Sieben Einheiten bis zum Soloabend

Dshingis Khans Rache

Lieber gar nicht erst hinlegen. Wieder das Gleiche: Ein Gesicht voller Sauerkraut und lautlos singende Lippen, von einem Bart umhüllt. Eigentlich fing der Traum sehr schön an. Sie fährt eine Landstraße entlang – nicht in einem Auto, sondern in einer Kutsche. Rhythmisches Hufeklappern, leise klirrendes Pferdegeschirr, sanftes Wippen, das süße Wellen in ihr aufsteigen lässt. Sie ist ganz allein, sie möchte am liebsten fliegen, eine Vorahnung von Glück erfüllt ihr Herz, sie ist vollkommen wunschlos, sie möchte nur immer so auf diesem federnden Sitz gewiegt werden und auf die nahe Freude warten …

Plötzlich klopft jemand ans linke Fenster. Sie schaut hin – ein blau angelaufenes Gesicht mit geschlossenen Augen, von den großen scheckigen Ohren hängt Sauerkraut herab. Eine Hand mit einem Siegelring rückt die Krawatte zurecht, und die bewegt sich. Es ist keine Krawatte, es ist eine Schlange!

Nun klopft es auch rechts. Sie fährt herum – dort ist ein Sänger mit einem grellroten Bart. Er schaut sie durchdringend an, öffnet den Mund, vollführt eine ausladende Geste mit dem Arm, aber sie hört keinen Ton.

Nur das Klopfen: Poch-poch-poch, poch-poch-poch!

 

Eine Zeitlang hatten die Träume beinahe aufgehört. Sie war nicht einmal sehr erschrocken, als sie in der »Armen Lisa« in der dritten Reihe im Parterre die wohlbekannte Glatze und den hasserfüllten Blick unter den zusammengewachsenen schwarzen Brauen entdeckte. Sie hatte gewusst, dass er früher oder später auftauchen würde, war innerlich darauf gefasst und zufrieden, weil sie sich so gut beherrschte.

Doch als sich nach der Vorstellung plötzlich ein Schlangenkopf mit genau solchen wütenden kleinen Äuglein aus dem Blumenkorb wand, fiel der Alptraum erneut über sie her, mit noch größerer Wucht. Wäre der liebe, rührend verliebte Dewjatkin nicht gewesen … Brr – lieber nicht daran denken!

Zwei Tage lang gestattete sie sich keinen Schlaf, weil sie wusste, wie das enden würde. Am dritten Tag siegte die Müdigkeit – und dann folgte natürlich das schreckliche Erwachen. Mit Schreien, krampfhaftem Schluchzen und Schluckauf. Seitdem war es jede Nacht das Gleiche: Der alte Petersburger Traum, in dem sich nun auch noch eine Schlange eingenistet hatte.

 

Im Schlafsaal der Ballettschule hatte die kleine Lisa vorm Schlafengehen ihren Freundinnen oft Heldinnen vorgespielt, die starben. An langsam wirkendem Gift, wie Kleopatra, oder an Schwindsucht, wie die Kameliendame. Auch die von einem Dolch durchbohrte Julia taugte dafür, denn bevor sie sich erstach, sprach sie noch einen rührenden Monolog. Sie hatte es genossen, mit geschlossenen Augen dazuliegen und die Mädchen schluchzen zu hören. Die anderen waren nach Abschluss der Schule alle Tänzerinnen geworden, einige sogar zu Berühmtheit gelangt, aber die Karriere einer Ballerina war kurz, und Lisa wollte bis ins Alter dem Theater dienen, wie Sarah Bernhardt, darum entschied sie sich für das Schauspiel. Sie träumte davon, auf der Bühne leblos zusammenzubrechen wie Edmund Kean1, so dass die Zuschauer dachten, das gehöre zur Rolle, aber trotzdem schluchzten, und ihren letzten Atemzug unter Beifall und Bravo-Rufen zu tun.

In die Ehe war Lisa früh geflattert. Sie hatte die Prinzessin Lointaine gespielt, Sascha Lejkin den verliebten Prinzen Jaufre. Der erste Erfolg, der erste Rausch allgemeiner Verehrung. In der Jugend verwechselt man so leicht Bühne und Leben! Natürlich trennten sie sich wieder, schon sehr bald. Schauspieler dürfen nicht zusammenleben. Sascha verschwand irgendwo in der Provinz, von ihm blieb ihr nur der Name. Aber eine Jugendliche Heldin kann nicht »Lisa Lejkina« heißen, also wurde sie Elisa Lointaine.

War ihre erste Ehe lediglich unglücklich, so war die zweite eine Katastrophe. Und wieder war sie selbst schuld. Sie hatte sich verführen lassen von der interessanten Schicksalswende und dem Glanz von Äußerlichkeiten. Und nicht zuletzt vom klangvollen Titel. Heirateten nicht viele Schauspielerinnen nur, um sich »Eure Erlaucht« oder »Eure Durchlaucht« nennen zu lassen? Und »Eure Hoheit« klang noch pompöser. So musste die Gemahlin eines Khans nämlich angesprochen werden. Iskander Altaïrski war ein glanzvoller Offizier der kaiserlichen Leibgarde, ältester Sohn eines kaukasischen Herrschers, dessen Khanat unter Jermolow2 dem russischen Reich angegliedert worden waren. Er warf mit Geld um sich, umwarb sie sehr phantasievoll, sah trotz seiner frühen Kahlköpfigkeit nicht übel aus und war zudem asiatisch heißblütig und redegewandt. Er war bereit, für die Liebe alles zu opfern – und hielt Wort. Als seine Vorgesetzten ihm die Zustimmung zur Heirat verweigerten, quittierte er den Dienst und beendete damit seine militärische Karriere. Er verdarb es sich mit seinem Vater und verzichtete zugunsten seines jüngeren Bruders auf sein Erbrecht: Eine Schauspielerin, noch dazu eine geschiedene, konnte nicht die Frau eines Thronfolgers werden. Allerdings wurde dem Abtrünnigen ein stattlicher jährlicher Unterhalt zugebilligt. Das Wichtigste aber war, dass Iskander schwor, ihrer Bühnenkarriere nicht im Wege zu stehen, und mit einer kinderlosen Ehe einverstanden war. Was konnte sie sich mehr wünschen? Ihre Rivalinnen platzten schier vor Neid. Lida Jaworskaja, verheiratete Fürstin Barjatinskaja, verließ sogar Russland – Fürstinnen gab es in Petersburg wie Sand am Meer, aber nur eine einzige Khans-Gemahlin.

 

Die zweite Ehe scheiterte noch rascher als die erste – gleich nach der Hochzeit und der Hochzeitsnacht. Nicht, weil sich der Gatte aufgrund seiner übermäßigen Erregung nicht angemessen verhalten konnte (das war eher rührend), sondern wegen der Bedingungen, die er ihr am nächsten Morgen offerierte. Der Status der Gemahlin von Khan Altaïrski verpflichte, verkündete Iskander streng. Ich habe versprochen, Ihrer Leidenschaft für das Theater nicht im Wege zu stehen, und werde mein Wort halten, aber Sie müssen Stücke meiden, in denen Sie einen Mann umarmen oder gar küssen müssen.

Elisa lachte, sie glaubte, er scherze. Als sich herausstellte, dass er es vollkommen ernst meinte, versuchte sie lange, ihn zur Vernunft zu brinden. Sie erklärte ihm, dass es im Rollenfach der Jugendlichen Heldin unmöglich ohne Umarmungen und Küsse abging; mehr noch, es käme gerade in Mode, den Akt des fleischlichen Triumphs recht offen zu zeigen.

»Was für ein Triumph?«, fragte der Orientale mit einer Miene, die Elisa deutlich sagte: Erklärungen waren sinnlos.

»Der, den Sie nicht zustande gebracht haben!«, schrie sie, die großartige Shemtschushnikowa in der Rolle der Marfa Possadniza3 imitierend. »Und nun auch nicht mehr zustande bringen werden! Leben Sie wohl, Euer Hoheit, der Honigmond ist beendet! Die Hochzeitsreise fällt aus. Ich lasse mich scheiden!«

Mit Grauen erinnerte sie sich, was danach geschah. Der Spross des uralten Herrschergeschlechts, ein direkter Nachkomme Dshingis Khans, sank so weit herab, dass er handgreiflich wurde und fluchte wie auf dem Kasernenhof, dann stürzte er zum Schreibtisch, um den Revolver aus der Schublade zu nehmen und die Beleidigerin auf der Stelle zu erschießen. Während er mit dem Schlüssel hantierte, floh die erschrockene Elisa natürlich und traf sich fortan mit dem verrückten Dshingis-Nachfahren nur noch im Beisein von Anwälten.

Vor Zeugen benahm sich Iskander zivilisiert. Er erklärte höflich, er würde niemals in eine Scheidung einwilligen, denn das gelte in seiner Familie als furchtbare Sünde, und sein Vater würde ihm den Unterhalt entziehen. Gegen ein Getrenntleben erhob er keine Einwände, erklärte sich sogar bereit, seiner Gattin, wenn diese »den Anstand wahrte«, Alimente zu zahlen (worauf Elisa voller Abscheu verzichtete – Gott sei Dank verdiente sie im Theater genug).

Sein diktatorisches Wesen offenbarte der Khan, sobald sie zu zweit waren. Vermutlich ließ er seine Frau überwachen, denn er tauchte an den überraschendsten Orten auf, stets ohne Vorankündigung. Wie das Teufelchen aus der Flasche.

»Ach, so ist das?«, sagte er, zornig mit den hervorquellenden Augen funkelnd, die sie einmal schön gefunden hatte. »Das Theater ist Ihnen wichtiger als meine Liebe? Wunderbar. Auf der Bühne können Sie sich benehmen wie eine Schlampe. Das ist Ihre Sache. Aber da Sie formal noch immer meine Frau sind, werde ich verhindern, dass Sie meinen Namen besudeln! Denken Sie daran, meine Dame: Liebhaber dürfen Sie nur im Rampenlicht und vor den Augen des Publikums haben. Jeder, den Sie in Ihr Bett lassen, wird sterben. Und danach sterben auch Sie!«

Ehrlich gesagt erschreckte sie das anfangs nicht sehr. Im Gegenteil, es verlieh ihrem Leben Feuer. Bei Liebesszenen schaute sie heimlich in den Saal, und wenn sie auf den vernichtenden Blick ihres verlassenen Gatten stieß, spielte sie mit doppelter Leidenschaft.

Das ging so lange, bis sich der Impresario Furschtatski ernsthaft für sie interessierte. Ein stattlicher Mann mit gutem Geschmack, Besitzer des besten Kiewer Theaters. Er trug ihr ein Engagement in seiner Truppe an, zu unglaublich guten Bedingungen, überhäufte sie mit Blumen und Komplimenten, kitzelte ihr Ohr mit seinem üppigen, wohlriechenden Schnauzbart. Und machte ihr schließlich auch einen Heiratsantrag.

Sie war schon kurz davor, anzunehmen – und zwar das Engagement und den Heiratsantrag. Die ganze Theaterwelt sprach bereits davon, die Neiderinnen ärgerten sich erneut schwarz.

Und urplötzlich, bei einem Festessen, das der Aufsichtsrat der Theatergesellschaft für Furschtatski gab, starb dieser! Elisa selbst hatte an dem Bankett nicht teilgenommen, aber Augenzeugen schilderten ihr sehr anschaulich, wie der Agent krebsrot geworden war, keuchte und mit dem Gesicht in einen Teller Suppe fiel.

Elisa weinte natürlich den ganzen Abend. Sie bedauerte den armen Furschtatski und sagte sich: »Es hat eben nicht sollen sein« und Ähnliches. Doch dann klingelte das Telefon, und eine wohlbekannte Stimme sagte mit kaukasischem Akzent: »Ich habe Sie gewarnt. Diesen Tod haben Sie auf dem Gewissen.«

Selbst da nahm sie Iskander noch nicht ernst, er erschien ihr wie ein operettenhafter Bösewicht, der den Schnauzbart aufstellt und die Augen hervorquellen lässt, aber niemandem Furcht einflößt. In Gedanken nannte sie ihn Dshingis Khan.

Ach, wie grausam bestrafte das Schicksal sie für ihren Leichtsinn!

Drei Monate nach dem Tod des Impresarios, an dessen Natürlichkeit sie keinen Augenblick gezweifelt hatte, interessierte sich Elisa für einen anderen Mann, einen Heldentenor aus dem Mariinski-Theater. Hier spielten Karrieregedanken keine Rolle. Der Sänger war einfach schön (ihre ewige Schwäche für bildschöne Männer!) und besaß eine umwerfende Stimme, deren Klang ihren ganzen Körper süß erschlaffen ließ. Zu der Zeit hatte Elisa bereits ein Engagement bei der »Arche Noah«, führte aber ihre eigenen Programme noch weiter. Eines Tages trat sie zusammen mit einem Tenor (er hieß Astralow) in dem kleinen Zwei-Personen-Einakter »Rotbart« auf. Ein hübsches kleines Stück: Sie deklamierte und tanzte ein wenig, Astralow sang – und war so hinreißend, dass sie anschließend zusammen nach Strelnja4 fuhren, und es geschah, was früher oder später geschehen musste. Warum auch nicht? Sie war eine erwachsene, freie, moderne Frau. Er war ein anziehender Mann, keine Geistesgröße, aber dafür sehr begabt und galant. Am nächsten Morgen verließ Elisa das Hotelzimmer, sie hatte um elf Probe, und ihr Liebhaber blieb. Er widmete sich immer sorgfältig seinem Äußeren und trug stets sein Necessaire bei sich. Es enthielt alles Notwendige für die Maniküre, allerlei Bürstchen, kleine Scheren und ein spiegelblankes Rasiermesser.

Mit diesem Rasiermesser in der Hand wurde er gefunden. Er saß tot im Sessel, das ganze Hemd voller Blut, ebenso der Bart. Die Polizei kam zu dem Schluss, der Tenor habe sich nach der mit einer Geliebten verbrachten Nacht vor dem Spiegel die Kehle durchgeschnitten. Elisa war verschleiert gewesen, die Hoteldiener hatten ihr Gesicht nicht gesehen, es gab also keinen Skandal.

Bei der Beerdigung schluchzte sie (es waren recht viele schluchzende Damen zugegen) und quälte sich mit bitteren Fragen: Was hatte sie nur getan oder gesagt?! Diese Tat sah dem Bonvivant Astralow so gar nicht ähnlich! Plötzlich entdeckte sie in der Menge Dshingis Khan. Er sah sie an, grinste und fuhr sich rasch mit dem Finger über die Kehle.

Erst jetzt sah Elisa klar ….

Mord! Es war Mord! Sogar zwei Morde – zweifellos war Furschtatski vergiftet worden.

Ein, zwei Tage lief sie herum wie im Fieber. Was tun? Was tun? Der Polizei melden? Aber erstens hatte sie keinerlei Beweise. Sie würden es als Phantasien eines überspannten Frauenzimmers abtun. Zweitens hatte Astralow Familie. Und drittens … Drittens hatte sie große Angst.

Dshingis Khan hatte den Verstand verloren, seine Eifersucht war zu einer paranoiden Idee geworden. Überall – auf der Straße, beim Einkaufen, im Theater – spürte sie, dass sie verfolgt wurde. Und das war kein Verfolgungswahn, nein! In ihrem Muff, in ihrer Hutschachtel, sogar in ihrer Puderdose fand Elisa kleine Papierschnipsel. Ohne Worte, ohne Buchstaben, nur mit Zeichnungen: ein Totenschädel, ein Messer, eine Schlinge, ein Sarg … Aus lauter Argwohn entließ sie mehrere Stubenmädchen, weil ihr schien, sie seien bestochen.

Am schlimmsten waren die Nächte. Vor Anspannung und erzwungener Einsamkeit (von Liebhabern konnte keine Rede sein!) hatte Elisa grässliche Träume, in denen sich Sinnlichkeit und grausige Bilder des Todes miteinander vermengten.

Elisa dachte nun häufig an den Tod. Eines Tages würde Dshingis Khans Wahn seinen Höhepunkt erreichen, und dann würde dieser Unmensch sie töten. Das konnte schon sehr bald geschehen.

Warum bat sie trotzdem niemanden um Hilfe?

Aus mehreren Gründen.

Erstens hatte sie, wie gesagt, keinerlei Beweise, und niemand würde ihr glauben.

Zweitens schämte sie sich für ihre unglaubliche Dummheit – wie hatte sie dieses Ungeheuer heiraten können? Geschieht dir Idiotin ganz recht!

Drittens peinigte sie die Reue für die zugrunde gerichteten Menschenleben. Sie war schuld – also musste sie auch dafür büßen.

