sie zu!«

Alle wandten sich ihm zu.

Mit vor Erregung versagender Stimme verkündete der Regisseur: »Ich schlage einen Eintrag in unsere ›Annalen‹ vor! Dies ist ein historischer Tag, meine Damen und Herren! Und so sollten wir es auch festhalten: Heute erhielt die ›Arche Noah‹ ihre wahre Unabhängigkeit.«

»Und fortan werden wir den sechsten September jedes Jahr als Unabhängigkeitstag feiern!«, ergänzte die Altaïrskaja.

»Hurra! Bravo!«, riefen alle.

Dann stellte Schustrow die Frage, die auch Fandorin hatte.

»Was sind die ›Annalen‹?

»So heißt unser heiliges Buch, unser Brevier der Schauspielkunst«, erklärte Stern. »Ein richtiges Theater ist undenkbar ohne Traditionen, ohne Rituale. Zum Beispiel trinken wir nach jeder Vorstellung ein Glas Champagner, und ich sage ein paar Worte zum Spiel eines jeden Schauspielers. Am Tag unseres Debüts haben wir beschlossen, alle wichtigen Ereignisse, Triumphe und Entdeckungen in einem besonderen Buch festzuhalten, das wir unsere ›Annalen‹ nennen. Jeder Schauspieler hat das Recht, seine Erleuchtungen und erhabenen Gedanken zum Handwerk dort einzutragen. Oh, es enthält viel Wertvolles! Eines Tages werden unsere ›Annalen‹ veröffentlicht und in viele Sprachen übersetzt werden! Wassja, bring sie her.«

Prostakow ging zu einem Marmorpodest, auf dem ein Foliant in prächtigem Samteinband lag. Erast Petrowitsch hatte ihn für eine Requisite gehalten, doch nun stellte sich heraus, dass dies ein Brevier der Schauspielkunst war.

»Hier.« Stern blätterte in den mit verschiedenen Handschriften vollgeschriebenen Seiten. »Das meiste schreibe natürlich ich. Meine Bemerkungen zur Schauspieltheorie, meine Eindrücke von Vorstellungen. Aber eine Menge Wertvolles stammt auch von anderen. Dies hier zum Beispiel ist von Ippolit Smaragdow: Eine Vorstellung gleicht einem Akt leidenschaftlicher Liebe, wobei du der Mann bist und das Publikum die Frau, die du zur Ekstase bringen musst. Schaffst du das nicht, bleibt sie unbefriedigt und läuft zum nächsten, feurigeren Liebhaber. Schaffst du es jedoch, dann folgt sie dir bis ans Ende der Welt. Die Worte eines wahren jugendlichen Helden und Liebhabers! Darum stehen die Verehrerinnen kreischend draußen unterm Fenster.«

Der Beau Ippolit machte eine bühnenreife Verbeugung.

»Auch Witziges haben wir hier.« Stern blätterte ein paar Seiten weiter. »Schauen Sie, was Kostja Lowtschilin gezeichnet hat. Oben auf der Seite steht: Und Noah ging mit seinen Söhnen und seiner Frau und den Frauen seiner Söhne in die Arche und mit aller Art von wilden Tieren und Herdenvieh, Kriechtieren und vielfältig gefiederten Vögeln, immer ein Männchen und ein Weibchen. Und darunter sind wir alle sehr ähnlich dargestellt. Hier bin ich mit meinen ›Kindern‹ Elisa und Ippolit, hier die Grande Dame mit Rasumowski als edle wilde Tiere, hier das ›Herdenvieh‹ – Kostja selbst mit Serafima Klubnikina, hier unser Intrigant und unsere Intrigantin als Kriechtiere, und hier die vielfältig gefiederten Vögel – Wassja als Uhu und Soja als Kolibri, und Dewjatkin als Anker!«

Schustrow betrachtete die Karikatur eingehend.

»Es gibt noch ein weiteres Genre der Kinematographie – Animationen«, sagte er. »Das sind Zeichnungen, die sich bewegen. Damit müssen wir uns auch befassen.«

»He, einen Federhalter und das Tintenfass!«, befahl Noah Nojewitsch und malte feierlich Buchstaben auf ein leeres Blatt.

Alle drängten sich um ihn und schauten ihm über die Schulter. Auch Fandorin trat hinzu.

Oben auf der Seite stand nun in Druckbuchstaben:

 

6. (19.) September 1911, Montag

»Tag der Unabhängigkeit, erlangt dank der überwältigenden Großzügigkeit des noblen A. G. Schustrow: jährlich zu begehen!«

 

Alle riefen dreimal »Vivat!«

Sie wollten ihren Wohltäter erneut mit Küssen und Händeschütteln attackieren, doch der wich geschickt zurück zur Tür.

»Ich muss um fünf Uhr in einer Sitzung der Stadtduma sein. Es geht um eine wichtige Frage: ob Gymnasiasten der Besuch von Abendvorstellungen in Elektrotheatern erlaubt sein soll. Das ist fast ein Drittel unseres potentiellen Publikums. Ich empfehle mich.«

 

Nachdem er gegangen war, äußerten die Schauspieler noch eine Weile ihre Begeisterung, dann forderte Stern sie auf, sich zu setzen. Schlagartig verstummten alle.

Es stand noch etwas Wichtiges bevor: Die Verkündung des neuen Stücks und der Besetzung. Die Gesichter drückten Anspannung aus; mit einer Mischung aus Argwohn und Hoffnung schauten alle Schauspieler zu ihrem Direktor. Am ruhigsten wirkten Smaragdow und die Altaïrskaja-Loinaine, sie brauchten keine Angst vor einer unvorteilhaften Rolle zu haben. Doch auch sie schienen aufgeregt zu sein.