Überdies – und das war der seltsamste Grund – hatte Elisa die fragile Schönheit der Welt nie so intensiv empfunden. Ein Psychiater, den sie vorsichtig, ohne Namen zu nennen, wegen Dshingis Khan konsultiert hatte, hatte gesagt, Paranoia werde im Herbst stets schlimmer, und ihr Herz hatte sich vor süßer Ausweglosigkeit zusammengekrampft. So fühlte sich wahrscheinlich eine Motte, wenn sie ins Licht flog. Sie weiß, dass sie sterben wird, will aber nicht umkehren …

Ein einziges Mal hatte sie einer momentanen Schwäche nachgegeben und über ihre Angst gesprochen – vor zehn Tagen, mit der herzensguten Olga Knipper-Tschechowa. Da hatte sie gewissermaßen die Beherrschung verloren. Sie hatte nichts Konkretes gesagt, nur geweint und zusammenhanglos gestammelt. Hinterher hatte sie es bereut. Olga mit ihrer deutschen Gründlichkeit hatte sie mit Fragen gelöchert. Hatte angerufen, Briefe geschickt, und nach der Geschichte mit der Schlange war sie ins Hotel geeilt gekommen. Sie hatte rätselhafte Andeutungen gemacht über einen Mann, der in jeder Situation helfen könne, hatte geseufzt und gestöhnt und wieder Fragen gestellt. Aber Elisa war wie versteinert. Sie hatte entschieden: Seinem Schicksal entgeht man nicht, warum noch Fremde mit hineinziehen.

Es gab nur einen Weg, die mitfühlende Seele loszuwerden, einen recht grausamen: sich mit ihr zu zerstreiten. Und Elisa wusste, wie. Sie sagte einige kränkende, unverzeihliche Dinge über Olgas Verhältnis zu ihrem verstorbenen Mann. Olga zuckte zusammen, weinte und wechselte zum »Sie«. Sie sagte: »Gott wird Sie dafür strafen« und ging fort.

Das wird er, dachte Elisa träge, und zwar bald. Sie war an diesem Tag so erstarrt, mehr tot als lebendig, dass sie kein bisschen Reue verspürte. Nur Erleichterung, weil sie nun in Ruhe gelassen wurde. Allein mit ihrem letzten Herbst, dem Irrsinn und den nächtlichen Alpträumen.

 

»Poch, poch, poch! Poch, poch, poch!«, klopfte es erneut ans Fenster, und Elisa rieb sich die Augen, um den schrecklichen Traum zu verscheuchen. Sie saß in keiner Kutsche, und keine Toten pressten sich mit gieriger Miene gegen die Scheibe.

Die Dunkelheit lichtete sich. Schon wurden die Umrisse der Gegenstände sichtbar und die Zeiger der Wanduhr: Kurz nach fünf. Bald würde es hell sein, und die Angst würde sich wie ein Nachttier bis zur nächsten Dämmerung in seiner Höhle verkriechen. Sie wusste, dass sie nun ohne Furcht einschlafen konnte, am Morgen hatte sie keine Alpträume.

Doch erneut vernahm sie das leise »Poch, poch, poch«.

Sie hob den Kopf vom Kissen und begriff, dass sie gar nicht erwacht war. Der Traum ging weiter.

Sie träumte, sie läge in ihrem Hotelzimmer, vorm Morgengrauen, und schaute zum Fenster, und dort erschiene erneut ein totes Gesicht mit zerzaustem rotem Bart – riesengroß und verschwommen. Mein Gott, hab Erbarmen!

Sie kniff sich, rieb sich erneut die zufallenden Augen. Ihr Blick wurde klarer. Das war kein Traum!

Draußen schwankte ein riesiger Pfingstrosenstrauß. Darunter schlüpfte eine Hand im weißen Handschuh hervor und klopfte ans Fenster: »Poch, poch, poch.« Seitlich davon erschien ein Gesicht, aber es war nicht tot, sondern höchst lebendig. Die Lippen unter dem hochgezwirbelten Schnauzbart bewegten sich in lautlosem Flüstern, die Augen waren aufgerissen und versuchten ins Zimmer zu schauen.

Elisa erkannte einen ihrer hartnäckigsten Verehrer – den Leibhusaren Wolodja Limbach. Unter den fanatischen Petersburger Theaterliebhabern gab es viele junge Offiziere. Zu den Verehrern jeder jungen, einigermaßen berühmten Schauspielerin, Sängerin oder Ballerina gehörten diese lärmenden, begeisterten Jünglinge. Sie applaudierten stürmisch, bewarfen ihr Idol mit Blumen, zischten deren Konkurrentin aus, und nach einem Soloabend oder einer Premiere spannten sie Kutschpferde aus und ließen ihre Herzensdame durch die Stadt reiten. Ihre Anbetung war schmeichelhaft und nützlich, aber manche der jungen Männer kannten kein Maß und überschritten dreist die Grenze zwischen Verehrung und Belästigung.

In anderer Gemütsverfassung hätte Elisa womöglich über Limbachs Streich gelacht. Gott allein wusste, wie er auf das Gesims der Beletage gelangt war. Nun aber wurde sie von Zorn erfasst. Der verfluchte junge Windhund! Wie hatte er sie erschreckt!

Sie sprang aus dem Bett und lief zum Fenster. Der Kornett konnte im Dämmerlicht eine nahezu unbekleidete weiße Gestalt ausmachen und presste das Gesicht gierig gegen die Fensterscheibe. Ohne daran zu denken, dass der Junge hinunterfallen und sich den Hals brechen konnte, löste Elisa den Fensterriegel und stieß die nach außen öffnenden Flügel auf.

Der Blumenstrauß flog hinunter, Limbach verlor von dem Stoß das Gleichgewicht, stürzte jedoch nicht ab. Entgegen den Gesetzen der Erdanziehung hing der Offizier in der Luft, schwankend und sich leicht um die eigene Achse drehend.

Die Lösung des Rätsels war einfach: Der Frechling hatte sich mit einem um die Hüfte geschlungenen Seil vom Dach abgeseilt.

»Göttliche!«, rief Limbach abgehackt und keuchend. »Lassen Sie mich ein! Ich möchte nur! Den Saum! Ihres Negligés! Küssen! Voller Andacht!«

Elisas Zorn war plötzlich wie weggeblasen, verdrängt von einem schrecklichen Gedanken. Wenn Dshingis Khan davon erfuhr, würde der dumme Junge sterben!

Sie schaute die Twerskaja hinunter, die zu dieser toten Stunde vollkommen leer war. Aber konnte sie sicher sein, dass der verfluchte Irre sich nicht in einem Torbogen oder hinter einer Straßenlaterne versteckte?

Elisa schloss wortlos das Fenster und zog die Vorhänge zu. Sich auf ein Gespräch einzulassen, den Kornett zu beschwichtigen oder zu beschimpfen würde das Risiko nur erhöhen.

Aber Limbach würde nicht von ihr ablassen. Sie würde nun nicht einmal nachts, in ihrem eigenen Zimmer, Ruhe vor ihm haben. Das Schlimmste war, dass das Fenster direkt auf die Straße hinausging …

Während des Moskauer Gastspiels war die Truppe der »Arche Noah« im »Louvre-Madrid« an der Ecke Leontjewski-Gasse abgestiegen. »Louvre« hieß das elegante Hotel mit der Fassade zur Twerskaja. Hier wohnten der Regisseur, die Erste Schauspielerin und der Erste Schauspieler in Luxusappartements. Der bescheidenere Teil des Hotelkomplexes, die Zimmer des »Madrid«, ging auf die Leontjewski-Gasse hinaus. Dort wohnten die übrigen Schauspieler. Gastierende Truppen stiegen oft in diesem Etablissement ab, das wie geschaffen war für die Theaterhierarchie. Witzbolde unter den Schauspielern hatten den langen Flur, der das glanzvolle Hotel und die anspruchslosen Zimmer miteinander verband, »die schwer passierbaren Pyrenäen« getauft.

Wenn das noch einmal geschieht, muss ich mit jemandem hinter den Pyrenäen tauschen, überlegte Elisa, beruhigte sich ein wenig und lächelte sogar. Natürlich ließen diese Liebestollheiten sie nicht völlig gleichgültig. Er ist eigens aus Petersburg hergeeilt, der kleine Teufel. Bestimmt hinter dem Rücken seiner Vorgesetzten. Dafür würde er bestimmt im Arrest schmoren. Aber das war nicht das Schlimmste, was ihm passieren konnte.

Schlimmes

Nach dem Skandal während der Vorstellung der »Armen Lisa« wurde so viel über das Theater geredet und geschrieben, dass Stern entgegen seinen ursprünglichen Plänen weitere Vorstellungen ansetzte. Die Aufregung um die »Arche« erreichte ein ungeahntes Ausmaß; Spekulanten verkauften die Karten statt für den dreifachen fast für den zehnfachen Preis. An jeder passenden und unpassenden Stelle im Saal wurden zusätzliche Stühle aufgestellt. Bei jedem Auftritt spürte Elisa, wie zweitausend Augen sie gierig musterten – als warteten sie darauf, dass der Diva erneut etwas Unerhörtes zustieße. Doch anders als üblich bemühte sie sich, nicht in den Saal zu schauen. Sie fürchtete, dem irren Blick unter den zusammengewachsenen Brauen zu begegnen.

Jedes der alten Stücke wurde noch einmal gespielt: »Die arme Lisa«, »Drei Schwestern« und »Hamlet«. Sie wurden sehr gut aufgenommen, doch Noah Nojewitsch war unzufrieden. Bei der Kritik nach den Vorstellungen, wenn sie Champagner tranken, Einträge in den »Annalen« machten und einander Schmeicheleien und kleine Bosheiten sagten, beklagte sich der Regisseur, dass »die Glut verglimmt«.

»Tadellos, aber nüchtern«, rief er. »Wie bei Stanislawski! So verlieren wir unseren Vorsprung! Ein Theater ohne Aufsehen, ohne Skandale und Provokationen ist nur ein halbes Theater. Liefert mir einen Skandal! Ich will das Blut pulsieren sehen!«

Vor zwei Tagen kam es dann beim »Hamlet« doch zu einem Skandal, und Opfer war erneut Elisa. Der Effekt war geringer als am 5. September, aber Elisa wusste nicht, was abscheulicher war – der Anblick der Schlange oder Smaragdows widerlicher Streich.

Wenn Elisa jemanden absolut nicht ausstehen konnte, dann war es ihr Partner. Ein aufgeblasener, dümmlicher, kleinlicher, neidischer, selbstverliebter Pfau! Konnte sich nicht damit abfinden, dass sein Bonboncharme sie gleichgültig ließ und dass das Publikum sie lieber mochte. Wäre da nicht das Häufchen hysterischer Dämchen, die mit ihrem Gekreisch das übrige Publikum elektrisierten, hätten alle längst entdeckt, dass der König nackt war! Sein Spiel war erbärmlich, ein einziges Augenrollen. Und dann versuchte er noch, das Vieh, sie richtig zu küssen, auf den Mund. Und ihr seine Zunge zwischen die Lippen zu schieben!

Vorgestern hatte er überhaupt jegliche Grenze überschritten. In der Szene, in der Hamlet versucht, Ophelia den Hof zu machen, spielte Smaragdow den Prinzen von Dänemark als schamlosen Grobian. Presste sie an sich, drückte ihre Brust, und dann kniff er sie zum Entsetzen und zur Begeisterung des Saals frech ins Gesäß, wie ein Offiziersbursche ein Zimmermädchen!

Hinter den Kulissen versetzte Elisa ihm eine Ohrfeige, doch Smaragdow grinste nur wie ein satter Kater. Sie war sicher, dass der Unverschämte bei der Kritik sein Fett abkriegen würde, doch Stern lobte den »innovativen Einfall« und prophezeite, darüber würden am nächsten Tag alle Zeitungen berichten. Das taten sie auch; ein Boulevardblatt erlaubte sich eine durchsichtige Anspielung auf das »besondere Verhältnis« zwischen Frau Altaïrskaja und dem »bezaubernden Herrn Smaragdow« und sprach gar von »afrikanischer Leidenschaftlichkeit, die so unvermittelt auf die Bühne durchgeschlagen« sei.

Wenn das so weiterginge, würde sich Noah Nojewitsch, um das Publikum nicht zu enttäuschen, jedes Mal neue Tricks einfallen lassen müssen – seiner »Theorie der Sensationen« folgend. Vielleicht Krokodile auf die Bühne schicken? Oder die Schauspielerinnen nackt spielen lassen? Die Lissizkaja hatte schon vorgeschlagen, in den »Drei Schwestern« in Unterwäsche auf die Bühne zu kommen – angeblich, um zu unterstreichen, wie schamlos und nachlässig Natalja geworden sei, nachdem sie im Haus der Prosorows Fuß gefasst hatte. Aber wer wollte schon die knochigen Glieder von Xanthippa Petrowna bewundern?

Die Proben zum »Kirschgarten« liefen auf Hochtouren, jeden Vormittag ab elf. Doch das Stück kam irgendwie nicht recht auf Touren. Was war schon Sensationelles am »Kirschgarten«, selbst in einer neuen Interpretation? Noah Nojewitsch schien bereits selbst zu sehen, dass er sich mit dem Stück vergriffen hatte, wollte aber seinen Fehler nicht eingestehen. Schade. Elisa hätte gern etwas Rassiges, Elegantes, Ungewöhnliches gespielt. Die Rolle der tschechowschen siebzehnjährigen Naiven gefiel ihr absolut nicht. Sie war langweilig und eindimensional, da gab es kaum etwas zu spielen. Aber Disziplin war Disziplin.

Um Viertel vor elf stieg sie in den Wagen. Den beiden Ersten Schauspielern stand ein Cabriolet zu, die übrigen bekamen Geld für eine Droschke, aber heute war Elisa Gott sei Dank allein im Wagen. Smaragdow hatte nicht im Hotel übernachtet. (Was häufig geschah.)

Den breitkrempigen Hut mit der Straußenfeder festhaltend, fuhr Elisa die Twerskaja entlang. Sie wurde erkannt – Begrüßungsrufe flogen ihr nach, und der Chauffeur ließ zum Zeichen des Danks die Hupe ertönen. Elisa liebte diese Fahrten, sie halfen ihr, sich vor der Probe mit der nötigen kreativen Energie aufzuladen.

Jeder Schauspieler hat seine eigene Methode, seine eigenen kleinen Tricks, sich auf das Spiel einzustimmen. Die Lissizkaja zum Beispiel zankte sich immer mit irgendwem und gelangte so in die nötige Verfassung. Die Reginina trödelte absichtlich herum, um zu spät zu kommen und vom Regisseur angeschrien zu werden. Die mollige Klubnikina schlug sich auf die Wangen (das hatte Elisa mehrfach gesehen). Rasumowski, das wussten alle, leerte eine Taschenflasche. Und Elisa brauchte eben diese kurze, flotte Fahrt und die Begrüßungsrufe – oder, das war auch nicht schlecht, sie eilte mit fliegendem Schritt zu Fuß die Straße entlang, wobei man sie erkannte und sich nach ihr umdrehte.

Erhitzt, von einem inneren Klingen erfüllt, lief sie die Treppe hinauf, warf ihren Umhang ab, nahm den Hut ab, schaute in den Spiegel (sie war ein wenig blass, aber das stand ihr) und betrat pünktlich um elf den Saal. Alle außer der Reginina und Smaragdow saßen vor der Bühne, in der ersten Reihe. Stern stand oben, eine Uhr in der Hand, und schien jeden Moment zu explodieren. Hinter ihm trat Dewjatkin solidarisch von einem Fuß auf den anderen.

»Ich begreife nicht, wie man so wenig Respekt vor seinen Kollegen, ja, letztendlich vor der Kunst haben kann«, begann die Lissizkaja mit honigtriefender Stimme.

Mefistofow fiel ein: »Ob er auf die echte Arche Noah auch zu spät kommen würden? Dieser Mensch, der für sich den Status des Ersten Schauspielers der Truppe in Anspruch nimmt, hält uns alle für Gesinde. Den Regisseur eingeschlossen. Alle müssen warten, bis er zu frühstücken geruht hat! Und diese ewigen Verspätungen der Reginina! Da versetzt man sich in seine Rolle, bereitet sich vor, stimmt sich auf das Spiel ein, und stattdessen …«

Hier kam wie immer mit den Worten »Ich bin doch nicht zu spät?« die errötete Wassilissa Prokofjewna hereingeeilt. Die Lissizkaja sagte »Ha, ha, ha«, Stern griff sich an die Schläfe, Dewjatkin schüttelte tadelnd den Kopf. Nun hätten sie anfangen können, doch Smaragdow war noch immer nicht da. Das sah ihm gar nicht ähnlich. Egal, wo und mit wem er die Nacht verbracht hatte, zur Probe erschien er stets rechtzeitig, selbst wenn er so betrunken war, dass er sich nur mit Mühe auf den Beinen hielt.

»Geht mal jemand in der Garderobe nachschauen. Wahrscheinlich sieht unser Beau so verquollen aus, dass er es nicht schafft, die Ringe unter den Augen wegzupudern«, schlug Rasumowski vor.

»Gehen Sie doch selber. Hier gibt es keine Diener«, sagte seine Exfrau verächtlich.

Lowtschilin scherzte: »Was heißt hier, keine Diener? Und ich?«

Doch er rührte sich nicht vom Fleck. Am Ende ging natürlich der hilfsbereite Wassja Prostakow.

Wie öde, dachte Elisa und unterdrückte ein Gähnen. Mefistow hat recht: So geht die ganze Einstimmung auf das Spiel zum Teufel.

Sie nahm einen kleinen Spiegel aus ihrer Handtasche und übte die Mimik ihrer Figur: unschuldige Freude, rührende Aufregung, Ergriffenheit, leichtes Erschrecken. Alles mädchenhaft zart, in Pastelltönen.

Stern kanzelte Dewjatkin für irgendetwas ab, Kostja Lowtschilin brachte Serafima zum Lachen, die Lissizkaja stritt kreischend mit der Reginina.

»Herrschaften … Noah Nojewitsch!«

Vor den Kulissen stand der totenblasse Wassja. Seine Stimme zitterte und klang brüchig. Alle drehten sich zu ihm um. Der Lärm verstummte.

»Haben Sie Smaragdow gefunden?«, fragte Stern verärgert.

»Ja …« Prostakows Lippen zitterten.

»Und, wo ist er?«

»In seiner Garderobe … Ich glaube, er … ist tot.«

»Was für ein Unsinn!«

Noah Nojewitsch stürmte hinter die Bühne. Die Übrigen hinterher. Der Spiegel in Elisas Hand bebte. In diesem Augenblick dachte sie sich noch nichts, sie war nur erschüttert. Sie eilte den anderen nach.

Alle waren erschrocken, hilflos und verwirrt. Obwohl auf den ersten Blick zu erkennen war, dass Ippolit tot war (er lag auf dem Boden, auf dem Rücken, einen verdrehten Arm hochgereckt), versuchte jemand, ihn anzuheben, ihn zu beatmen, und ein anderer schrie: »Einen Arzt! Einen Arzt!«

Schließlich rief Noah Nojewitsch: »Sehen Sie denn nicht? Er ist schon steif. Alle beiseite! Dewjatkin, telefonieren Sie mit der Polizei. Sie haben dort auch einen eigenen Arzt … Wie heißt das … Einen medizinischen Sachverständigen.«

Elisa begann natürlich zu weinen. Es tat ihr schrecklich leid, dass Smaragdow, der im Leben so unglaublich schön gewesen war, nun so auf dem Boden lag, das Gesicht verzerrt, ein Hosenbein hochgerutscht, und ihm das ganz gleichgültig war.

Sie standen dicht gedrängt an der Tür und warteten auf die Polizei. Die Reginina sprach mit Gefühl Gebete, die Klubnikina schluchzte, Mefistow und die Lissizkaja erörterten flüsternd, mit wem der Verstorbene die Nacht verbracht haben mochte. Rasumowski seufzte: »Tja, das hat er nun von den Frauen und vom Suff, der unselige Schürzenjäger. Ich habe ihn gewarnt.« Dewjatkin, der die Untätigkeit nicht ertrug, versuchte aufzuräumen – er richtete einen umgekippten Stuhl auf und griff nach dem auf dem Boden liegenden Zinnkelch (eine Hamlet-Requisite). »Wo nehmen wir jetzt einen Lopachin her?«, fragte Noah Nojewitsch in den Raum hinein.

Endlich trafen ein Polizeibeamter und ein Arzt ein, baten alle, hinauszugehen, und schlossen die Tür. Die Untersuchung des Körpers dauerte lange. Die Männer, bis auf Noah Nojewitsch, gingen in die Kantine, auf einen Gedenkschluck für den Verstorbenen. Der erste Reporter, der wer weiß woher von der Tragödie erfahren hatte, tauchte auf, danach ein zweiter und ein dritter. Und Fotografen.

Elisa ging unverzüglich in ihre Garderobe (ebenso wie Smaragdow stand ihr laut Vertrag eine Einzelgarderobe zu). Sie setzte sich vor den Spiegel und überlegte, was sie zur Trauerfeier anziehen sollte. Die Beerdigung würde ja nicht hier stattfinden, sondern in Petersburg – Ippolit hatte eine Frau, die das Theater und alles, was damit zu tun hatte, hasste. Nun würde ihr flatterhafter Gatte endlich zu ihr zurückkehren, und sie würde ihn so begraben, wie sie es für richtig hielt.

Elisa probierte verschiedene Trauermienen aus.

Dann wurde es laut im Flur, Schritte waren zu hören, aufgeregte Stimmen, sogar ein Schrei. Elisa begriff, dass die Polizei fertig war und sie nun hinausgehen musste, zur Presse. Sie stand auf und warf sich die Federboa aus den »Drei Schwestern« um – sie passte in Form und Farbe zur Trauer. Sie verzog kummervoll die Brauen und ließ die Mundwinkel ein wenig herabhängen. Ihre Stirn und ihre Wangen waren von Natur aus blass. Und ihre Augen wurden beim Gedanken an den armen Ippolit umgehend feucht, sie würden auf den Fotos glänzen. Was für ein Kummer, wie entsetzlich, sagte sich Elisa, um sich einzustimmen.

Aber das war noch nicht das Schrecklichste. Erschreckend wurde es erst, als das sommersprossige Gesicht von Soja Durowa zur Tür hereinschaute.

»Stellen Sie sich das vor, Elisa! Der Arzt sagt, Smaragdow hat sich vergiftet! Bestimmt aus unglücklicher Liebe! Nein, wer hätte das von Smaragdow gedacht! Die Reporter sind wie verrückt!«

Und schon rannte sie mit der erschütternden Neuigkeit weiter.

Elisa aber dachte an den Impresario Furschtatski. Und an noch etwas – erst jetzt, in diesem Augenblick.

Als Hamlet-Smaragdow Ophelia ins Gesäß gekniffen hatte und manche im Saal entsetzt reagierten, andere belustigt, hatte Elisa aus den Augenwinkeln bemerkt, wie eine Gestalt im schwarzen Frack abrupt aufsprang und hinausging. Sie war frappiert und überrascht gewesen und hatte nicht genauer hingeschaut, doch nun sah sie dieses Bild deutlich vor sich, wie ein Foto. Elisa besaß eine für eine Schauspielerin äußerst wichtige Fähigkeit: Details im Gedächtnis zu behalten.

Der Mann, der den Saal verließ, hatte quadratische Schultern gehabt, einen humpelnden Gang und eine glänzende Glatze. Es war Dshingis Khan, zweifellos – da war sie sich nun ganz sicher.

Elisa unterdrückte einen Schrei und griff nach einem Stuhl, um nicht zu fallen. Doch sie fiel trotzdem. Ihre Beine gaben nach, als wären sie aus Watte.

 

Die Trauerfeier für Ippolit Smaragdow leitete Noah Nojewitsch persönlich; er behandelte die traurige Veranstaltung wie eine Theaterinszenierung.

Es wurde ein beeindruckendes Schauspiel. Der Sarg wurde, wie es sich gehörte, unter Beifall und dem Geheul eines ganzen Chores untröstlicher Klageweiber – der verwaisten Verehrerinnen des Mimen – aus dem Theater getragen. Der Platz war voller Menschen. Der Zug durchquerte die halbe Stadt, bis zum Nikolaus-Bahnhof, und war über eine Werst5 lang.

Elisa lief direkt hinter dem Sarg, den Kopf gesenkt und ohne nach links und rechts zu schauen. Sie trug einen Schleier, den sie von Zeit zu Zeit lüftete, um sich die Tränen abzuwischen.

Die panische Angst, die von ihr Besitz ergriffen hatte, seit sie die wahre Ursache von Ippolits Tod ahnte, hatte kurzzeitig nachgelassen. Elisa spürte die auf sie gerichteten Blicke und ging ganz in ihrer Rolle auf. Der Verstorbene, in seinem Cyrano-Kostüm (das war seine berühmteste Rolle gewesen), wenn auch ohne die angeklebte Nase, lag in einem offenen Sarg, und es fiel Elisa nicht schwer, sich als Roxana zu fühlen, die ihren vorzeitig verschiedenen Helden betrauerte.

Vor der Abfahrt des Zuges hielt Stern eine großartige Rede, bei der die Frauen in der Menge schluchzten, einige sogar hysterisch.

»Ein großer Schauspieler ist von uns gegangen, ein Mensch, der ein Rätsel war und das Geheimnis seines Todes mit sich genommen hat. Lebe wohl, Freund! Leb wohl, du mein begabtester Schüler! Ach, wie strahlend war dein Leben! Ach, wie düster war dein Tod! Du gehst vom Licht durch die Finsternis in noch heller strahlendes Licht!«

Auch Elisa als Smaragdows Partnerin sollte Abschiedsworte sprechen, doch nach Sterns elegantem Aufritt mochte sie nicht als Dummchen dastehen, darum griff sie sich an die Kehle, als wollte sie einen bitteren Kloß daraus vertreiben. Sie schaffte es nicht, senkte den Kopf und warf wortlos eine weiße Lilie in den Sarg.

Das war nicht übel. Was war das Gute an einem Schleier? Durch ihn hindurch konnte man die Gesichter der anderen betrachten, ohne dass es jemand merkte. Und das tat Elisa. Ach, wie man sie ansah! Mit Tränen in den Augen, hingerissen, bewundernd.

Plötzlich entdeckte sie eine erhobene Hand im weißen Handschuh. Die Hand ballte sich zur Faust, und der Daumen wies nach unten – mit dieser Geste waren besiegte Gladiatoren zum Tode verurteilt worden. Elisa zuckte zusammen, lenkte den Blick vom Handschuh auf das Gesicht, und plötzlich war alles wie in Nebel gehüllt. Das war er, Dshingis Khan! Triumphierend, die Zähne in einem rachsüchtigen Lächeln gebleckt.

Zum zweiten Mal in zwei Tagen verlor Elisa das Bewusstsein. Ihre Nerven waren äußerst schwach geworden.

Auf dem Rückweg vom Bahnhof sagte Noah Nojewitsch, den Motorenlärm überschreiend, tadelnd zu ihr: »Die Szene mit der Lilie war großartig, keine Frage. Aber die Ohnmacht, das war übertrieben. Und außerdem – wer fällt denn so plump, so unelegant? Der Aufprall Ihres Kopfes auf den Asphalt war zehn Schritte weit zu hören! Seit wann sind Sie eine Anhängerin der naturalistischen Schule?«

Sie schwieg, noch immer nicht ganz wieder zu sich gekommen. Mochte Stern doch glauben, was er wollte. Ihr Leben war sowieso zu Ende …

Sie fuhren ins Theater, aber nicht zu einem Leichenschmaus. Das wäre banal gewesen, kleinbürgerlich. Der Regisseur hatte gesagt: »Eines Schauspielers gedenkt man am besten, indem man die Arbeit an seinem letzten Stück fortführt«, und eine außerordentliche Umbesetzungsbesprechung angesetzt. Die Truppe unterstützte seinen Vorschlag eifrig. Seit dem Vortag rätselten alle: Wer würde nun den Erast, den Werschinin, den Hamlet und den Lopachin spielen?

 

Vor den Schauspielern schlug Noah Nojewitsch einen ganz anderen Ton an als auf dem Friedhof.

»Als Schauspieler war er Mittelmaß, aber er ist einen schönen Tod gestorben. Man kann sagen, er hat sich auf dem Altar seines Theaters geopfert«, erklärte er voller Gefühl, um dann sofort recht sachlich fortzufahren; übrigens sah er auch nicht besonders traurig aus. »Dank Ippolit reden und schreiben alle über uns. Deshalb schlage ich einen kühnen Schritt vor. Wir verkünden einen Trauermonat. Wir werden Smaragdows Rollen im Repertoire nicht umbesetzen. Wir nehmen sozusagen im Namen des Gedenkens an einen hervorragenden Schauspieler Verluste in Kauf. Die ›Schwestern‹, ›Lisa‹ und ›Hamlet‹ werden nicht mehr gespielt.«

»Grandios, Lehrer!«, rief Dewjatkin. »Eine edle Geste!«

»Mit Edelmut hat das nichts zu tun. Das Publikum hat unser Repertoire schon gesehen. Ohne Smaradgow und seine hysterischen Verehrerinnen verlieren die Stücke die Hälfte ihrer Strahlkraft. Auf die erhöhten Preise zu verzichten wäre ein Fehler, und leere Plätze im Saal kann ich nicht zulassen. Von nun an, meine Freunde, konzentrieren wir uns ganz auf die Proben zum ›Kirschgarten‹. Bitte seien Sie alle um 11 Uhr zur Stelle. Ohne Verspätungen, Wassilissa Prokofjewna, sonst werde ich Strafen laut Vertrag verhängen.«

»Alles müssen Sie in Geld umrechnen! Sie sind ein Händler im Tempel des Herrn, das sind Sie!«

»Für den Tempel des Herrn, liebe Wassilissa Prokofjewna, kauft niemand Karten«, parierte Stern. »Und ein Diener des Herrn bekommt auch keine dreihundert Rubel im Monat, egal, wie viele Gottesdienste respektive Vorstellungen er gibt.«

Die Reginina wandte sich hochmütig ab und ließ sich nicht zu einer Antwort herab.

»Um das Interesse wachzuhalten und Geld in die Kasse zu bekommen, werden wir mehrere Gedenkabende für Smaragdow veranstalten. Beim ersten werden seine Verehrerinnen den Saal füllen, sie werden eigens aus Petersburg anreisen. Selbstmord ist heutzutage in Mode. Wenn wir Glück haben, legt irgendein Dummchen Hand an sich, um seinem Idol zu folgen. Dann werden wir auch ihr einen Gedenkabend widmen.«

»Das ist doch schrecklich«, flüsterte Prostakow. »Wie kann man solche Berechnungen anstellen!«

»Ein ungeheuerlicher Zynismus!«, pflichtete die wegen der angedrohten Strafe beleidigte Grande Dame ihm bei.

Elisa aber dachte: Stern ist kein Zyniker, für ihn ist das Leben undenkbar ohne das Theater, und das Theater ist undenkbar ohne Effekte. Das Leben ist Kulisse, der Tod ist Kulisse. Er ist genau wie ich: Auch er möchte auf der Bühne sterben, unter dem Beifall und Schluchzen des Publikums.

»Das ist alles wunderbar«, brummte Rasumowski, »aber wer soll nun den Lopachin übernehmen?«

Der Regisseur hatte eine Antwort parat: »Ich werde jemanden von außen suchen. Vielleicht kann ich Ljonja Leonidow zu einer zeitweiligen Zusammenarbeit überreden, aus Solidarität mit unserem Unglück. Die Rolle kennt er, andere Akzente zu setzen ist für einen Schauspieler seines Formats eine Kleinigkeit. Und für die Proben wird einstweilen Dewjatkin einspringen. Sie kennen doch den Text, George?«

Der Assistent nickte eifrig.

»Na ausgezeichnet. Simeonow-Pistschik und den Passanten spiele ich selbst. Und den Bahnhofsvorsteher können wir ganz streichen, er sagt bei Tschechow kein einziges Wort. So, wir fangen gleich an. Bitte schlagen Sie alle Ihren Text auf.«

In diesem Augenblick quietschte die Tür (sie saßen im Künstlerfoyer).

»Wer ist das jetzt noch?«, sagte Noah Nojewitsch gereizt, denn er konnte es nicht ausstehen, wenn während der Probe oder einer Besprechung Fremde auftauchten.

»Ach, Sie sind es, Herr Fandorin!« Das hagere Gesicht des Regisseurs wechselte augenblicklich den Ausdruck und erstrahlte in einem charmanten Lächeln. »Ich hatte schon nicht mehr gehofft …«

Alle drehten sich um.

In der Tür, einen grauen englischen Zylinder in der Hand, stand der Kandidat für den Posten des Dramaturgen.

Die Spannungs-Theorie

»Noah Nojewitsch, man sagte mir am Telefon, S-sie seien hier«, sagte er leicht stotternd. »Ich versichere Ihnen mein Beileid und bitte um Verzeihung, dass ich Sie an diesem t-traurigen Tag belästige, aber …«

»Haben Sie Neuigkeiten für mich?«, fragte der Regisseur lebhaft. »Kommen Sie doch herein, kommen Sie!«

»Ja … Das heißt, nein. Nicht in dieser Hinsicht, aber in anderer, etwas überraschender …«

Der Eingetretene trug eine Ledermappe unterm Arm. Bescheiden verbeugte er sich vor den Anwesenden.

Elisa nickte kühl, wandte sich ab und dachte: Wie ungeschickt er Verlegenheit spielt. Dieses Gefühl dürfte er kaum kennen. Gestern, in einer weit heikleren Situation, hat er nicht verlegen gewirkt.

 

Gestern war Elisa vollkommen außer sich gewesen. Sie schluchzte, bebte, wie von Nervenfieber geschüttelt, und fand keine Ruhe. Und am späten Abend folgte sie einer plötzlichen Anwandlung und eilte ins Theater. Mit einem riesigen Strauß schwarzer Rosen. Sie wollte als Zeichen der Reue und des Gedenkens die Blumen dort niederlegen, wo der Mann gestorben war, den sie so wenig gemocht und den sie, ohne es zu wollen, zugrunde gerichtet hatte.