Fandorin, auf seinen Beobachtungsposten zurückgekehrt, war ebenfalls gespannt, denn er erinnerte sich an Noah Nojewitschs Worte, in diesem Moment würden die notorischen Verstellungskünstler ihr wahres Ich offenbaren. Vielleicht bekam er nun ein klareres Bild.

Die Nachricht, dass die Truppe den »Kirschgarten« spielen würde, stieß auf wenig Begeisterung und entspannte die Atmosphäre nicht.

»Lässt sich nicht etwas Neueres finden?«, fragte Smaragdow, und einige andere nickten beifällig. »Wozu brauchen wir einen Stückesucher« – er wies auf Fandorin –, »wenn wir wieder Tschechow spielen? Lieber etwas Lebendigeres, Unterhaltsameres.«

»Wo soll ich ein neues Stück hernehmen, noch dazu mit guten Rollen für jeden?«, empörte sich Noah Nojewitsch. »›Der Kirschgarten‹ lässt sich wunderbar in zwölf Rollen aufteilen. Das Publikum kennt die Geschichte schon, das ist wahr. Aber wir werden sie ganz revolutionär auslegen. Worum geht es Ihrer Ansicht nach in dem Stück?«

Alle überlegten.

»Um den Triumph des groben Materialismus über die nutzlose Schönheit?«, lautete die Vermutung der Altaïrskaja.

Erast Petrowitsch dachte: Sie ist klug, das ist wunderbar. Aber Stern war nicht ihrer Meinung.

»Nein, liebe Elisa. In diesem Stück geht es um die Komik der Machtlosigkeit des Intellektuellen und um die Unabwendbarkeit des Todes. Es ist ein grausames Stück mit einem Ende ohne Ausweg, zudem sehr böse. Als Komödie wird es allein deshalb bezeichnet, weil das Schicksal die Menschen erbarmungslos verspottet. Wie immer bei Tschechow ist hier alles nur angedeutet, in Pastelltönen gehalten. Aber wir werden alles Unausgesprochene zu absoluter Klarheit verdeutlichen. Das wird eine antitschechowsche Tschechow-Inszenierung!« Der Regisseur ereiferte sich immer mehr. »Bei Tschechow gibt es in diesem Drama keinen Konflikt, denn als er das Stück schrieb, war er schwerkrank und hatte nicht mehr die Kraft zu kämpfen, weder gegen das Böse noch gegen den Tod. Wir werden das Böse in voller Pracht wiedererstehen lassen. Es wird der wichtigste Motor der Handlung sein. Dank der Tschechowschen Vielschichtigkeit der Figuren und Inhalte ist eine solche Interpretation durchaus erlaubt. Wir werden den psychologisch verwaschenen Figuren Klarheit verleihen, die Sicht auf sie schärfen, zuspitzen, sie in die traditionellen Rollenmuster bringen. Das wird unsere Innovation sein!«

»Genial!«, schrie Mefistow. »Bravo, verehrter Lehrer! Und wer ist der wichtigste Träger des Bösen? Lopachin? Der Zerstörer des Kirschgartens?«

»Das könnte ihm so passen«, spottete Smaragdow, »den Lopachin will er spielen.«

»Träger des Bösen ist der Kontorist Jepichodow«, antwortete der Regisseur dem Intriganten, und Mefistow war geknickt. »Dieser jämmerliche Mensch ist die Verkörperung des gemeinen, kleinen Bösen, dem jeder Zuschauer im täglichen Leben weit häufiger begegnet als dem großen, dämonischen Bösen. Aber es ist nicht nur das. Jepichodow ist außerdem ein wandelndes böses Omen – noch dazu mit einem Revolver in der Tasche. Sein Spitzname ist ›22 Unglücke‹. Wenn Unglück so gehäuft auftritt, macht es Angst. Jepichodow ist ein Bote der Zerstörung und des sinnlosen, grausamen Todes. Nicht umsonst wiederholen die Figuren wie einen unheilvollen Refrain die Worte: ›Jepichowdow kommt, Jepichodow kommt.‹ Er läuft irgendwo hinter der Bühne herum und zupft auf seiner Mandoline. Bei mir wird er einen Trauermarsch spielen.«

»Und welche der Frauen verkörpert das Böse?«, fragte die Lissizkaja. Stern lachte auf.

»Darauf kommen Sie nie. Warja, die Pflegetochter der Ranewskaja.«

»Wie das? Sie ist doch so lieb!«, rief Prostakow verblüfft.

»Sie haben das Stück nicht richtig gelesen, Wassenka. Warja ist eine Heuchlerin. Sie will auf Wallfahrt oder ins Kloster gehen, gibt aber den gottesfürchtigen Pilgern nichts zu essen als Erbsen. Sie wird meist als bescheidene, aufopferungsvolle und arbeitsame Person gespielt, aber wo zum Teufel ist sie denn arbeitsam? Sie ist die Wirtschafterin, die das Gut mit dem prächtigen Kirschgarten in den Ruin und den Untergang geführt hat. Der einzige Lichtblick im Stück ist der schüchterne Annäherungsversuch zwischen Petja und Anja, aber Warja verhindert mit ihrer steten Wachsamkeit, dass das zarte Pflänzchen erblüht. Denn in diesem Reich des Bösen und des Todes ist kein Platz für die lebendige Liebe.«

»Das ist sehr tiefsinnig. Sehr«, sagte die Lissizkaja nachdenklich. Über ihr hässliches Gesicht huschten in rascher Folge verschiedene Grimassen: falsche Frömmigkeit, zuckersüße Herzlichkeit, Neid und Bosheit.

»Und wer verkörpert das Gute? Petja Trofimow?«, soufflierte Prostakow dem Regisseur.