Die Tür des Bühneneingangs hatte sie selbst geöffnet. Nach Noah Nojewitschs Ansicht sollte das Theater das zweite, wenn nicht das erste Zuhause des Schauspielers sein, darum besaß jedes Mitglied der Truppe einen eigenen Schlüssel. Der Nachtwächter war nicht an seinem Platz, doch das beachtete Elisa nicht weiter. Sie ging hinauf in die Etage, wo die Garderoben lagen, lief den langen, dunklen Flur entlang und atmete den Duft der Rosen ein. Sie bog um die Ecke – und erstarrte.

Smaragdows Tür stand weit offen. Drinnen brannte Licht, und Stimmen drangen heraus.

»Sind Sie sicher, d-dass er hierblieb, als alle anderen gegangen waren?«, fragte jemand. Dieses Stottern kam ihr bekannt vor.

Der Nachtwächter antwortete: »Warum sollte ich lügen? Vorgestern haben sie den ›Hamlet‹ gegeben, ein gefühlvolles Stück. Nach der Vorstelllung haben die Herrschaften getrunken und gelärmt. Nun, das tun sie immer. Dann gingen sie auseinander. Aber Herr Smaragdow blieb hier. Ich schaute herein, weil ich dachte, er hätte wieder einmal das Licht brennen lassen. Aber er sagte zu mir: Geh nur, Antip, sagt er. Ich habe eine Verabredung. Fröhlich ist er gewesen, hat vor sich hin gesungen. Die Bühnenkleider hatte er schon abgelegt, na, diese Hose mit den Beulen, den Hut mit der Feder und den Säbel. Aber die Becher, aus denen sie beim Fest trinken, die hatte er mitgebracht. Sehr schöne Becher, mit Adlern drauf.«

»Ja, ja, das sagten Sie schon. Und, kam jemand zu ihm?«

»Ich will nicht lügen. Das habe ich nicht gesehen.«

Empört blieb Elisa an der Tür stehen. Nein, so etwas! Dabei hatte dieser Erast Iwanowitsch, nein, Erast Petrowitsch mit dem ungewöhnlichen Familiennamen bei ihrer ersten Begegnung einen ganz guten Eindruck auf sie gemacht. Ein gutaussehender Mann im besten Alter, um die fünfundvierzig, eine vorteilhafte Kombination aus frischem Gesicht und edlem Grau. Nur sein Kleidergeschmack war ein wenig … übertrieben elegant, welcher Mann von Verstand trug heutzutage noch eine Perle in der Krawatte? Aber tadellose Manieren. Das verriet den Mann von Welt. Er hätte sie womöglich sogar interessiert, wäre er mit etwas Bedeutenderem befasst gewesen. Aber ein Dramaturg – das war langweilig, das war etwas für einen Baschmatschkin6. Allerdings hatte er sich als »Reisenden« bezeichnet. Vermutlich ein fanatischer Theaterliebhaber, ein reicher Müßiggänger, der begierig darauf war, in die Welt des Theaters einzudringen. Das gab es recht häufig. Im Künstlertheater zum Beispiel spielte ein ehemaliger General unentgeltlich drittklassige Nebenrollen.

»Ich hätte nicht gedacht, dass Sie so neugierig sind«, sagte Elisa verächtlich, als er sie bemerkt hatte.

Seit Ippolit Smaragdows dramatischer Tod bekannt geworden war, befand sich das Theater in einem Zustand regelrechter Belagerung – Reporter, untröstliche Verehrerinnen und Sensationslüsterne wären am liebsten durch die Fenster geklettert. Aber der »Reisende« hatte es offenbar schlauer angestellt: War zu später Stunde erschienen, als sich die Menge zerstreut hatte, und hatte dem Nachtwächter einen Schein zugesteckt.

»Ja, gnädige Frau, hier gibt es sehr vieles, das neugierig macht«, antwortete Fandorin (genau, so hieß er) ebenso kühl und ohne die geringste Verlegenheit.

»Bitte gehen Sie. Fremde dürfen hier nicht herein. Das ist doch wirklich schamlos!«

»Gut, ich gehe. Ich bin eigentlich schon weg.« Er verbeugte sich zum Abschied leicht, ja, lässig, und sagte zu Antip: »Frau Lointaine hat vollkommen recht. Schließen Sie die Tür ab und lassen Sie niemanden mehr hinein. Auf Wiedersehen, Madame.«

Sie entgegnete unwirsch: »Auf Wiedersehen? Sie wollen noch immer Dramaturg bei uns werden?«

»Nein. Aber wir werden uns bald wiedersehen.«

 

Und da war er nun.

»Ich würde Sie gern unter v-vier Augen sprechen«, sagte der grauhaarige Herr Fandorin zum Regisseur, noch immer mit schlecht gespielter Verlegenheit. Ein Mann mit so eiskalten Augen konnte nicht wissen, was Erregung war! »Aber ich kann warten, bis Sie fertig sind …«

»Nein, nein, auf keinen Fall. Wir unterhalten uns sofort, selbstverständlich unter vier Augen.«

Stern nahm den »Reisenden« am Arm und führte ihn hinaus.

»Beschäftigen Sie sich so lange. Ich bin bald zurück. Denken Sie über den neuen Lopachin nach. Entwerfen Sie Ihr jeweiliges psychologisches Verhältnis zu dieser Figur … Bitte kommen Sie mit in mein Büro, Erast, hm, Petrowitsch.«

Doch Sterns »bald« zog sich hin. Über den neuen Lopachin musste Elisa nicht nachdenken: Erstens kam ihre Anja im Stück kaum in Berührung mit dem Bauernsohn, und zweitens würde den Lopachin letztendlich Leonidow oder ein gleichwertiger Schauspieler übernehmen, jedenfalls ganz bestimmt nicht Dewjatkin, auch wenn der sehr nett war.

Der Ärmste ging von einem zum anderen, Smaragdows Mappe an die Brust gepresst, aber niemand wollte sein »psychologisches Verhältnis« zu ihm entwerfen.

Elisa saß in ein Tuch gehüllt da und hörte den Gesprächen zu.

Mefistow äußerte spöttische Vermutungen über das »imposante Grau« des Dramaturgen und erkundigte sich bei Rasumowski als einem »Fachmann für graue Haare«, wie viel Wäscheblau man brauchte, um ein so edles Weiß zu erzielen. Der phlegmatische Rasumowski ging auf die Provokation nicht ein.

»Sie mögen keine schönen Männer, das ist allgemein bekannt. Das ist Unsinn, bei einem Mann kommt es nicht auf das hübsche Gesicht an, sondern auf das Format«, sagte er friedfertig.

»Nun hören Sie nur, wie vernünftig und gütig er ist«, flüsterte die Reginina Elisa zu und setzte sich neben sie. »Ich verstehe gar nicht, wie ich ganze sieben Jahre mit diesem Mann zusammenleben konnte! Er ist berechnend und nachtragend, er vergisst nichts! Tut so, als wäre er ein Engel, und schlägt dann still und heimlich zu, wie eine Schlange beißt!«

Elisa nickte. Sie selbst mochte allzu vernünftige Menschen auch nicht sehr, weder im Leben noch auf der Bühne. In Bezug auf Rasumowski waren sie und die Reginina Verbündete. Elisa wusste als Einzige in der Truppe, warum die Grande Dame den Räsoneur so hasste, was sie ihm nicht verzeihen konnte.

In einem Anfall von Offenheit hatte die Reginina ihr die Geschichte erzählt, die Elisa kalte Schauer über den Rücken jagte. Wie unglaublich rachsüchtig betrogene Männer sein konnten!

Zu der Zeit, als es geschah, spielte die Reginina noch jugendliche Heldinnen. Sie und Rasumowski waren an einem erstklassigen kaiserlichen Theater engagiert. Die Reginina spielte die Marguerite in der »Kameliendame« – in einer äußerst erfolgreichen Bühnenfassung des Romans, in der die Rolle der Kurtisanin von eindringlicher Kraft war. »Ich starb so, dass der ganze Saal heulte und sich schnäuzte«, erinnerte sich die Reginina und war derart ergriffen, dass sie ein Taschentuch brauchte. »Wie Sie wissen, Elisa, galt als die beste Marguerite Gautier damals Sarah Bernhardt. Aber ob Sie es glauben oder nicht, ich war noch besser! Alle Ausländer, die mich sahen, waren ganz aus dem Häuschen. Die Inszenierung wurde in der europäischen Presse erwähnt. Daran können Sie sich nicht erinnern, da waren Sie noch ein kleines Mädchen … Und was meinen Sie? Die Kunde von meiner Marguerite drang bis zu ihr selbst. Ja, ja, zur großen Bernhardt! Sie kam also nach Petersburg. Angeblich auf Gastspiel, aber ich wusste: Sie will mich sehen. Der große Tag kommt also. Man sagt mir: Sie sitzt im Saal! Mein Gott, wie mir da wurde! An jenem Tag waren auch der Zar und die Zarin zugegen, aber die Kenner schauten natürlich nur zu der Loge, in der die Bernhardt saß. Wie würde sie es finden? Ach, wie ich spielte! Ich steigerte mich immer weiter. Später wurde mir erzählt, die große Bernhardt habe dagesessen, mehr tot als lebendig – welk vor Neid. Die Sache ging ihrem Höhepunkt entgegen. Es kommt meine Szene mit Armand, ich liege im Sterben. Den Armand spielte Rasumowski, er war in dieser Rolle auch nicht übel. Alle nannten uns ein umwerfendes Paar. Aber wir hatten uns gerade schrecklich gestritten, just vor der Vorstellung. Ich hatte in einem Augenblick der Schwäche – mir war schwindlig – den Nachstellungen unseres Zweiten Liebhabers Swesditsch (er war ein äußerst liebenswürdiger Mann) nachgegeben, und das hatte irgendwer meinem Mann hinterbracht – nun, Sie wissen ja, wie das bei uns so ist. Gut, ich war schuldig. Also schlag mich, schneide mein Lieblingskleid in Fetzen, betrüge mich aus Rache mit irgendwem! Aber was tat Lew? Ich spreche meinen berühmten Satz: »Mein Geliebter, ich bitte nur um eines: Weinen Sie ein paar Tränen um mich.« Und plötzlich … Sie müssen wissen, Armand hatte sehr schöne buschige, angeklebte Augenbrauen. Und aus denen spritzten zwei Strahlen! Dieser Mistkerl hatte Strohhalme für Clownstränen darunter befestigt! Der Saal bog sich vor Lachen. Auch der Zar und die Zarin lachten. Sara Bernhardt bekam beinahe einen Anfall … Und vor allem – ich liege da in meinem letzten Atemzug, ganz und gar gebrochen, und verstehe überhaupt nichts! Anschließend schrieben die Kritiker zwar von einer revolutionären Auslegung, einem genialen Einfall, der das Tragikomische des Lebens betone und zeige, wie dicht beieinander Drama und Possenspiel liegen. Egal! Er hat mir den wichtigsten Augenblick meines Lebens gestohlen und zunichte gemacht! Seitdem ist dieser Mensch für mich gestorben.«

»Schrecklich, schrecklich«, flüsterte Elisa. »Ja, so etwas kann man nicht verzeihen.«

Etwas Niederträchtigeres konnte ein Schauspieler einem anderen nicht antun. Jemandem, der zu einer solchen Grausamkeit fähig war, war alles zuzutrauen.

Der listige Noah Nojewitsch hatte die geschiedenen Gatten natürlich nicht zufällig in seine Truppe geholt. Laut seiner »Spannungstheorie« mussten sich die Beziehungen in einer Truppe ständig am Rande einer Explosion bewegen. Neid, Eifersucht, ja Hass – starke Gefühle schufen den produktiven energetischen Fundus, der bei geschickter Führung durch den Regisseur und richtiger Besetzung in das Spiel einfloss und ihm eine unverfälschte Lebendigkeit verlieh.

»Wissen Sie, Elisa«, flüsterte die Reginina weiter, »ich bin nicht wie andere, ich beneide Sie nicht um Ihren Erfolg. Ach, früher einmal habe auch ich den Saal dazu gebracht, vor Leidenschaft zu stöhnen. Natürlich hat auch mein jetziges Fach seinen Reiz. Aber ich sage Ihnen ganz ehrlich, in aller Freundschaft, ohne eines ist schwer auszukommen – ohne Verehrer. Solange du jugendliche Heldinnen spielst, sind die aufdringlichen Bewunderer, die dich wie eine Meute Hunde überall verfolgen, eine Last. Aber wie sehr vermisst du später diese, verzeihen Sie den vulgären Ausdruck, diese Hundehochzeiten! Oh, Sie werden noch die Erfahrung machen, dass die Gefühle – und die Sinnlichkeit, ja, die Sinnlichkeit – mit dem Alter nicht nachlassen, sondern stärker werden. Ihr Cherubino7 in Husarenuniform ist ja so süß und frisch! Ich rede von Wolodja Limbach. Sie sollten ihn mir schenken, das würde Ihnen doch nichts ausmachen.«

Obgleich das im Scherz gesagt war, runzelte Elisa die Stirn. Es kursierten also schon Gerüchte? Hatte jemand gesehen, wie der Junge durchs Fenster zu ihr klettern wollte? Schrecklich!

»Er gehört mir nicht. Nehmen Sie ihn nur, samt Säbel, Sporen und der übrigen Ausrüstung! Verzeihen Sie, ich möchte jetzt meine Rolle noch einmal durchgehen. Sonst wird Stern böse, wenn er zurückkommt.«

Sie setzte sich woanders hin, schlug ihre Mappe auf, doch da ließ sich Serafima Klubnikina neben ihr nieder und schwatzte drauflos.

»Kostja Lowtschilin ist abgehauen. Er hat gesagt, ich lauf rasch ins Madrid. Hat angeblich seine Mappe mit dem Text vergessen. Ist bestimmt gelogen. Er lügt ja dauernd, ihm darf man nichts glauben. Wo waren Sie eigentlich heute Morgen? Ich habe geklopft, aber Sie waren nicht in Ihrem Zimmer. Ich wollte mir Ihre Strassagraffe für meinen Hut ausleihen, sie ist entzückend, und Sie tragen sie sowieso nicht. Nun, wo waren Sie?«

Die lebensfrohe, unkomplizierte, durch und durch irdische Serafima, eine Person ohne jegliche Brüche und doppelten Boden, hatte eine wohltuende Wirkung auf Elisas gepeinigte Nerven. Im Theater kam es selten vor, dass zwei Schauspielerinnen nicht miteinander konkurrierten, doch bei ihnen beiden war es so. Die Klubnikina mit dem ihr eigenen gesunden Menschenverstand hatte dafür eine einfache Erklärung. »Sie wirken auf einen Typ Mann anziehend, ich auf einen anderen«, hatte sie einmal gesagt. »Sie sind sehr gut in traurigen Rollen, ich in lustigen. Weder auf der Bühne noch im Leben kommen wir uns ins Gehege. Sie verdienen zwar mehr, aber dafür bin ich jünger.« Serafima war lieb und direkt, ein wenig versessen auf Geld, Kleider und Schmuck, aber das war in ihrem Alter verständlich und verzeihlich.

Elisa legte ihr den Arm um die Schultern.

»Ich war ein Stück spazieren. Ich war früh aufgewacht. Ich konnte nicht mehr schlafen.«

»Spazieren? Allein? Oder mit noch jemandem?«, fragte Serafima lebhaft. Sie liebte Herzensgeheimnisse, Romanzen und Pikanterien aller Art.

»Erzählen Sie ihr nichts, Elisa«, sagte die hinzugetretene Xanthippa Lissizkaja. Diese Person konnte nicht ruhig mit ansehen, wenn Menschen sich freundschaftlich und fröhlich unterhielten. »Ist Ihnen aufgefallen, dass unsere Muntere die ganze Zeit neugierige Fragen stellt und jeden beobachtet? Als Sie vorhin mal weggegangen waren, da hat sie die Nase in Ihr Notizbuch gesteckt.«

»Das ist eine Lüge!«, rief die Klubnikina. Ihre kornblumenblauen Augen füllten sich mit Tränen. »Dass Sie sich nicht schämen! Ich habe mir nur den Bleistift herausgenommen, ganz kurz. Ich musste eine Bemerkung zu meiner Rolle aufschreiben, und mein Stift war abgebrochen!«

»Sie sind es, die dauernd hinter allen herspioniert«, sagte Elisa wütend zu der Intrigantin. »Sie haben nicht einmal gehört, worüber wir reden, aber Sie mischen sich ein.«

Darauf hatte die Lissizkaja nur gewartet. Sie stemmte ihre spitze Faust in die Hüfte, baute sich vor Elisa auf und schrie durchdringend: »Alle mal herhören! Ich rufe Sie alle zu Zeugen auf! Diese Person hat mich soeben als Spionin beschimpft! Ich bin natürlich nur ein kleines Licht, ich spiele keine Hauptrollen, aber auch ich habe meine Rechte! Ich fordere ein Schiedsgericht, wie es in unserem Statut steht! Niemand darf ungestraft einen Schauspieler beleidigen!«

Sie erreichte, was sie wollte. Auf den Lärm hin kamen alle herbei. Doch Elisa musste sich nicht verteidigen, das taten andere für sie. Der herzensgute Wassja Prostakow versuchte, die Streitsüchtige zur Vernunft zu bringen, und auch der zweite treue Paladin, George Dewjatkin, stellte sich schützend vor die Dame.

»In Abwesenheit des Regisseurs übernehme ich seine Vollmachten!«, erklärte er stolz. »Und ich bitte Sie, Frau Lissizkaja, nicht zu schreien. Im Statut gibt es auch einen Punkt zur Verletzung der Probendisziplin!«

Xanthippa schwenkte augenblicklich auf die neue Zielscheibe um; es war ihr im Grunde egal, mit wem sie sich zankte.

»Ach, der Ritter von der traurigen Gestalt! Was machen Sie für ein Theater um den Lopachin-Text wie eine Henne um ihr Ei? Sie kriegen diese Rolle so wenig zu sehen wie Ihre eigenen Ohren! Weil Sie unbegabt sind! Ein Mädchen für alles!«

Dewjatkin wurde vor Ärger ganz bleich, doch auch für ihn fand sich ein Verteidiger. Genauer, eine Verteidigerin. Soja Durowa sprang auf einen Stuhl – vermutlich, um besser gesehen zu werden – und schrie aus Leibeskräften: »Unterstehen Sie sich, so mit ihm zu reden! Hören Sie nicht auf sie, George! Sie werden ein genialer Lopachin!«

Dieser verzweifelte Aufschrei entspannte die Atmosphäre. Lachen ertönte.

»Was für ein Paar, eine Augenweide«, gurrte die Lissizkaja zufrieden. »Sie sollten sich auf seine Schulter setzen, meine Liebe. Und dann ab durch die Straßen und Höfe und fröhlich geträllert ›Avec que la marmotte‹8. Die Einnahmen sind euch sicher.«

Sie demonstrierte so witzig, wie die Durowa auf Dewjatkins Schulter sitzt und er die Drehorgel spielt, dass das Lachen anschwoll.

Der unglückliche Assistent wurde wütend, merkwürdigerweise nicht auf die Provokateurin, sondern auf seine ungebetene Verteidigerin.

»Wer hat Sie gebeten, sich einzumischen?!«, rief er, sich nervös zur Durowa umdrehend. »Jeder meint hier …«

Damit zog er sich zurück.

Elisa seufzte. Das Leben kehrte in seine gewohnten Bahnen zurück. Alles war wie immer. Die »Spannungs-Theorie« wirkte nach wie vor. Nur Smaragdow war nicht mehr da …

Ihr tat die kleine Naive leid, die noch immer auf dem Stuhl verharrte, sich allerdings hingehockt hatte, so dass sie nun aussah wie ein aufgeplusterter Spatz.

»Sie sollten nicht so offen sein, das haben die Männer nicht gern«, sagte Elisa sanft und setzte sich zu Soja. »Sie mögen George?«

»Wir sind füreinander geschaffen, aber er begreift das nicht«, klagte diese leise. »Eigentlich müsste ich Sie hassen. Wenn Sie in der Nähe sind, drehen sich alle Männer Ihnen zu wie die Sonnenblumen der Sonne. Meinen Sie, ich sehe nicht, dass er mein Interesse als unangenehm, ja, beleidigend empfindet? Ich heiße zwar Durowa, aber ich bin nicht dumm.«

»Warum haben Sie sich dann eingemischt?«

»Er ist so stolz und so unglücklich. In ihm steckt so viel ungenutzte Leidenschaft! Ich kann solche Dinge sehr gut sehen. Ich brauche doch nicht viel. Ich bin nicht Sie, ich bin nicht verwöhnt.« Soja bleckte die Zähne in einem Clownslächeln. »Oh, meine Lebensbedürfnisse sind winzig, meine Liebesbedürfnisse sogar mikroskopisch klein. Meiner Größe entsprechend.« Sie schnitt eine Grimasse und schlug sich auf den Kopf. »Mir würde schon ein Lächeln genügen, ein gutes Wort – wenigstens hin und wieder. Ich bin ja keine, die geliebt wird. Ich bin eine, der man gnädigerweise gestattet, zu lieben. Und selbst das nicht immer.«

Sie tat Elisa schrecklich leid – so klein, wie sie war, so schmächtig und so komisch selbst in diesem Augenblick der Offenheit. Obwohl (hier meldete sich Elisas professionelles Gedächtnis) – diese Intonation komischer Verzweiflung hatte sie schon in der Rolle des Gavroche benutzt. Eine Schauspielerin war immer Schauspielerin.

Sie saßen mit gesenktem Kopf nebeneinander und schwiegen, jede dachte an das Ihre.

Und dann, nach halbstündiger Abwesenheit, kam endlich Noah Nojewitsch zurück, und die Wunder begannen.

Zum Teufel mit dem »Kirschgarten«

Elisa hatte Stern lange nicht in so gehobener Stimmung erlebt. In der letzten Zeit hatte er recht gekonnt den Enthusiastischen gespielt, aber eine Schauspielerin ließ sich nicht täuschen: Sie sah genau, dass Noah Nojewitsch unzufrieden war, dass er sich quälte, dass er am Erfolg der neuen Inszenierung zweifelte. Und plötzlich ein derartiger Stimmungsumschwung. Woher?

»Meine Damen und Herren! Meine Freunde!«, rief Stern und ließ einen strahlenden Blick über seine Kollegen schweifen. »Wunder gibt es nur auf der Bühne. Heute ist uns, gleichsam als Ausgleich für unseren Verlust, ein großzügiges Geschenk des Schicksals zuteil geworden. Schauen Sie sich diesen Mann an.« Er wies mit ausholender Geste auf seinen Begleiter. »Was glauben Sie, wer das ist?«

»Der Dramaturg«, sagte jemand erstaunt. »Aber den haben wir doch heute schon gesehen.«

»Herr Fandorin, Erast Petrowitsch«, sagte der inzwischen zurückgekehrte Lowtschilin. Er besaß ein vorzügliches Namensgedächtnis.

»Nein, meine Freunde! Dieser Mann ist unser Retter! Er hat uns ein unerhört erfolgversprechendes Stück gebracht!«

Dewjatkin rief entsetzt: »Und der ›Kirschgarten‹?«

»Zum Teufel mit dem ›Kirschgarten‹! Unter die Axt damit, recht hat Ihr Lopachin! Das Stück von Erast Petrowitsch ist neu, außer mir hat es noch niemand gelesen! Es ist in jeder Hinsicht ideal. Von den Rollen, vom Thema und von der Handlung her!«

»Wo haben Sie es denn aufgetrieben, Herr Dramaturg?«, fragte die Reginina. »Wer ist der Autor?«

»Er selbst ist der Autor!« Stern lachte dröhnend und genoss das allgemeine Erstaunen. »Ich habe Erast Petrowtisch erklärt, was für ein Stück wir brauchen, und anstatt danach zu suchen, hat er sich hingesetzt und es – eins, zwei, drei – selbst geschrieben. In zehn Tagen! Genau so ein Stück, von dem ich geträumt habe! Sogar besser! Das ist phänomenal!«

Nun erhob sich natürlich allgemeine Unruhe. Diejenigen, die mit ihrer Rolle im »Kirschgarten« zufrieden waren, ärgerten sich, die anderen hingegen drückten eifrige Zustimmung aus.

Elisa schwieg und betrachtete den grauhaarigen Herrn mit neuem Interesse.

»Genug gestritten«, sagte sie. »Wann können wir uns mit dem Text vertraut machen?«

»Jetzt gleich«, verkündete Noah Nojewitsch. »Ich habe ihn schon überflogen. Sie wissen ja, ich habe ein fotografisches Gedächtnis, aber dies hier muss man hören. Das Stück ist im Blankvers geschrieben.«

»Ach ja?«, fragte Prostakow verblüfft. »Im Stil Rostands, ja?«

»Ja, aber mit asiatischem Kolorit. Genau zur richtigen Zeit! Das Publikum ist verrückt nach allem Japanischen. Bitte, Erast Petrowitsch, setzen Sie sich auf meinen Platz und lesen Sie vor.«

»Aber ich st-tottere …«

»Das macht nichts. Bitten wir ihn darum, Herrschaften!«

Alle klatschten, und Fandorin zupfte an seinem sauber gestutzten schwarzen Schnurrbart und entnahm einer Mappe einen Stapel Blätter.

»›ZWEI KOMETEN AM STERNENLOSEN HIMMEL‹«, las er vor und erklärte. »Das ist ein Titel in der Tradition des japanischen Theaters. Ich bin ein wenig eklektisch vorgegangen, ich habe manches aus dem Kabuki-Theater genommen, manches aus dem Joruri, dem alten Puppentheater, manches aus …«

»Nun fangen Sie schon an zu lesen, was unverständlich ist, können Sie hinterher erklären«, unterbrach ihn Stern ungeduldig und zwinkerte den Schauspielern zu: Passt auf, gleich werdet ihr staunen.

»Ja. Natürlich. Entschuldigen Sie.« Der Autor räusperte sich. »Es gibt noch einen Untertitel. Theaterstück mit Gesang, Tanz, Kunststücken, Fechtszenen und Michiyuki‹.«

»Bitte, womit?«, fragte Rasumowski. »Das letzte Wort habe ich nicht verstanden.«

»Das sind traditionelle Szenen, b-bei denen die P-personen unterwegs sind«, erläuterte Fandorin. »Für einen Japaner ist der Begriff Weg von großer Bedeutung, darum werden die Michiyuki-Szenen besonders herausgehoben.«

»Schluss jetzt, keine Fragen mehr!«, blaffte Stern. »Lesen Sie vor!«

Alle wurden still. Es gibt für die Lesung eines Theaterstücks keine besseren Zuhörer als Schauspieler, die darin mitspielen sollen.

Alle Gesichter spiegelten die gleiche gespannte Erwartung – jeder versuchte herauszufinden, welche Rolle er bekommen würde. Nach und nach entspannten sich die Zuhörer, weil sie ihre Figur ausgemacht hatten. Allein an dieser Reaktion war zu erkennen, dass das Stück gefiel. Selten fand sich ein Drama, in dem jeder Schauspieler einen effektvollen Auftritt hatte, doch die »Zwei Kometen« waren ein solcher Glücksfall. Die Rollenfächer waren klar verteilt, es gab also keinen Anlass für Streit.

Auch Elisa erkannte ihre Rolle auf Anhieb: die hochrangige Geisha Ijumi. Sehr interessant! Singen konnte sie, tanzen erst recht – Gott sei Dank hatte sie die Ballettschule absolviert. Und was für Kimonos man fertigen konnte, was für Frisuren!

Wie hatte sie, obwohl sie doch eigentlich nicht dumm war und einiges erlebt hatte, so blind sein können! Wie hatte sie Herrn Fandorin so unterschätzen können? Das graue Haar und der schwarze Schnurrbart – das hatte doch Stil! Er sah aus wie Djagilew9 mit seiner berühmten Mähne. Oder wie Stanislawski, bevor der sich den Schnurrbart abrasiert hatte. Nur noch schöner! Und diese angenehme, männliche Stimme! Beim Vorlesen stotterte er überhaupt nicht. Eigentlich schade – dieser kleine Sprachfehler hatte einen gewissen Charme.

Ach, was für ein Stück! Ein wahres Wunderwerk!

Sogar die Lissizkaja war begeistert. Zu Recht, schließlich bekam sie selten eine so reizvolle Rolle.

»Bravo, Erast Petrowitsch!«, rief die Intrigantin nach den Worten: Vorhang. Ende. »Ein neuer Gogol!«

Alle sprangen auf, applaudierten und riefen: »Das wird ein Erfolg!«

»Die Saison gehört uns!«

»Bonsai!«

Kostja Lowtschilin brachte alle mit einem imitierten japanischen Akzent zum Lachen »Nemilijowis und Stanisilawski welden Halakili machen!« und demonstrierte, wie der dicke, bärtige Nemirowitsch und der dünne Stanislawski mit dem Kneifer auf der Nase sich den Bauch aufschlitzen.

Nur Dewjatkin teilte den allgemeinen Jubel nicht.

»Mir ist nicht klar, welche Rollen wir beide bekommen, Lehrer«, sagte er mit einer Mischung aus Hoffnung und Misstrauen.

»Nun, ich bin natürlich der Erzähler. Eine einzigartige Gelegenheit, direkt auf der Bühne das Tempo und das Spiel zu steuern. Der Regisseur als Dirigent, ein großartiger Einfall! Und Sie, lieber George, bekommen drei Rollen: Den Ersten Mörder, den Zweiten Mörder und den Unsichtbaren.«

Der Assistent schaute in die Notizen, die er sich während der Lesung gemacht hatte.

»Aber erlauben Sie! Zwei Rollen sind ohne Text, und die dritte hat zwar Text, aber die Figur ist nicht zu sehen!«

»Natürlich nicht. Das ist ja auch der Unsichtbare. Aber diese Ausdruckskraft! Außerdem ist der Unsichtbare Kern und Motor der Handlung. Und als gedungener Mörder können Sie Ihre glänzenden Fähigkeiten im Säbelkampf demonstrieren. Sie haben mir doch erzählt, dass Sie an der Militärschule der Erste im Fechten waren.«

Dewjatkin, geschmeichelt von den Komplimenten, nickte, wenn auch unsicher.

»Die japanische Fechtkunst unterscheidet sich g-grundlegend von der w-westlichen«, bemerkte Fandorin, erneut stotternd. »Da wird ein gewisses Training vonnöten sein.«

»Ja, was mir ein wenig Sorgen macht, sind die japanischen Realien. All diese Gesten, die Musikinstrumente, der Gesang, die Bewegung und so weiter. Wir müssen einen leibhaftigen Japaner finden und ihn als Berater engagieren. Ich kann mir keinen billigen Abklatsch leisten wie die Mailänder Inszenierung von ›Madame Butterfly‹.« Stern runzelte besorgt die Stirn, doch der Autor des Stückes beruhigte ihn: »Daran habe ich natürlich gedacht. Erstens kenne ich selbst mich ganz gut aus mit der japanischen Materie. Und zweitens habe ich Ihnen einen Japaner mitgebracht. Er wartet im Foyer.«

Alle waren verblüfft, und Elisa dachte: Dieser Mann ist ein Zauberer, fehlen nur der sternenübersäte schwarze Umhang und der Zauberstab. Unglaublich – er bringt einen echten, leibhaftigen Japaner mit!

»Dann holen Sie ihn schnell her!«, rief Noah Nojewitsch. »Sie hat uns wirklich der Gott des Theaters gesandt! Nein, nein, bleiben Sie hier. Herrschaften, rufen Sie den Saaldiener, er soll unseren japanischen Gast hereinbringen. Und ich, Erast Petrowitsch, habe derweil noch eine Frage an Sie: Da Sie so vorausschauend sind, haben Sie sich vielleicht schon Gedanken gemacht, wer die Rolle dieses … wie heißt er gleich …« Er schaute in den Text. »… dieses Shinobi mit dem Spitznamen Unhörbarer spielen soll? Soweit ich es verstanden habe, sind die Shinobi ein Stamm professioneller Mörder, so etwas wie die arabischen Assasinen. In Ihrem Stück soll er jonglieren, auf einem Seil balancieren und geschickt den Klingen ausweichen.«

»Tatsächlich«, sagte Rasumowski. »Wir haben doch keinen Helden mehr. Wäre Smaragdow noch am Leben …«

Die Reginina bemerkte: »Ich kann mir Ippolit nur schwer auf einem Seil balancierend vorstellen.«

»Ja, das ist ein Problem«, bestätigte Dewjatkin. »Ich fürchte, ein unlösbares.«

Der Regisseur widersprach ihm.

»Ach was, unlösbar! Wir könnten einen Zirkusartisten suchen. Zirkusleute sind manchmal gar keine üblen Schauspieler.«

»Vielleicht ist hier nicht unbedingt ein professioneller Schauspieler erforderlich«, äußerte der wunderbare Erast Petrowitsch eine vernünftige Überlegung. »Die Rolle des Unhörbaren ist ohne Text, und sein Gesicht ist bis zum Schluss unter einer Maske verborgen.«

»Sagen Sie mal« – Stern schaute hoffnungsvoll zu Fandorin –, »als Sie in Japan lebten, haben Sie da nicht alle möglichen asiatischen Dinge gelernt? Nein, nein, lehnen Sie nicht ab! Sie mit Ihrer Figur und Ihrem Aussehen wären ein großartiger Partner für Elisa!«

Der schöne Mann zögerte und schaute zum ersten Mal während der ganzen Zeit in Elisas Richtung.