»Darüber habe ich auch nachgedacht. Das schwatzhafte, treuherzige Gute gegen das über alles triumphierende Böse? Allzu hoffnungslos. Den Trofimow bekommen natürlich Sie, Wassja. Spielen Sie ihn in der klassischen Manier des ›lieben Dümmlings‹. Die Mission des Kampfes gegen das Böse aber übernimmt der sieghafte Lopachin.« Noah Nojewitsch wies auf Smaragdow, der zu Fandorins großem Erstaunen dem beschämten Mefistow die Zunge herausstreckte. »Um Russland aus seinem Elend und seiner Armut zu holen, müssen Kirschgärten, die keine Erträge mehr abwerfen, abgeholzt werden. Ippolit, ich rate Ihnen, unseren Wohltäter Andrej Schustrow zu spielen, ihn fotografisch abzubilden. Aber – und das ist eine wichtige Nuance – das Gute ist in seiner Großmut blind. Darum nimmt Lopachin am Ende Jepichodow in seine Dienste. Wenn das Publikum das erfährt, muss es vor böser Vorahnung zusammenzucken. Böse Vorahnung ist überhaupt der Schlüssel zu diesem Stück. Alles wird bald ein Ende nehmen, ein schlechtes Ende – das ist die Grundstimmung des Stücks und unserer Zeit.«

»Ich bin natürlich die Ranewskaja«, erkundigte sich mit süßer Stimme die Grande Dame Reginina. »Von dieser Rolle träume ich seit langem!«

»Wer sonst? Eine alternde, aber noch immer schöne Frau, die für die Liebe lebt.«

»Und ich?« Elisa hielt es nicht mehr aus. »Doch nicht etwa Anja? Sie ist ein junges Mädchen, fast noch ein Kind.«

Stern beugte sich über sie und gurrte: »Aber, aber, Sie werden doch ein junges Mädchen spielen können! Anja ist Licht und Freude. Genau wie Sie.«

»Erlauben Sie, die Kritiker werden spotten! Sie werden sagen, die Altaïrskaja fängt an, sich jünger zu machen!«

»Sie werden sie bezaubern. Ich werde Ihnen ein Kleid voller Spiegelsplitter nähen lassen, ein Feuerwerk von Sonnenreflexen. Jeder Auftritt von Ihnen wird ein Fest!«

Elisa stritt nicht mehr, seufzte aber.

»Wer bleibt noch?« Der Regisseur schaute in sein Notizbuch. »Herr Rasumowski wird den Gajew spielen. Ein Mann der alten Schule, gute, aber überlebte Werte und so weiter, da ist alles klar …«

»Was ist klar? Wieso klar?«, empörte sich der Räsoneur. »Wie soll ich die Rolle anlegen? Den Charakter entwickeln?!«

»Was gibt’s da zu entwickeln? Bald wird der große Weltenbrand ausbrechen, und darin wird Ihr Gajew mitsamt seinem hochverehrten Schrank24 verbrennen. Sie müssen immer alles kompliziert machen, Rasumowski … Also, weiter.« Stern zeigte mit dem Finger auf die kleine Durowa. »Soja machen wir älter, Sie werden die Gouvernante Charlotta spielen. Lowtschilin spielt den Lakaien Jascha. Die Klubnikina das Dienstmädchen Dunjascha. Ich übernehme den Firs. Und Sie, Dewjatkin, Simeonow-Pistschik und was an Kleinkram so anfällt wie Passant und Stationsvorsteher.«

»Simeonow-Pistschik?«, wiederholte der Assistent in tragischem Tonfall. »Erlauben Sie, Noah Nojewitsch, Sie haben mir eine große Rolle versprochen! Ihnen hat doch mein Soljony in den ›Drei Schwestern‹ gefallen! Ich habe mit Lopachin gerechnet!«

»Selber ›hochverehrter Schrank‹«, knurrte Rasumowski, offensichtlich ebenso unzufrieden mit seiner Rolle, ziemlich laut.

»Na klar, den Lopachin!« Smaragdow tippte sich mit dem Finger an die Stirn, den Assistenten verspottend.

Die kleine Durowa verteidigte Dewjatkin.

»Warum nicht? Das wäre sogar sehr interessant! Was sind Sie schon für ein Lopachin? Sie sehen nicht aus wie ein Bauernsohn.«

Der Beau winkte ab, als verscheuche er eine Fliege.

»Als Sie mir den Soljony gaben, dachte ich, Sie würden an mich glauben!«, flüsterte Dewjatkin und packte den Regisseur am Ärmel. »Wieso jetzt, nach meinem Soljony, den Pistschik?!«

»Nun hören Sie aber auf!«, sagte Stern verärgert. »Sie haben den Soljony nicht gespielt, sie haben ihn ›verkörpert‹. Ich habe Sie einfach sich selbst spielen lassen. Einen Lermontow für Arme!«

»Nein, das wagen Sie nicht!« Das blasse Gesicht des Assistenten war plötzlich voller tiefroter Flecke. »Das ist der letzte Tropfen! Ich verlange doch nicht viel, ich will ja nicht Regie führen!«

»Ha, ha«, sagte Noah Nojewitsch trocken und blickte auf ihn herab. »Das fehlte noch. Sie haben also Regie-Ambitionen? Nun, Sie werden eines Tages alle verblüffen. Und ein Stück inszenieren, dass alle nur so staunen werden.«

Das sagte er mit unverhohlenem Spott, als wolle er den Assistenten zu einem Skandal provozieren.

Fandorin verzog das Gesicht in Erwartung von Schreien, Hysterie oder anderen Scheußlichkeiten. Doch Stern war ein hervorragender Psychologe. Vor dem direkten Affront schreckte Dewjatkin zurück; er fiel in sich zusammen und senkte den Kopf.