»Ja, ich kann das alles, sogar auf einem Seil balancieren, aber … Ich könnte mich nie entschließen, mich auf die Bühne zu stellen … Nein, nein, verschonen Sie mich.«

»Bitten Sie ihn, Elisa! Flehen Sie ihn an! Fallen Sie auf die Knie!«, rief Noah Nojewitsch aufgeregt. »Schauen Sie sich sein Gesicht an! Welche Anmut! Welche Kraft! Wenn der Unhörbare am Ende die Maske abnimmt und der Scheinwerfer sein Gesicht beleuchtet, steht das Publikum kopf!«

Elisa streckte dem Autor in der Geste der um Gnade flehenden Desdemona die Arme entgegen und schenkte ihm ihr strahlendstes Lächeln – dem hatte noch kein Mann widerstehen können.

Doch das Gespräch wurde unterbrochen, denn der Saaldiener schaute zur Tür herein.

»Noah Nojewitsch, hier ist er. Treten Sie ein, guter Herr.«

Das galt einem recht kleinen, untersetzten Asiaten in einem karierten Anzug. Er kam ein paar Schritte in den Raum und verbeugte sich dann tief, mit geradem Rücken, wobei er seinen runden Strohhut abnahm. Sein vollkommen runder, kahlrasierter Schädel glänzte wie poliert.

»Michail Elastowitsch Fandolin«, stellte er sich laut vor und verbeugte sich noch einmal.

»Er ist Ihr Sohn?!«, fragte Stern den Autor erstaunt.

Der antwortete trocken: »Nicht mein leiblicher. In Wahrheit heißt er Masahiro Shibata.«

»Phänomenal«, wiederholte Noah Nojewitsch sein Lieblingswort und musterte den Asiaten neugierig. »Sagen Sie, Michail Erastowitsch, Sie können nicht zufällig jonglieren?«

»Jongielen?«, fragte der Japaner zurück. »Ah. Eine bisschin kann ichi.«

Er zog aus der Brusttasche eine Uhr, aus der Hosentasche ein Klappmesser, aus der Jacketttasche einen halben Kringel und begann das alles geschickt in die Luft zu werfen.

»Hervorragend!« Das Gesicht des Regisseurs bekam einen gierigen Ausdruck, den Elisa gut kannte. So sah Noah Nojewitsch aus, wenn in seinem Kopf eine besonders kühne kreative Idee reifte. »Sind Sie auch schon mal auf einem Seil gelaufen?« Er faltete die Hände wie zum Gebet. »Wenigstens ein bisschen! Ich habe gelesen, Ihre Nation sei äußerst geschickt in allerlei Leibesübungen.«

»Eine bisschin kann ich«, wiederholte Fandorin junior, überlegte kurz und fügte hinzu: »Wenn nich sehr hoch ise.«

»Phänomenal! Einfach phänomenal!«, freute sich Stern, den Tränen nahe. »Dann wollen wir nicht weiter in Sie dringen, Erast Petrowitsch. Ich verstehe, dass es Ihnen in Ihrem Alter seltsam erscheint, sich auf die Bühne zu stellen. Ich habe eine grandiosere Idee. Herrschaften, in unserem Stück wird ein echter Japaner mitspielen! Dadurch wird es glaubwürdiger und innovativ. Schauen Sie sich dieses Gesicht an! Sehen Sie diesen asiatischen Schnitt, diese animalische Kraft? Eine Buddha-Skulptur!« Unter dem ausgestreckten Arm des Regisseurs richtete sich der Japaner stolz auf, runzelte die Brauen und verengte die ohnehin nicht sehr großen Augen. »Wir werden bis zur Premiere geheimhalten, dass der Darsteller der männlichen Hauptrolle ein Japaner ist. Wenn er dann am Schluss die Maske abnimmt, ist das Aufsehen umso größer! Einen solchen jugendlichen Liebhaber hat es noch auf keiner europäischen Bühne gegeben! Sagen Sie, mein Freund, könnten Sie auch leidenschaftliche Liebe darstellen?«

»Eine bisschin kann ichi«, antwortete Michail-Masahiro ungerührt.

Er schaute sich um, wählte die Klubnikina als Objekt und saugte sich mit plötzlich glühendem Blick an ihr fest. Seine kleinen Nasenflügel blähten sich lüstern, auf seiner Stirn schwoll eine Ader an, und seine Lippen bebten leicht, als unterdrücke er nur mit Mühe ein Stöhnen.

»Mama mia«, stammelte Serafima schwach und wurde puterrot.

»Phänomenal!«, donnerte Stern. »So etwas habe ich noch nie gesehen! Aber ich habe Sie das Wichtigste noch nicht gefragt: Wären Sie bereit, im Stück Ihres Adoptivvaters mitzuspielen? Wir alle bitten Sie sehr herzlich darum. Bitten wir ihn!«

»Bitte, bitte, bitte!«, lärmten die Schauspieler.

»Davon hängt der Erfolg des Stücks und das Schicksal eines neuen Dramatikers ab«, sagte Stern gewichtig. »Sie möchten doch Ihrem Adoptivvater helfen, nicht?«

»Seh gehn.«

Der Japaner sah Fandorin an, der mit versteinerter Miene dastand, als sei ihm das alles höchst unangenehm.

Michail Erastowitsch sagte etwas ziemlich Langes in einem seltsam klingenden Idiom zu Fandorin senior.

»Sore wa tashikani soo da kedo«, erwiderte dieser, widerstrebend einwilligend, wie es Elisa schien.

»Ich bin eineverestanden.« Der Japaner verbeugte sich erst vor Stern, dann vor den anderen.

Das quittierte die Truppe mit Beifall und freudigen Ausrufen.

»Für das Bühnenbild werde ich gleich heute Sudejkin oder Bakst engagieren, je nachdem, wer frei ist«, wechselte Noah Nojewitsch in einen sachlichen Ton. »Die Kostüme sind kein Problem. Einiges haben wir noch von der ›Mikado‹-Inszenierung, einiges gibt es auch im hiesigen Fundus, unsere Vorgänger haben Johnsons ›Geisha‹ aufgeführt. Den Rest nähen wir selbst. Requisiten bekommen wir von der ›Gesellschaft für Theater und Kinematographie‹. Die Bühne wird umgebaut. Dewjatkin! Den Text zum Abschreiben, jede Rolle kriegt ihre Mappe, wie immer. Strengste Geheimhaltung! Bis zur offiziellen Ankündigung darf niemand erfahren, was wir aufführen! An die Presse geben wir lediglich, dass der ›Kirschgarten‹ durch etwas anderes ersetzt wird. Aber teilen Sie unbedingt mit, dass wir ein stärkeres Stück gefunden haben!«

Elisa bemerkte, dass Fandorin bei diesen Worten zusammenzuckte, sogar die Schultern einzog. Vielleicht war Bescheidenheit ihm doch nicht ganz fremd? Wie reizend!

»Die freien Tage sind gestrichen!«, dröhnte Stern. »Wir werden jeden Tag proben!«

Unverzeihliche Schwäche

Er war seltsam, dieser Erast Petrowitsch Fandorin. Davon überzeugte sich Elisa in den folgenden Tagen immer mehr. Dass sie ihm tatsächlich gefiel, stand außer Zweifel. Im Übrigen traf sie selten auf Männer, die sie ohne Begehren ansahen. Abgesehen vielleicht von einem wie Mefistow, der Schönheit aufrichtig hasste. Oder dem besessenen Theatermann Noah Nojewitsch – der sah in einer Schauspielerin nur die Schauspielerin, ein Mittel zur Umsetzung seiner schöpferischen Ideen.

Männer, die sie begehrten, verhielten sich auf zwei Weisen. Entweder sie gingen gleich zum Angriff über. Oder – wenn sie stolz waren – sie taten gleichgültig, versuchten aber dennoch, sie zu beeindrucken.

Anfangs spielte Fandorin den Gleichgültigen. Während der Proben, das heißt, in den Pausen, knüpfte er mit gelangweilter Miene nichtssagende Gespräche an. Etwa über den Kelch von Königin Gertrud oder den Schlüssel zum Requisitenfundus. Elisa antwortete ihm höflich, innerlich lächelnd: Wie komisch er ist, er glaubt, er könne mich mit diesem Unsinn hinters Licht führen. Er will einfach bloß meine Stimme hören, dachte sie. Außerdem fand sie ihn sehr schön. Und rührend. Wie er sie unter seinen dichten Brauen hervor anschaute und errötete! Ihr imponierten Männer, die auch in reifen Jahren noch erröteten.

Sie sah voraus, dass er das Gespräch bald abbrechen würde, als wäre er gelangweilt. Er würde sich mit gleichgültiger Miene abwenden, sie dabei aber insgeheim beobachten. War sie beeindruckt oder nicht?

Doch Fandorin verhielt sich anders. Plötzlich unterbrach er seine Fragen danach, wer aus der Truppe Zugang zur Requisite hatte, errötete noch tiefer, hob entschlossen den Blick und sagte: »Ich will Ihnen nichts vormachen. Ich bin ein schlechter Schauspieler. Und ich denke, Sie kann man ohnehin nicht täuschen. Ich frage das eine, denke aber an etwas g-ganz anderes. Ich glaube, ich bin in Sie verliebt. Nicht nur, weil Sie begabt und schön sind und so weiter. Es gibt ganz besondere Gründe dafür, dass ich den K-Kopf verloren habe. Welche, spielt keine Rolle. Ich weiß sehr gut, dass Sie reichlich gesegnet sind mit V-verehrern und an A-anbetung gewöhnt. Mich in die Menge Ihrer Bewunderer einzureihen ist mir eine Qual. Ich kann nicht mit der Frische eines jungen Husaren konkurrieren, nicht mit dem Reichtum eines Herrn Schustrow, dem Talent eines Noah Nojewitsch, der Schönheit eines jugendlichen Helden und so weiter und so fort. Ich hatte nur eine Chance, Ihr Interesse zu wecken – indem ich ein Stück schrieb. Das war für mich eine größere Heldentat als für den Commodore Piri Reis die Entdeckung des Nordpols. Ohne den ständigen Schwindel, d-der nicht nachlässt, seit wir uns zum ersten Mal begegnet sind, hätte ich kaum ein Drama verfasst, noch dazu in Versen. Verliebtheit schafft in der Tat Wunder. Aber ich muss Sie w-warnen …«

Hier unterbrach sie ihn, beunruhigt wegen seines »aber«.

»Wie schön Sie das sagen!«, sagte Elisa erregt und griff nach seiner heißen Hand. »Nie spricht jemand so einfach und ernst mit mir. Ich kann Ihnen jetzt noch nicht antworten, ich muss mir erst über meine Gefühle klar werden! Schwören Sie, dass Sie immer so offen sein werden. Ich meinerseits verspreche Ihnen dasselbe!«

Sie glaubte, Ton und Text richtig gewählt zu haben: Aufrichtigkeit, gepaart mit Zärtlichkeit, und offene, zugleich keusche Einladung zur weiteren Entwicklung der Beziehung. Doch er verstand sie anders. Er lächelte ironisch, nur mit den Lippen.

»›Lassen Sie uns Freunde bleiben‹? Nun, mit dieser Antwort habe ich gerechnet. Ich gebe Ihnen mein Wort, ich werde Sie nie mehr mit sentimentalen G-Geständnissen behelligen.«

»Aber so habe ich das doch nicht gemeint!«, rief Elisa besorgt. Dieser Stockfisch würde womöglich sein Wort halten, das sähe ihm ganz ähnlich. »Freunde habe ich auch ohne Sie genug. Wassja Prostakow, George Dewjatkin – er ist ein wenig tolpatschig, aber aufopferungsvoll und nobel. Aber das ist alles nicht … Ihnen gegenüber kann ich nicht absolut offen sein, sie alle sind auch Schauspieler, und das ist ein besonderer Menschenschlag …«

Er hörte zu, ohne sie zu unterbrechen, und sah sie so an, dass Elisa ein ekstatisches Beben verspürte, wie in den größten Momenten auf der Bühne. Ihre Augen füllten sich mit Tränen, ihre Brust mit Entzücken.

»Ich bin es müde, die ganze Zeit zu spielen, die ganze Zeit Schauspielerin zu sein! Selbst jetzt, da ich mit Ihnen rede, denke ich dabei: Ein Dialog wie zwischen Jelena Andrejewna und Doktor Astrow im dritten Akt von ›Onkel Wanja‹, nur besser, viel besser, weil fast nichts nach außen dringt. So musst du weitermachen: innen Feuer, außen eine Eiskruste. Mein Gott, ich habe solche Angst, zu werden wie Sarah Bernhardt!«

»V-Verzeihung?« Seine blauen Augen wurden ganz rund.

»Mein ewiger Alptraum! Von der großen Sarah Bernhardt heißt es, sie sei nie natürlich. Das sei bei ihr ein existentielles Prinzip. Bei sich zu Hause läuft sie angeblich im Pierrot-Kostüm herum. Zum Schlafen legt sie sich nicht ins Bett, sondern in einen Sarg, um sich von der Tragik des Daseins durchdringen zu lassen. Alles ist manieriert, alles Effekt. Das ist eine schreckliche Gefahr für eine Schauspielerin – sich selbst zu verlieren, zu einem Schatten zu werden, zur Maske!«

Sie fing an zu weinen, die Hände vors Gesicht geschlagen. Sie weinte bitterlich und echt – mit roter Nase und geschwollenen Augen, trotzdem schaute sie durch die Finger, wie er sie ansah.

Oh, wie er sie ansah! Einen solchen Blick würde sie nicht für die Ovationen eines ganzen Saales hergeben!

 

Lange konnten sie natürlich nicht in diesem Stadium ihrer Beziehung verharren. Freundschaft mit einem gutaussehenden Mann, das gab es vielleicht in romantischen Balladen. Im Leben kam so etwas nicht vor.

Am dritten Tag fuhr Elisa nach der Probe mit zu ihm nach Hause, in das kleine Gartenhaus in der stillen alten Gasse. Der Vorwand für den Besuch war durchaus ehrenhaft: Erast hatte ihr angeboten, sie könne sich für ihre Rolle einen Kimono, Fächer und ein paar andere japanische Kleinigkeiten aussuchen, von denen er zu Hause mehr als genug habe. Nichts Derartiges hatte sie im Sinn, Ehrenwort. Sie war einfach nur neugierig, zu sehen, wie dieser rätselhafte Mann lebte. Eine Wohnung verrät mitunter viel über ihren Bewohner.

Das Haus erzählte in der Tat viel über Erast Petrowitsch – sogar sehr viel, es war gar nicht gleich alles zu entschlüsseln.

Überall herrschte ideale, geradezu leblose Ordnung, wie so oft bei eingefleischten, pedantischen Junggesellen. Nichts wies auf die ständige Anwesenheit einer Frau hin, doch hier und da entdeckte Elisas scharfer Blick Dinge, die nach Reliquien früherer Passionen aussahen: die Miniatur einer Blondine ganz hinten im Bücherschrank; ein eleganter Kamm, wie sie vor zwanzig Jahren in Mode gewesen waren; ein kleiner weißer Handschuh, wie zufällig unterm Spiegel liegengelassen. Nun, er hatte also nicht wie ein Mönch gelebt, das war normal.

Peinliche Pausen kamen gar nicht erst auf. Erstens fiel es ihr in Gegenwart dieses Mannes überhaupt nicht schwer, auch einmal zu schweigen – Erast Petrowitsch war ein Meister der Pause: Er schaute sie einfach an, und schon war ihr nicht langweilig. Und zweitens gab es in seinem Haus so viel Interessantes, nach allem wollte sie fragen, und er erzählte gern, so dass das Gespräch ganz von selbst lief, in jede erdenkliche Richtung,

Elisa fühlte sich vollkommen sicher – auch unter vier Augen, in einem leeren Haus, würde sich ein Gentlemen wie Fandorin nichts Unschickliches erlauben. Nur eines hatte sie nicht berücksichtigt: Kluge Gespräche mit klugen Männern hatten auf sie eine erregende Wirkung.

Wie war das alles geschehen?

Es hatte ganz unschuldig begonnen. Sie hatte die Radierungen betrachtet und nach einer sonderbaren Abbildung gefragt: ein Fuchs im Kimono, mit einer hohen Frauenfrisur.

Das sei ein Kitsune, eine japanische Variante des Werwolfs, erklärte Fandorin. Eine äußerst heimtückische Kreatur. Darauf erwiderte sie, der Kitsune habe große Ähnlichkeit mit Xanthippa Lissizkaja, und erlaubte sich einige verächtliche Bemerkungen über diese wenig angenehme Person.

»Sie sprechen mit solcher Verbitterung über Frau Lissizkaja.« Er schüttelte den Kopf. »Ist sie Ihre Feindin?«

»Sehen Sie das denn nicht? Dieses bösartige, kleinliche Geschöpf hasst mich schlicht und einfach!«

Daraufhin hielt er eine seiner kleinen Reden, wie sie sie von ihm in den letzten drei Tagen schon mehrfach zu hören bekommen hatte, und obgleich sie diese im Stillen ironisch »Predigten« nannte, hatte sie sich daran gewöhnt, ja, sie sogar liebgewonnen. Vielleicht machten sie ja den wahren Reiz der Gespräche mit dem »Reisenden« aus.

»Begehen Sie niemals diesen Fehler«, sagte Fandorin sehr ernst. »Schätzen Sie Ihre Feinde nicht gering, schmähen Sie sie nicht mit beleidigenden Worten, sagen Sie nie, sie seien nichtig. Damit schätzen Sie sich selbst gering. Denn was sind Sie selbst, wenn Ihr Feind so verachtenswert ist? Wenn Sie Achtung vor sich selbst haben, werden Sie niemals jemandem feindlich gesinnt sein, der keine Achtung verdient. Wenn ein Straßenköter Sie anbellt, stellen Sie sich ja auch nicht auf alle viere und b-bellen zurück. Außerdem, wenn Ihr Feind weiß, dass Sie ihn mit Respekt behandeln, dann wird er Ihnen ebenso begegnen. Das heißt nicht V-Versöhnung, aber es hilft, Gemeinheiten zu vermeiden und den Krieg nicht mit Vernichtung zu beenden, sondern mit einem Friedensschluss.«

Er war einfach hinreißend, während er diesen bezaubernden Unsinn redete.

»Sie sind ein echter Intelligenzler«, sagte Elisa lächelnd. »Ich habe Sie zuerst für einen Aristokraten gehalten, aber Sie sind ein klassischer Intelligenzler.«

Sofort hielt Fandorin eine flammende Philippika an die Adresse der Intelligenz – er war heute außergewöhnlich gesprächig. Wahrscheinlich übte ihre Nähe diese Wirkung auf ihn aus. Obwohl auch etwas anderes nicht auszuschließen war (wie Elisa sich hinterher überlegte). Klug und psychologisch geschult, wie Erast Petrowitsch war, hatte er womöglich bemerkt, wie seine »Predigten« auf seine Zuhörerin wirkten, und diese Waffe ungeniert eingesetzt. Ach, sie konnte ihn noch immer nicht einschätzen!

Die Rede, bei der Elisa endgültig dahinschmolz, war folgende: »Ich empfinde das nicht als Kompliment!«, entgegnete Fandorin hitzig. »Ein ›klassischer Intelligenzler‹ ist für Russland eine schädliche, ja v-verderbliche Figur! Eine scheinbar sympathische Schicht, aber sie hat einen verhängnisvollen Fehler, den Tschechow so treffend diagnostiziert und verspottet hat. Der Intelligenzler kann beliebige Unbill ertragen und bei einer Niederlage seinen Edelmut bewahren. Aber er ist vollkommen unfähig, den Kampf gegen einen Flegel und Schurken zu gewinnen, die bei uns so zahlreich und mächtig sind. Solange die Intelligenz nicht lernt, sich f-für ihre Ideale zu schlagen, wird aus Russland nichts Gescheites! Aber mit ›schlagen‹ meine ich nicht einen Kampf nach den Regeln des Flegels und Schurken. Sonst wirst du genauso wie er. Nein, ich rede von einem Kampf nach eigenen Regeln, den Regeln eines n-noblen Menschen! Man glaubt gemeinhin, das Böse sei stärker als das Gute, weil es sich keine Beschränkungen in den Mitteln auferlegt – es stellt ein Bein, schlägt aus dem Hinterhalt zu und unter der Gürtellinie, fällt zu zehnt über einen Einzelnen her. Darum sei das Böse, wenn man es nach den Regeln bekämpft, angeblich nicht zu besiegen. Doch solche Reden zeugen von D-dummheit und, pardon, von Impotenz. Die Intelligenz ist eine denkende Schicht, und darin liegt ihre Stärke. Wenn sie unterliegt, dann deshalb, weil sie ihre wichtigste Waffe, den Intellekt, schlecht einsetzt. Man muss nur seinen Intellekt einsetzen, dann wird klar, dass ein nobler Mensch über ein weit mächtigeres Arsenal und einen weit stärkeren Schutz verfügt als die geschicktesten Manipulatoren im Geheimdienst oder die revolutionären Führer, die altruistische Jünglinge in den Tod schicken. Sie werden fragen, worin das Arsenal und der Schutz des noblen Menschen bestehen, der sich nicht auf niedere Kampfmethoden einlässt …«

Doch Elisa wollte nichts dergleichen fragen. Erast Petrowitschs Erregung und das Timbre seiner Stimme hatten auf sie eine stärkere Wirkung als jedes Aphrodisiakum. Schließlich wehrte sie sich nicht mehr gegen die ihren ganzen Körper erfassende Schwäche und legte ihm von sich aus mit einem leisen Seufzer eine Hand aufs Knie. Worin das Arsenal und der Schutz eines noblen Menschen bestanden, erfuhr Elisa nicht mehr. Fandorin verstummte natürlich mitten im Satz und zog sie an sich.

An das Weitere erinnerte sie sich wie immer in solchen Fällen nur bruchstückhaft und in einzelnen Bildern, wobei eher der Tast- und der Geruchssinn eine Rolle spielten als das Visuelle. Die Liebe hat etwas Magisches. Man wird ein ganz anderes Wesen, macht die unglaublichsten Dinge und schämt sich nicht im Geringsten. Die Zeit ändert ihr Tempo, der Verstand wird barmherzig ausgeschaltet, es erklingt wunderschöne Musik, und du fühlst dich wie eine antike Göttin, die auf einer Wolke schwebt.

Doch dann zuckte ein Blitz auf, und Donner grollte. Ganz buchstäblich – ein Gewitter setzte ein. Elisa hob den Kopf, wandte sich zum Fenster und wunderte sich, warum es so schwarz war. Offensichtlich war es inzwischen dunkel geworden, ohne dass sie es bemerkt hatte. Doch in dem Augenblick, da der Blitz die Dunkelheit erhellte, kehrte Elisas Verstand zurück und mit ihm sein ewiger Begleiter, die Angst, die sie vollkommen vergessen hatte.

Was habe ich angerichtet?! Ich Egoistin! Ich Verbrecherin! Ich werde ihn zugrunde richten, wenn ich es nicht schon getan habe!

Sie stieß den im Halbdunkel silbrig schimmernden Kopf ihres Geliebten von ihrer Schulter, sprang auf, tastete auf dem Fußboden nach ihren Kleidern und zog sich rasch an.

»Was ist los? Was ist passiert?«, fragte er erstaunt. Flammend und mit Tränen in den Augen rief Elisa: »Das darf sich nie, hören Sie, niemals wiederholen!«

Er starrte sie mit offenem Mund an. Doch Elisa rannte bereits aus dem Haus, in den strömenden Regen.

Schrecklich, schrecklich! Ihre schlimmsten Befürchtungen bestätigten sich: Unter dem Hoftor stand eine kompakte schwarze Gestalt. Jemand hatte sich gegenüber vom offenen Fenster versteckt und sie beobachtet …

Mein Gott, rette ihn, rette ihn, betete Elisa und lief mit klappernden Absätzen über das nasse Trottoir. Sie rannte, ohne auf den Weg zu achten.

Das Herz an der Kette

Irgendwann beruhigte sie sich natürlich ein wenig. Wahrscheinlich hatte im Torbogen nur ein zufälliger Passant Schutz vor dem Gewitter gesucht. Dshingis Khan war ein schrecklicher Mensch, aber dennoch nicht der allgegenwärtige Teufel.

Und wenn er es doch gewesen war? Musste sie Erast nicht vor der Gefahr warnen?

Nach einigem Zögern entschied sie sich dagegen. Wenn sie Fandorin davon erzählte, würde er als Ehrenmann seine Geliebte beschützen wollen und sie nicht mehr allein lassen. Und dann würde Iskander auf jeden Fall von ihrem Verhältnis erfahren. Einen erneuten Verlust, zumal einen solchen, würde Elisa nicht überleben.

Sie erlaubte sich ein wenig zu träumen, wie schön zwischen ihnen alles hätte werden können, wäre da nicht ihr böses Karma (dieses knarrende japanische Wort hatte sie aus dem Stück). Ach, was wären sie für ein Paar! Die berühmte Schauspielerin und der nicht mehr junge, aber schöne und ungeheuer begabte Dramatiker. Wie Olga Knipper und Tschechow, nur dass sie sich nicht trennen, sondern lange und glücklich miteinander leben würden, bis ins hohe Alter. Das Alter malte sich Elisa in ihren Träumen nicht weiter aus – zum Kuckuck damit.

Es gab noch einen Grund, warum sie das Leben von Erast nicht aufs Spiel setzen durfte: Die Verantwortung gegenüber der Literatur und dem Theater. Ein Mann, der noch nie zur Feder gegriffen hatte und auf Anhieb ein Meisterwerk schuf, ja, ja, ein Meisterwerk, wurde womöglich ein neuer Shakespeare! Mochte Mefistow auch mit schiefem Mund flüstern, das Stück sei zwar bequem für Sterns Theorie, aber sonst nicht weiter interessant. Er war doch nur wütend, weil seine Rolle, die des Kaufmanns, die unattraktivste war. Ein von der Liebe diktiertes Stück musste einfach etwas Großes sein! Und für eine Frau gab es keine größere Würdigung, kein schmeichelhafteres Kompliment, als die inspirierende Muse eines Künstlers zu werden. Wer würde sich noch an eine Laura erinnern, an das Mädchen Beatrice oder die leichtsinnige Anna Kern10, wären ihnen nicht große Werke gewidmet worden? Dank Elisa Lointaine würde am Himmel der Dramatik ein neuer Stern aufgehen. Konnte sie es da zulassen, dass er ihretwegen wieder erlosch?

Also nahm sie sich zusammen und legte ihr Herz an die Kette. Am nächsten Tag, als Fandorin auf sie zugestürzt kam, um zu erfahren, was los war, verhielt sich Elisa zurückhaltend, ja kalt. Sie tat, als verstünde sie nicht, warum er sie plötzlich duzte. Sie gab ihm zu verstehen, dass sie, was gestern geschehen war, aus ihrem Gedächtnis gestrichen hatte. Es war einfach nicht passiert – und Schluss.

Sie musste nur die ersten zwei Minuten durchhalten. Sie wusste: Er war ein stolzer Mann, er würde nicht weiter insistieren oder sie gar verfolgen. Genau so kam es. Nach zwei Minuten wurde Fandorin totenblass, senkte den Blick und biss sich, mit sich ringend, auf die Lippen. Als er den Blick wieder hob, war es, als hätte er einen dichten Vorhang vor seine Augen gezogen.

Er sagte: »Nun, dann leben Sie wohl. Ich werde Sie nicht mehr belästigen.« Und ging.

Gott allein weiß, wie sie es schaffte, nicht loszuheulen. Doch als Schauspielerin hatte sie gelernt, Gefühlsäußerungen zu zähmen.

Zu den Proben erschien er fortan nicht mehr. Das war eigentlich auch nicht notwendig. Alle Fragen zum Land der aufgehenden Sonne konnte auch der Japaner beantworten, der seine Aufgabe vorbildlich ernst nahm: Er kam stets als Erster, ging als Letzter und gab sich außerordentliche Mühe. Noah Nojewitsch hatte seine helle Freude an ihm.

 

Fandorin loszuwerden war also einfacher gewesen, als Elisa gedacht hatte. Was sie sogar ein wenig ärgerte. Wenn sie um elf ins Theater kam, wartete sie immer, ob er nicht vielleicht doch auftauchte, und stimmte sich innerlich darauf ein, hart zu bleiben. Doch Erast kam nicht, und die Anstrengung war umsonst. Elisa litt. Sie tröstete sich damit, dass alles auch sein Gutes hatte und der Schmerz mit der Zeit nachlassen würde.

Die Arbeit an der Rolle war dabei eine große Hilfe. Da gab es so viel Interessantes! Sie lernte, dass japanische Frauen, besonders Geishas, anders liefen als europäische Frauen, sich anders verbeugten, auf besondere Weise sprachen, sangen und tanzten. Elisa stellte sich vor, sie sei eine lebendige Verkörperung der erlesensten aller Künste, eine selbstlose Dienerin des »Yugen«, des japanischen Ideals der verborgenen Schönheit. Das war nicht so einfach zu verstehen: Was für einen Sinn hatte Schönheit, wenn sie sich vor den Blicken verbarg, sich verhüllte?

Noah Nojewitsch sprühte jeden Tag vor Ideen. Eines Tages kam es ihm in den Sinn, die ganze Inszenierung umzubauen. »Das Stück ist doch fürs Puppentheater geschrieben, also lasst es uns auch so spielen!«, verkündete er. »Alle, die gerade nicht unmittelbar spielen, hüllen sich in einen schwarzen Umhang und sind Puppenspieler. Sie tun, als führten sie die Personen, als zögen sie die Strippen.« Er demonstrierte es mit ruckartigen Bewegungen. »Das bedeutet: Alle Figuren sind Marionetten in den Händen des Karmas, des unbeugsamen Schicksals. Und plötzlich reißt Ihre Puppe, Elisa, sich von den Strippen los und bewegt sich wie ein lebendiger Mensch. Ein großartiger Effekt!«

In den Pausen, wenn sie aus dem magischen Bühnenzustand heraustrat, in dem man weder Angst noch Schmerz empfindet, kroch Elisa förmlich in sich zusammen; die schreckliche Wirklichkeit drückte sie mit ihrer ganzen staubigen Last nieder. Das Gespenst von Dshingis Khan schwebte in den dunklen Tiefen der Kulissen, die unterdrückte Liebe kratzte mit Katzenkrallen an ihrem Herzen, und wenn sie in den Flur hinausging, sah sie die toten Ahornblätter am Fenster kleben – Herbst, vermutlich der letzte in ihrem Leben …

Der einzige Lichtblick dieser unvermeidlichen Arbeitspausen waren für Elisa die Gespräche mit Fandorin junior. Selbstverständlich konnte sie ihr Interesse an Erast Petrowitsch nicht allzu deutlich äußern, sie musste sich zurückhalten, doch hin und wieder konnte sie neben der Erörterung japanischer Details die Rede auch auf Wichtigeres lenken.

»Waren Sie denn einmal verheiratet?«, fragte Elisa, nachdem Michail Erastowitsch bei irgendeiner Gelegenheit erwähnt hatte, dass er keine Frau habe.

»Nein.« Der Japaner lächelte freudig. Er lächelte die ganze Zeit freudig, selbst wenn es dafür keinen Anlass gab.

»Und … Ihr Adoptivvater?«, fuhr sie wie beiläufig fort. Übrigens hatte sie noch immer nicht herausgefunden, unter welchen Umständen Erast zu diesem ungewöhnlichen Stiefsohn gekommen war. Vielleicht durch die Ehe mit einer Japanerin? Das wollte sie später erforschen.

Michail Erastowitsch überlegte eine ganze Weile und antwortete:

»Solange ichi ihn kenne, nichi.«

»Kennen Sie ihn schon lange?«

»Übeh dleißig Jahle«, erklärte er strahlend. An sein ungewöhnliches, aber durchaus verständliches und fast korrektes Russisch hatte sich Elisa rasch gewöhnt.

Sie freute sich: Erast (er war doch um die fünfundvierzig?) war also nie verheiratet gewesen. Aus irgendeinem Grund machte sie das froh.

»Warum hat er denn nie geheiratet?«, blieb sie beim Thema.

Das runde Gesicht des Japaners bekam einen Ausdruck von Wichtigkeit. Er rieb sich die Stoppeln auf dem Kopf (Stern hatte ihm untersagt, sich den Kopf zu rasieren, das sei unromantisch).

»Eh hate keine Flau gefunden, die seineh würdige ise. Das hat er selbeh zu mire gesagte, viele Male.«

Was für eine Überheblichkeit! Elisas Stimme klang ein wenig giftig, als sie fragte: »Ach, hat er denn eifrig gesucht?«

»Eh hat sichi seh bemühte«, bestätigte Michail Erastowitsch. »Viele Flauen wollten mit ihme heilaten. Eh hate plobieht und plobieht, hate michi geflagte: Was meinsu, Masa? Nein, hab ich gesagte, sie isse nich würdige. Und eh hate mih Lecht gegeben. Eh hörte immeh auf mich.«

Elisa nahm das seufzend zur Kenntnis.

»Er hat also viele ausprobiert?«

»Seh viele! Echte Plinzessinnen walen dabei und Levolutionälinnen. Manche walen wie Engele, andele schelimmeh alse Teufele.«

»Waren sie schön?«, fragte sie, alle Vorsicht vergessend. Zu sehr fesselte sie dieses Thema.

Masa (dieser Name passte besser zu ihm als »Michail Erastowitsch) verzog irgendwie seltsam das Gesicht.

»Meine Helle hate eine komische Geschemake.« Dann sagte er, als besinne er sich: »Seh schön.«

Er demonstrierte sogar, wie schön: Mit riesigem Busen, vollen Flanken, breiten Hüften, runden Wangen und kleinen Äuglein.