»Wer bin ich denn?«, sagte er leise. »Ich bin ein Nichts. Es sei, wie Sie sagen, verehrter Lehrer …«

»Nun denn, Kollegen, macht euch an den Text. Meine Anmerkungen wie immer mit Rotstift.«

Die Unzufriedenen verstummten. Jeder nahm von dem auf dem Tisch liegenden Stapel ein Exemplar, wobei Erast Petrowitsch registrierte, dass die Mappen verschiedenfarbig waren. Offenbar hatte jedes Rollenfach seine eigene Farbe – eine weitere Tradition? Smaragdow griff ohne zu zögern nach der roten Mappe, Elisa nahm die in Rosa und reichte die hellblaue der Reginina mit den Worten: »Das ist Ihre, Wassilissa Prokofjewna.« Der Räsoneur zog schweigend die dunkelblaue heraus, Mefistow die schwarze und so weiter.

Währenddessen schaute ein Theaterdiener herein und sagte, »der Herr Regisseur« werde am Telefon verlangt. Dieser schien den Anruf erwartet zu haben.

»Eine halbe Stunde Pause«, sagte er. »Dann gehen wir an die Arbeit. Bis dahin blättert bitte jeder seine Rolle durch und frischt sein Gedächtnis auf.«

Kaum war der Direktor draußen, war das mit Tabu belegte Thema in aller Munde. Sie erörterten das gestrige Ereignis, was Fandorin sehr zupass kam. Er saß möglichst unauffällig da, schaute und hörte zu, in der Hoffnung, der Schuldige würde sich irgendwie verraten.

Zunächst überwogen die Emotionen: Mitgefühl mit der »armen Elisa«, Bewunderung für Dewjatkins Heldentat. Der wickelte auf Bitte der Männer seinen Verband ab und demonstrierte die Bisswunde.

»Nicht der Rede wert«, sagte der Regieassistent männlich und bewegte die Finger. »Tut gar nicht mehr weh.«

Doch die friedliche Phase des allgemeinen Gesprächs währte nicht lange. Die Intrigantin setzte die Zündschnur in Brand.

»Aber wie rasch und geschickt Sie die Hand zurückgezogen haben, Elisa«, bemerkte die Lissizkaja mit einem unangenehmen Lächeln. »Ich wäre vor Angst wie versteinert gewesen und gebissen worden. Sie dagegen – als hätten Sie gewusst, dass in den Blumen ein Reptil lauert.«

Die Altaïrskaja schwankte, als hätte man ihr eine Ohrfeige versetzt.

»Was wollen Sie damit andeuten?«, rief Prostakow. »Sie wollen doch nicht sagen, Elisa habe das Ganze selbst arrangiert?«

»Das fällt mir nicht im Traum ein!« Die Intrigantin breitete die Arme aus. »Aber da Sie selbst davon anfangen … Die Gier nach Ruhm treibt Menschen zu den verwegensten Dingen.«

»Hör nicht auf sie, Elisa!« Prostakow griff nach der Hand der erschütterten Altaïrskaja. »Und Sie, Xanthippa Petrowna, Sie machen das doch mit Absicht. Weil Sie wissen, dass Sie verdächtigt werden.«

Die Lissizkaja lachte laut.

»Aber natürlich, wer denn sonst? Übrigens ist mir ein kleines, aber sehr interessantes Detail aufgefallen. Normalerweise nehmen Sie, der treue Ritter, beim Applaus den schönsten Korb und überreichen ihn persönlich der Dame Ihres Herzens. Das haben Sie diesmal nicht getan. Warum?«

Prostakow wusste nicht, was er darauf antworten sollte, und schüttelte vor Empörung nur den Kopf.

Mefistow schnalzte mit der Zunge und sagte düster: »Ich würde mich über gar nichts wundern. Das heißt, über niemanden.« Er ließ seinen Blick der Reihe nach über alle gleiten.

Jeder, den der Intrigant misstrauisch musterte, reagierte auf seine Weise. Der eine protestierte, der Nächste schimpfte. Die Durowa streckte die Zunge heraus. Die Reginina lachte verächtlich und ging hinaus in den Flur. Rasumowski gähnte.

»Schert euch doch alle zum Teufel. Ich sollte eine rauchen gehen, mir meine Rolle ansehen …«

Zu einem Skandal kam es jedoch nicht. Nach ein paar Minuten waren alle verschwunden, und die beiden Intriganten blieben ein wenig enttäuscht zurück.

»Antoscha, Sie könnten so etwas getan haben, bloß so, um die Gänse zu reizen«, sagte die Lissizkaja aus reiner Gewohnheit zu ihrem Partner. »Geben Sie zu, das war Ihr Werk.«

»Hören Sie auf«, entgegnete Mefistow träge. »Was sollen wir beide uns gegenseitig ärgern? Ich setze mich in den Saal und probiere mal den Jepichodow. Was für eine Rolle …«

Die Intrigantin wirkte unzufrieden. Da nun nur noch Fandorin im Künstlerfoyer war, wetzte sie ihre Krallen an dem Neuen.

»Rätselhafter Unbekannter«, begann sie schmeichelnd, »Sie sind sehr unverhofft aufgetaucht. Genau wie der Blumenkorb gestern, den wer weiß wer geschickt hat.«

»Verzeihen Sie, Gnädigste, ich habe keine Zeit«, erwiderte Erast Petrowitsch kühl und erhob sich.

Er schaute zuerst in den Zuschauersaal. Dort saßen, einzeln, in gebührendem Abstand voneinander, einige Schauspieler. Elisa war nicht darunter.

Er ging in den Flur.

Vorbei an Lowtschilin, der sich auf einem Fensterbrett niedergelassen hatte, vorbei an dem Pfeife rauchenden Rasumowski und an dem finster dreinblickenden Dewjatkin, der auf eine einzige Textseite starrte.

Die Altaïrskaja-Lointaine fand er auf der Treppe. Sie stand am Fenster, mit dem Rücken zu Fandorin, die Arme um die Schultern geschlungen. Ihr Textbuch im rosa Umschlag lag auf dem Geländer.

Schluss mit den Mätzchen, sagte er sich. Diese Frau gefällt mir. Zumindest interessiert sie mich, sie reizt mich. Also sollte ich sie ansprechen.

Er blickte in den passenderweise in der Nähe hängenden Spiegel und war zufrieden mit seinem Aussehen. Noch nie hatte sein Äußeres eine Dame gleichgültig gelassen – vor allem, wenn er ihr gefallen wollte.

Erast Petrowitsch trat näher, räusperte sich taktvoll und sagte, als sie sich umdrehte, sanft: »Sie sollten sich nicht ärgern. Damit haben Sie dieser Dame mit der bösen Zunge nur eine Freude gemacht.«

»Wie konnte sie es wagen?!«, rief Elisa klagend. »Zu behaupten, dass ich selbst …«

Sie schüttelte sich widerwillig.

Fandorin, der überdeutlich spürte, wie nah sie war, nur eine Armlänge entfernt, fuhr mit feinem Lächeln fort: »Frauen wie die Lissizkaja können nicht ohne Skandale leben. Sie dürfen nicht zulassen, dass sie Sie in ihre Spielchen hineinzieht. Diesen Persönlichkeitstyp nennt man in der Psychologie ›Skorpion‹. Das sind im Grunde unglückliche, sehr einsame Menschen.«

Der Anfang des Gesprächs schien gelungen. Erstens hatte er es geschafft, nicht ein einziges Mal zu stottern. Zweitens musste sie ihn nun nach den psychologischen Typen fragen, und hier würde er ganz bestimmt ihr Interesse wecken.

»Ja, das stimmt wohl!«, sagte die Altaïrskaja-Lointaine erstaunt. »Xanthippa wirkt in der Tat irgendwie innerlich gebrochen. Sie begeht Gemeinheiten, aber ihre Augen haben dabei etwas Klägliches, Bittendes. Sie sind ein aufmerksamer Beobachter, Herr …« Sie stockte.

»Fandorin«, erinnerte er sie.

»Ja, ja, Herr Fandorin. Stern hat gesagt, Sie seien ein Kenner der modernen Literatur, aber Sie sind doch kein einfacher Dramaturg, oder? Sie haben irgendwie etwas … Besonderes.« Sie hatte eine Weile nach dem passenden Wort gesucht, doch es gefiel Erast Petrowitsch. Noch mehr gefiel ihm, dass ein bezauberndes Lächeln auf ihr Gesicht getreten war. »Sie verstehen so viel von Menschen. Sie schreiben bestimmt Theaterkritiken? Wer sind Sie?«

Er überlegte kurz und antwortete: »Ich bin ein Reisender. Und Kritiken, nein, die schreibe ich leider nicht.«

Ihr Lächeln erlosch, genau wie das Interesse, das in ihrem so seltsam entgleitenden Blick gestanden hatte.

»Es heißt, reisen sei interessant. Aber ich habe nie verstanden, was reizvoll daran sein soll, ewig von Ort zu Ort zu ziehen.«

Ihr vielsagend auf die rosa Mappe gerichteter Blick konnte nur eines bedeuten: Lassen Sie mich in Ruhe, das Gespräch ist beendet.

Doch Erast Petrowitsch wollte nicht gehen. Er musste etwas sagen, damit sie begriff, dass ihre Begegnung kein Zufall war, dass es sich um eine unbegreifliche, aber zugleich ganz offenkundige Fügung des Schicksals handelte.

»Elisa … Verzeihen Sie, ich kenne Ihren Vatersnamen nicht …«

»Ich schätze Vatersnamen nicht besonders.« Sie griff nach dem Textbuch. »Sie riechen nach etwas Totem und nach Asien. Als wäre man das Eigentum seines Erzeugers. Ich gehöre nur mir selbst. Nennen Sie mich ruhig einfach Elisa. Oder, wenn Sie möchten, Jelisaweta.«

Ihr Ton war gleichgültig, ja kühl, doch Fandorin geriet in noch größere Erregung.

»Ja, genau, Sie sind Jelisaweta, Lisa. Und ich b-bin Erast! V-verstehen Sie?«, rief er mit einer Hitzigkeit, die er bei sich nicht vermutet hatte, zudem heftig stotternd. »Ich sehe d-darin einen F-fingerzeig des Schicksals … Ihre G-geste m-mit der ausgestreckten Hand … Überdies ist September …«

Er stockte, denn er sah: Nein, sie verstand überhaupt nichts. Keinerlei emotionale Regung, keine andere Reaktion als Verständnislosigkeit. Kein Wunder. Was sagten ihr Erast, September und eine weiße Hand?

Er presste die Zähne zusammen. Fehlte nur noch, dass Lisa, also Elisa, ihn für verrückt oder für einen exaltierten Verehrer hielt. In ihrer Umgebung gab es auch ohne ihn mehr als genug von beidem.

»Ich meine, Ihr Spiel in der gestrigen Aufführung hat mich sehr beeindruckt«, sagt er beherrschter, noch immer bestrebt, ihren entgleitenden Blick zu finden und festzuhalten. »Ich habe noch nie etwas Derartiges empfunden. Nun, und dann hat mich natürlich die Namensgleichheit erschüttert. Ich heiße d-doch auch Erast. Petrowitsch …«

»Ach ja, in der Tat. Erast und Lisa.« Sie lächelte wieder, aber zerstreut, ohne jede Wärme. »Was ist das dort für ein Geschrei? Sie zanken schon wieder …«

Er drehte sich verärgert um. Oben schrie tatsächlich jemand. Fandorin erkannte die Stimme des Regisseurs. »Blasphemie! Frevel! Wer hat das getan?«, tönte es vom Künstlerfoyer her.

»Ich muss gehen. Noah Nojewitsch ist zurück, und er ist über irgendetwas wütend.«

Mit gesenktem Kopf folgte Erast Petrowitsch Lisa und verfluchte sich dafür, dass er das erste Gespräch verdorben hatte. Seit seiner frühesten Jugend hatte er sich einer Frau gegenüber nicht so idiotisch verhalten.

 

»Ich will wissen, wer das getan hat!«

An der Tür zum Künstlerfoyer stand der erzürnte Noah Nojewitsch mit den aufgeschlagenen »Annalen« in der Hand.

»Wer hat es gewagt?!«

Fandorin warf einen Blick in das Buch. Direkt unter den feierlichen Eintrag über den Unabhängigkeitstag hatte jemand mit violettem Kopierstift schief und krumm mit großen Buchstaben gekritzelt:

Noch acht Einheiten bis zum Soloabend. Besinnt euch!

Alle traten heran, schauten und verstanden nichts.

»Das Theater ist ein Tempel! Der Dienst des Schauspielers ist eine erhabene Mission! Ohne Ehrfurcht und sakrale Objekte können wir nicht existieren!« Stern weinte fast. »Derjenige, der das getan hat, wollte mich beleidigen, uns alle, unsere Kunst! Was sind das für Krakel? Was haben sie zu bedeuten? Wie oft muss ich das noch wiederholen: Bei mir im Theater wird es keinen Soloabend geben. Das erstens. Und zweitens – unser Heiligtum zu besudeln, das ist das Gleiche, wie eine Kirche zu beschmutzen. So etwas tut nur ein Vandale!«

Manche hörten ihm voller Mitgefühl zu, andere teilten seinen Ärger, aber auch Lachen war zu hören. Der Autor der dummen Inschrift offenbarte sich jedenfalls nicht.

»Gehen Sie, alle«, sagte der Regisseur mit schwacher Stimme. »Ich will niemanden sehen … Ich kann heute unmöglich arbeiten. Morgen, morgen …«

Da alle den Leidenden ansahen, nutzte Fandorin die Gelegenheit und ließ kein Auge von Elisa. Sie schien ihm unerreichbar fern, in der Tat wie der Stern Altaïr, und dieser Gedanke war merkwürdig qualvoll.

Er begriff: Gegen diesen Schmerz musste er etwas tun, von allein würde er nicht vergehen.

Es gibt keine unlösbaren Probleme

Fandorin konnte schon die zweite Nacht nicht einschlafen. Dabei waren seine Gedanken keineswegs mit Deduktionen wegen der Schlange im Blumenkorb beschäftigt. Die Gemütsverfassung des harmonischen Menschen durchlief mehrere Stadien.

Im ersten Stadium entdeckte Fandorin plötzlich die simple Wahrheit, die ein weniger kluges und kompliziertes Individuum weit eher erkannt hätte. (Allerdings ist dabei zu berücksichtigen, dass Erast Petrowitsch diese Seite im Buch seines Lebens als endgültig zugeschlagen betrachtet hatte.)

Ich bin verliebt, sagte sich der Fünfundfünfzigjährige, der in seinem Leben so einiges gesehen und erlebt hatte. Er staunte sehr, lachte in der Stille des leeren Zimmers sogar auf. Kein Zweifel – ich bin verliebt? Verliebt wie ein Jüngling, voller jugendlicher Leidenschaft? Nicht doch! Was für eine beschämende Dummheit, ja Geschmacklosigkeit! Mit zweiundzwanzig für immer das Herz verlieren, dann ein Drittel Jahrhundert auf der schwelenden Asche dieser Liebe leben, ungerührt vernichtende Schicksalsschläge hinnehmen und in den bedrohlichsten Situationen kühlen Verstand bewahren, in reifem Alter zu seelischer Ruhe und Klarheit gelangen – und dann erneut kindisch werden, die lächerliche Figur eines Verliebten abgeben?!

Und vor allem – verliebt in wen! In eine Schauspielerin, also ein a priori unnatürliches, geziertes Geschöpf, das daran gewöhnt ist, Männern den Kopf zu verdrehen und ihnen das Herz zu brechen!

Aber das war nur die eine Hälfte des Problems. Die andere war noch demütigender. Die Verliebtheit war einseitig, die andere Seite erwiderte sie nicht, ja, sie interessierte sich nicht einmal für ihn.

In den vergangenen Jahren hatten so viele Frauen – schöne und kluge, schillernde und ernsthafte, teuflische und engelsgleiche – ihn mit ihrer Verehrung und Leidenschaft beglückt, und er hatte sich bestenfalls von ihnen lieben lassen und dabei fast immer Kaltblütigkeit bewahrt. Und diese hier erklärte: »Ich gehöre nur mir selbst.« Und schaute ihn an wie eine lästige Fliege!

So geriet Erast Petrowitsch unmerklich ins zweite Stadium – Empörung.

Gehören Sie doch, wem Sie wollen, meine Dame, was kümmert mich das! Ich bin verliebt? Was für ein Unfug einem manchmal in den Sinn kommt! Erneut auflachend (diesmal nicht erstaunt, sondern ärgerlich), befahl er sich, sich die Schauspielerin mit dem hochtrabenden Künstlernamen aus dem Kopf zu schlagen. Sollten sie in ihrem netten kleinen Theater doch selber sehen, wer da wem ausgesprochene Gemeinheiten antat respektive eine Schlange in den Korb legte. Der Aufenthalt in diesem Irrenhaus war für die Psyche eines rationalen Menschen gefährlich.

 

Erast Petrowitsch besaß einen eisernen Willen. Er hatte sich entschieden – und damit Schluss. Er machte seine Abendgymnastik und aß sogar zu Abend. Im Bett las er ein wenig Marc Aurel, dann löschte er das Licht. Doch im Dunkeln überfiel ihn die Versuchung mit neuer Heftigkeit. Plötzlich sah er ihr Gesicht mit dem an ihrem Gegenüber abgleitenden Blick, vernahm ihre sanfte, tiefe Stimme. Die »Prinzessin Lointaine« zu vertreiben hatte er weder die Kraft noch, was schlimmer war, den Wunsch.

Bis zum Morgengrauen wälzte sich Fandorin herum und versuchte immer wieder, das lockende Bild zu vertreiben. Aber er musste sich eingestehen, dass er unheilbar vergiftet war.

Er zog sich an, griff nach seiner Jadekette und stellte sich voll und ganz dem Problem. So begann das dritte Stadium – die Verarbeitung.

Ich bin verliebt, das zu bestreiten ist absurd. Das erstens. (Er ließ eine grüne Kugel klacken.)

Offensichtlich wäre ein Leben ohne diese Frau für mich freudlos. Das zweitens. (Erneutes Klacken.)

Also muss ich dafür sorgen, dass sie mein wird – ganz einfach. Das drittens.

Das war schon die ganze logische Kette.

Er fühlte sich gleich besser. Bei einem Mann der Tat wie Fandorin löst ein klar umrissenes Ziel einen Energieschub aus.

Zunächst musste er seine gegenwärtigen Maximen korrigieren, die eine derartige überraschende Wende auf dem harmonischen Weg ins Alter nicht vorsahen.

Da geht ein Mensch übers freie Feld, das er im Laufe seines Lebens zu durchmessen hat, blickt gelassen auf die fließende Linie des Horizonts, der allmählich klarer zu werden und näher zu rücken scheint. Der Weg ist angenehm, seine Schritte gleichmäßig, am Himmel über ihm stehen ruhige Wolken – keine Sonne, kein Regen. Und plötzlich – ein Donnerschlag, ein Blitz, und ein ungestümer elektrischer Pfeil durchfährt sein ganzes Wesen, Finsternis senkt sich auf die Erde, er sieht weder Weg noch Horizont, weiß nicht mehr, wohin er gehen muss, und vor allem – ob er es überhaupt tun soll. Der Mensch denkt und Gott lenkt.

Sein Körper und seine Seele waren von elektrischen Vibrationen erfüllt. Fandorin fühlte sich wie eine Schildkröte, die plötzlich ohne Panzer dasteht. Das war beängstigend und beschämend, aber dafür hatte er das Gefühl, als atme seine gesamte Haut. Und als habe er geschlafen und sei nun erwacht. Oder melodramatischer: Als sei er von den Toten auferstanden. Ich habe mich wohl vor der Zeit begraben, dachte Erast Petrowitsch, immer rascher mit den Jadekugeln klackend. Vorerst geht das Leben weiter, und Überraschungen jeder Art sind möglich – glückliche wie katastrophale. Wobei die wichtigsten beides zugleich sind.

Fandorin saß im Sessel, den Blick auf das sich langsam erhellende Fenster gerichtet, und lauschte verwirrt den Veränderungen in seinem Inneren.

So fand ihn Masa, der kurz nach sieben vorsichtig zur Tür hereinschaute.

»Was ist passiert, Herr? Seit vorgestern sind Sie nicht Sie selbst. Ich habe Sie nicht belästigen wollen, aber das macht mir Sorgen. Ich habe Sie noch nie so gesehen.«

Nach kurzem Nachdenken korrigierte sich der Japaner.

»Ich habe Sie lange nicht so gesehen. Sie sehen auf einmal so jung aus. Wie vor dreiunddreißig Jahren. Sie sind bestimmt verliebt?«

Als Fandorin den Hellseher erstaunt ansah, schlug Masa sich auf die glänzende Glatze.

»Genau! Oh, wie beunruhigend! Da muss etwas unternommen werden.«

Er ist mein einziger Freund, und er kennt mich besser als ich mich selbst, dachte Erast Petrowitsch. Vor ihm etwas zu verbergen ist sinnlos, außerdem weiß Masa mit der weiblichen Psyche Bescheid. Er kann mir helfen!

»Sag mir, wie erringt man die Liebe einer Schauspielerin?«, stellte Fandorin ohne Umschweife auf Russisch gleich die wichtigste Frage.

»Lichitige oder gesepielte?«, erkundigte sich sein Diener sachlich.

»Wie? Was heißt ›gespielte Liebe‹?«

Über Gefühlsdinge äußerte sich Masa lieber in seiner Muttersprache, weil er sie für subtiler hielt.

»Eine Schauspielerin ist nichts anderes als eine Geisha oder Kurtisane von höherem Rang«, begann er. »Eine solche Frau kennt zwei Arten von Liebe. Ihre gespielte Liebe ist leichter zu erringen – sie können Liebe wunderbar vortäuschen. Ein normaler Mann braucht auch nicht mehr. Im Namen einer solchen Liebe ist die Schöne durchaus imstande, einige Opfer zu bringen. Sich zum Beispiel als Beweis ihrer Leidenschaft die Haare abzuschneiden. Oder sogar ein Stück vom kleinen Finger. Aber nicht mehr. Doch manchmal, sehr selten, wird das Herz einer solchen Frau auch von echtem Gefühl ergriffen, einem Gefühl, für das sie sogar zum gemeinsamen Selbstmord bereit ist.«

»Scher dich zum Teufel mit deiner japanischen Exotik!« Erast Petrowitsch war wütend. »Ich rede nicht von einer Geisha, sondern von einer Schauspielerin, einer normalen europäischen Schauspielerin.«

Masa überlegte.

»Ich hatte Schauspielerinnen. Drei. Nein, vier – die Mulattin aus New Orleans mitgerechnet, die auf dem Tisch tanzte … Sie haben wohl recht, Herr. Sie sind anders als Geishas. Ihre Liebe zu erringen ist viel einfacher. Aber es ist schwer festzustellen, ob sie echt ist oder gespielt.«

»Egal, das finde ich schon heraus«, sagte Fandorin ungeduldig. »Leichter, sagst du? Sogar viel leichter?«

»Ganz leicht wäre es, wenn Sie Regisseur wären, Stückeschreiber oder in der Zeitung über das Theater schreiben würden. Schauspielerinnen sehen nur in diesen drei Arten von Männern höhere Wesen.«

Fandorin erinnerte sich an das Lächeln, das Elisas Gesicht erhellt hatte, als sie ihn für einen Theaterkritiker hielt, und er schaute seinen Berater begierig an.

»Und? Nun red schon!«

Masa fuhr bedächtig fort: »Regisseur können Sie nicht sein, dafür braucht man ein eigenes Theater. Kritiken zu schreiben ist natürlich nicht schwer, aber es wird lange dauern, bis Sie sich einen Namen gemacht haben. Schreiben Sie ein gutes Stück mit einer schönen Rolle für die Schauspielerin. Das ist am einfachsten. Ich habe einmal geschrieben. Das ist nicht schwer, ja, sogar angenehm. Das ist mein Rat, Herr.«

»Machst du dich über mich lustig? Ich kann keine Stücke schreiben!«

»Um einer Frau seine Liebe zu beweisen, muss man Heldentaten vollbringen. Für einen Mann wie Sie ist die Überwindung von hundert Hindernissen oder der Sieg über einen Bösewicht keine Heldentat. Aber für die Geliebte ein wunderbares Stück zu schreiben – das wäre ein echter Beweis Ihrer Liebe.«

Erast Petrowitsch schickte den Spezialisten zum Teufel und war wieder allein.

 

Doch die Idee, die ihm anfangs unsinnig erschienen war, ging ihm ständig im Kopf herum und nahm ihn allmählich gefangen.

Einer geliebten Frau muss man etwas schenken, das ihr allergrößte Freude bereitet. Elisa ist Schauspielerin. Ihr Leben ist das Theater, ihre größte Freude – eine gute Rolle. Ach, wenn ich doch tatsächlich ein Stück präsentieren könnte, in dem Elisa gern spielen würde! Dann würde sie mich nicht mehr mit höflicher Gleichgültigkeit anschauen. Masas Rat ist gar nicht dumm. Aber leider unausführbar …

Unausführbar?

Erast Petrowitsch sagte sich, dass er in seinem Leben schon viele Male vor Aufgaben gestanden hatte, die ihm unlösbar erschienen waren. Aber es hatte sich immer eine Lösung gefunden. Wille, Verstand und Wissen überwinden jedes Hindernis.

An Willen und Verstand fehlte es nicht. Um das Wissen war es schlechter bestellt … Fandorins Kenntnisse auf dem Gebiet der Dramatik waren minimal. Er musste eine Herkulesaufgabe bewältigen. Doch er konnte es zumindest versuchen – für ein solches Ziel.

Eines war klar: Elisa nicht zu sehen war unerträglich, aber ihr als Mann aus der Menge gegenüberzutreten, als einer von vielen, das konnte er noch viel weniger. Er hatte bereits einen Nasenstüber kassiert, das genügte. Wenn er ihr erneut begegnete, dann bestens gerüstet.

So erreichte der harmonische Mensch das letzte Stadium – feste Entschlossenheit.

 

An die Umsetzung seines Vorhabens ging Erast Petrowitsch mit aller Gründlichkeit. Zunächst umgab er sich mit Büchern: Dramenbänden, Aufsätzen zur Dramatik, Traktaten zu Stilistik und Poetik. Die Technik des schnellen Lesens, Konzentration und fieberhafte Erregung versetzten den künftigen Dramatiker in die Lage, binnen vier Tagen mehrere tausend Seiten zu bewältigen.

Den fünften Tag verbrachte Fandorin in absoluter Untätigkeit, mit Meditationen, um die innerliche Leere zu schaffen, in der jener lebensspendende Impuls entstehen sollte, der im Westen Inspiration genannt wird, im Osten Samadhi.

Was für ein Werk er schreiben wollte, wusste Erast Petrowitsch bereits – die Richtung hatte das Gespräch mit Stern über das »ideale Theaterstück« gewiesen. Er musste nur noch den Augenblick abwarten, da die Worte von selbst fließen würden.

Gegen Abend begann der auf die Erleuchtung wartende Fandorin sich in einem bestimmten Rhythmus zu wiegen, und seine halbgeschlossenen Lider öffneten sich weit.

Er tauchte die Stahlfeder in die Tinte und schrieb den langen Titel nieder. Anfangs bewegte sich seine Hand langsam, dann immer schneller, bis sie den ins Freie drängenden Wörtern kaum noch folgen konnte. Die Zeit hüllte das Arbeitszimmer in eine schaukelnde, funkelnde Wolke. Tief in der Nacht, als ein majestätischer Vollmond am Himmel stand, hielt Erast Petrowitsch plötzlich inne, weil er spürte, dass die magische Energie versiegt war. Ein Tintenklecks fiel auf das Papier, und der Federhalter entglitt seiner Hand. Er lehnte sich in den Sessel zurück und konnte endlich, zum ersten Mal seit Tagen, einschlafen. Die Lampe brannte weiter.

Lautlos kam Masa ins Zimmer und deckte seinen Herrn mit einem Plaid zu. Er las das Geschriebene und schüttelte seufzend und skeptisch seinen mondrunden Kopf.