Fandorin hat ja wirklich seltsame Vorlieben, schloss Elisa. Er mag üppige Frauen, ich bin überhaupt nicht sein Typ.

Sie wurde nachdenklich und traurig, und das Gespräch war beendet. Elisa fragte nicht einmal, warum Masa Erast seinen »Herrn« nannte.

Doch als sie Masa näher kennenlernte, fand sie heraus, dass man nicht alles, was er erzählte, für bare Münze nehmen konnte. Ihr Bühnenpartner schwindelte ganz gern – oder phantasierte sich etwas zusammen.

Als Elisa mit Hilfe komplizierter Manöver das Gespräch wieder einmal auf Erast gebracht hatte und fragte, was er eigentlich so treibe, antwortete Masa kurz angebunden: »Eh lettet.«

»Wen rettet er denn?«, fragte sie erstaunt.

»Weme er gelade begegnet, den lettet eh. Manchemal Lusslande.«

»Was?«

»Lusslande. Die Heimate. Die hat eh schon an die zehn Male gelettete. Und delei, vieh Male die ganze Welte«, verblüffte er sie, wie immer mit seinem strahlenden Lächeln.

So, so, sagte sich Elisa. Nicht auszuschließen, dass die Information über die Prinzessinnen und Revolutionärinnen von ähnlicher Art war.

 

Der September ging zu Ende. Die Stadt färbte sich gelb, roch nach Tränen, Trauer und sterbender Natur. Wie gut das alles zum Zustand ihrer Seele passte! Nachts schlief Elisa kaum. Sie lag da, die Hände unterm Kopf verschränkt. Das blassorangefarbene Rechteck an der Decke, die Projektion des von einer Straßenlaterne erleuchteten Fensters, sah aus wie eine Kinoleinwand, und dort erblickte sie Dshingis Khan und Erast Petrowitsch, die Geisha Ijumi und die japanischen Mörder, blasse Bilder der Vergangenheit und ihre schwarze Zukunft.

In der zweiten Oktobernacht endete eine solche »Kinovorstellung« mit einer Erschütterung.

Wie gewöhnlich rekapitulierte sie im Kopf die Ereignisse des Tages und den Verlauf der heutigen Probe. Sie rechnete nach, wie lange sie Fandorin nicht mehr gesehen hatte (ganze fünfzehn Tage!) und seufzte. Dann lächelte sie, als sie an den erneuten Skandal in der Truppe dachte. Irgendwer hatte sich wieder einen Streich erlaubt und in den »Annalen« die alberne Notiz hinterlassen: Noch sieben Einheiten bis zum Soloabend. Wann genau, war nicht ganz klar, es hatte lange niemand mehr in die »Annalen« geschaut, da ja keine Vorstellungen stattgefunden hatten. Doch dann war Stern ein »phänomenal genialer Aphorismus« eingefallen, er hatte das Buch aufgeschlagen und auf der Seite des 2. Oktober die groben Kopierstiftkrakeln entdeckt. Der Regisseur reagierte hysterisch. Seine Zielscheibe wurde die ehrenwerte Wassilissa Prokofjewna, die kurz zuvor geschwärmt hatte, was für großartige Soloabende sie früher gehabt habe: Silberne Tabletts, todschicke Adressen, in die Tausende gehende Einnahmen. Auf die Idee, dass die Reginina heimlich auf einen Kopierstift spuckte und mit krummen und schiefen Buchstaben lästerliche Notizen ins heilige Buch schrieb, konnte nur Noah Nojewitsch kommen. Wie komisch er über sie hergefallen war! Und wie donnernd sie sich dagegen empört hatte! »Unterstehen Sie sich, mich mit solchen Verdächtigungen zu beleidigen! Ich setze keinen Fuß mehr in diese Räuberhöhle!«

 

Plötzlich erschienen auf der »Leinwand« an der Decke, auf die Elisa ihren zerstreuten Blick gerichtet hatte, zwei riesige schwarze Beine und baumelten hin und her. Sie kreischte auf und setzte sich abrupt auf. Sie kam nicht gleich auf die Idee, zum Fenster zu schauen. Doch als sie es tat, schlug ihre Angst in Wut um.

Die Beine waren keine Schimäre, sondern völlig echt und steckten in Kavalleriestiefeln und Reithosen. Sie kamen langsam tiefer, eine Säbelscheide schlug dagegen; nun wurde eine hochgerutschte Husarenjacke sichtbar und schließlich der Kornett Limbach, der an einem Seil hing. Zwei Wochen, seit dem letzten Vorfall, hatte er sich nicht blicken lassen – bestimmt hatte er im Arrest gesessen. Und nun tauchte er wieder auf, wie vom Himmel gefallen.

Diesmal hatte der junge Tunichtgut sein Eindringen offensichtlich gründlicher vorbereitet. Als er auf dem Fensterbrett stand, zog er einen Schraubenzieher oder ein anderes Werkzeug (so genau konnte Elisa das nicht erkennen) hervor und machte sich am Fensterrahmen zu schaffen. Der geschlossene Riegel quietschte leise und drehte sich.

Das fehlte noch!

Elisa sprang aus dem Bett und wiederholte den Trick vom letzten Mal: Sie stieß beide Fensterflügel auf. Doch diesmal war das Ergebnis ein anderes. Limbach hatte wohl, mit dem Schraubenzieher oder womit auch immer hantierend, das Seil nicht richtig festgehalten oder ganz losgelassen. Jedenfalls schrie er bei dem überraschenden Stoß kläglich auf und flog kopfüber hinunter.

Elisa, ganz starr vor Entsetzen, beugte sich über das Fensterbrett, gefasst darauf, einen leblosen Körper auf dem Trottoir liegen zu sehen (die Beletage lag ziemlich hoch, gute zwei Sashen), doch der Kornett war offenkundig gewandt wie eine Katze. Er war auf allen vieren gelandet, und als er seine Herzensdame am Fenster erblickte, presste er flehend beide Hände an die Brust.

»Mich zu Ihren Füßen zu Tode zu stürzen ist für mich Glück!«, rief er mit heller Stimme.

Elisa musste unwillkürlich lachen und schloss das Fenster.

Trotzdem, so konnte es nicht weitergehen. Sie musste das Zimmer tauschen. Aber mit wem?

Warum nicht mit der Durowa? Die Kleine war immer am schlechtesten untergebracht. Und wenn Limbach bei ihr durchs Fenster kletterte, würde Soja, auch wenn sie so winzig war, sich zu wehren wissen. Wenn sie das denn wollte, dachte Elisa verschmitzt. Und wenn nicht – dann wären zwei Fliegen mit einer Klappe geschlagen: Soja hätte ihr Vergnügen, und der Husar würde von Elisa ablassen.

Elisa lachte auf, als sie sich die Verblüffung des Kornetts vorstellte, wenn er den Tausch entdeckte. Am besten, sie warnte Soja nicht vor. Das wäre viel spannender – eine Szene aus einer Commedia dell’arte. Vom Schrecklichen zum Komischen ist es im Leben nur ein Schritt.

Aber gab es in Sojas Kämmerchen auch einen Spiegel? Nun, sie konnte darum bitten, den Spiegel aus diesem Zimmer dorthin zu bringen.

In einem Raum ohne Spiegel konnte Elisa nicht leben. Wenn sie sich nicht wenigstens alle zwei, drei Minuten anschaute, hatte sie das Gefühl, nicht wirklich zu existieren. Das war eine bei Schauspielerinnen recht häufige Psychose – die Spiegelsucht.

Über die Pyrenäen

Was sich im »Louvre-Madrid« in der nächsten Nacht ereignete, hatte Elisa nur zum Teil selbst beobachtet; um sich ein vollständiges Bild zu machen, war sie deshalb auf die Berichte der Augenzeugen angewiesen.

Hier muss erwähnt werden, dass am späten Abend in den Hotelzimmern der Strom ausfiel. Zu dieser späten Stunde einen Monteur aufzutreiben war unmöglich, so dass sich die dramatischen Ereignisse in völliger Dunkelheit beziehungsweise im flackernden Licht von Petroleumlampen und Kerzen abspielten.

Am besten beginnen wir bei Soja Durowa.

 

»Ich schlafe immer ein wie eine Katze. Kaum berührt mein Kopf das Kissen, bin ich schon weg. Und dann dieses wahrhaft königliche Lager! Federbetten aus Schwanendaunen! Kissen aus Engelsfedern! Zuvor habe ich noch in einem heißen Wannenbad geschwelgt. Jedenfalls, ich schlafe süß und träume. Im Traum bin ich eine Kröte, ich sitze im Sumpf, es ist schön warm und feucht, aber ich bin einsam. Ich schlucke lustlos Mücken und quake. Was lachen Sie da, Elisa? So war es, wirklich! Auf einmal – plopp! – bohrt sich ein Pfeil in den Boden. Und ich denke: Ich bin keine Erdkröte, ich bin die Froschkönigin, und gleich wird ein schöner Prinz dem Pfeil folgen. Ich muss mich nur an dem Pfeil festklammern, dann lacht mir das Glück.

Der Prinz erscheint auch augenblicklich. Er beugt sich herunter, setzt mich auf seine Hand. ›Ach, was bist du schön grün‹, sagt er, ›und so hübsch! Und diese entzückenden kleinen Warzen! Lass mich dich küssen!‹ Und tatsächlich küsst er mich, heiß und leidenschaftlich.

Da wache ich plötzlich auf, und was meinen Sie? Ob Prinz oder nicht, jedenfalls schnauft ein Geck mit Schnurrbart mir ins Gesicht und nässt meine Lippen mit Küssen. Ich schreie los! Er will mir den Mund zuhalten – da hab ich ihn in den Finger gebissen. Ich setze mich auf, will weiter schreien, da sehe ich – den Mann kenne ich. Der Husarenkornett, der Sie immer mit Blumen überhäuft. Das Fenster steht sperrangelweit offen, auf dem Fensterbrett sind Fußspuren. Er schaut mich an, schüttelt den gebissenen Finger und verzieht das Gesicht.

›Wer bist du?‹, krächzt er. ›Wie kommst du hierher, Junge?‹

Ich habe ja kurze Haare, da hat er mich für einen Jungen gehalten. Ich sag zu ihm: ›Und wie kommst du hierher?‹ Er hält mir die Faust unter die Nase. ›Wo ist sie, wo ist meine Elisa? Raus mit der Sprache, kleiner Teufel!‹ Und dann verdreht er mir das Ohr, der Mistkerl. Ich vor Schreck: ›Sie ist ins Madrid gezogen, in Zimmer zehn.‹ Ich weiß auch nicht, warum. Das war das Erste, was mir in den Sinn gekommen ist. Ehrenwort! Warum lachen Sie? Glauben Sie mir nicht? Zu Unrecht. Warum ich keinen Krach gemacht habe, als er weg war? Ich war sehr erschrocken, ich kam gar nicht richtig zu mir. Bei Gott.«

 

Zeugen für den Weg des braven Kornetts durch die dunklen Pyrenäen-Flure vom »Louvre« ins »Madrid« gab es keine, darum spielte die nächste Episode des Dramas bereits unmittelbar in Zimmer zehn. »Wie der Missetäter die Tür öffnen konnte, ohne mich dabei zu wecken, weiß ich nicht. Ich habe einen sehr leichten Schlaf, ich wache vom geringsten Luftzug auf … Das ist eine Lüge, Lew, ich habe noch nie geschnarcht! Und überhaupt, woher wollen Sie wissen, wie ich jetzt schlafe? Gott sei Dank leisten Sie mir dabei keine Gesellschaft mehr. Überhaupt, er soll rausgehen, in seiner Gegenwart rede ich nicht weiter!

Ich höre also in meinem leichten Schlummer jemanden flüstern: ›Meine Königin, meine Kaiserin, du Gebieterin über Himmel und Erde! Ich vergehe vor Leidenschaft, vom Duft deines Parfüms.‹ Ich muss dazu sagen, dass ich vorm Schlafengehen stets ein wenig Fleur-de-Lille auflege. Und dann küsst jemand meinen Hals, meine Wange, presst seinen Mund auf meine Lippen. Natürlich glaubte ich, das sei ein Traum. Und im Traum muss man sich schließlich nicht genieren, nicht wahr? Außerdem, es sind ja keine Männer hier, geben wir es doch offen zu: Wem von uns würde ein solcher Traum nicht gefallen? Nun, ich öffne also dem wunderschönen Traum meine Arme … Hören Sie auf zu kichern, sonst erzähle ich nicht weiter! Das Ganze, das sei gesagt, geschieht in absoluter Finsternis, ich konnte diesen scheußlichen Jungen nicht einmal erkennen … Doch als er frech wurde und sich Freiheiten erlaubte, die ich auch im Traum nicht zulasse, begriff ich schließlich, dass das kein Traum war, sondern ein wahrhaftiger Angriff auf meine Ehre. Ich stieß den Tunichtgut von mir, und er fiel auf den Boden. Und ich begann zu schreien. Doch als dieser widerliche Limbach merkte, dass sein Vorhaben geplatzt war, floh er in den Flur.«

 

Konnte man Sojas Bericht getrost nahezu unumschränkt Glauben schenken (bis auf die zufällige Entsendung des Kornetts in Zimmer zehn), so bedurften die Schilderungen der Reginina gewiss einiger Korrekturen. Sonst wäre es schwer zu erklären, warum sie mit solcher Verspätung das ganze »Madrid« zusammengeschrien hatte und warum sie Limbach plötzlich »scheußlich« und »widerlich« nannte, obgleich sie ihm doch früher freundlich gesinnt gewesen war.

Viel wahrscheinlicher war, dass Limbach selbst, als er im gewaltigen Leib der monumentalen Wassilissa Prokofjewna versank, begriff, dass er am falschen Ort war, sich freistrampelte und die Flucht ergriff, was die Grande Dame mit wütenden Schreien quittierte.

Wie dem auch sei, der nächste Punkt der Route des nächtlichen Einbrechers war eindeutig belegt. Auf die Schreie hin kam aus Zimmer acht Rasumowski mit einer Lampe in der Hand und erblickte eine den Flur entlang fliehende Gestalt mit einem an der Seite baumelnden Säbel.

Als Limbach um die Ecke bog, stieß er auf Xanthippa Petrowna. Auch sie, im Nachthemd und mit Lockenwicklern auf dem Kopf, war aus ihrem Zimmer gekommen.

Hier ihr Bericht:

 

»Meine ewige Hilfsbereitschaft hat mir einen schlechten Dienst erwiesen. Als ich die Schreie hörte, stand ich auf und schaute hinaus in den Flur. Vielleicht brauchte ja jemand Hilfe? Ein junger Mann kam auf mich zugerannt. Ich erkannte in ihm nicht gleich Ihren Verehrer Limbach. Aber er sagte seinen Namen und faltete flehend die Hände vor der Brust.

›Verstecken Sie mich, gnädige Frau! Ich werde verfolgt! Wenn mich die Polizei erwischt, kriege ich mindestens einen Monat Arrest!‹

Sie wissen ja, ich bin stets auf der Seite derer, die von der Polizei verfolgt werden. Ich ließ ihn ein und verriegelte die Tür, ich dumme Gans! Und was meinen Sie? Der Undankbare begann mich zu belästigen! Ich versuchte, ihn zur Vernunft zu bringen, zündete die Lampe an, damit er sah, dass ich dem Alter nach seine Mutter sein könnte. Aber er benahm sich wie ein Verrückter! Er wollte mir das Nachthemd vom Leib reißen, jagte mich durchs ganze Zimmer, und als ich schrie und um Hilfe rief, zückte er seinen Säbel! Ich weiß nicht, wie ich das überlebt habe. Eine andere an meiner Stelle würde den Mistkerl vor Gericht bringen, und dann blühte ihm nicht nur Arrest, dann blühte ihm Zwangsarbeit – wegen versuchter Vergewaltigung und versuchten Mordes!‘

 

Hieran war offenkundig noch weniger wahr als an den Worten von Wassilissa Prokofjewna. Dass Limbach einige Minuten im Zimmer der Lissizkaja verbracht hatte, stimmte zweifellos. Vielleicht war er sogar selbst hineingegangen, in der Hoffnung, dort den Lärm abzuwarten. Doch was die Belästigung anging – das war stark zu bezweifeln. Eher hatte die Lissizkaja selbst Annäherungsversuche unternommen, dummerweise aber die Lampe angezündet, und der arme Kornett war entsetzt vom Aussehen seiner Retterin. Womöglich hatte er nicht den Takt besessen, seinen Abscheu zu verbergen, und das musste Xanthippa Petrowna natürlich gekränkt haben. Wenn sie beleidigt war und vor Wut raste, konnte sie jeden zum Zittern bringen. Elisa konnte sich gut vorstellen, dass der zu Tode erschrockene Wolodja gezwungen war, zum Säbel zu greifen – so wie D’Artagnan auf der Flucht vor einer beleidigten Lady den Degen zückt.

In den Flur war er in der Tat mit blanker Klinge gestürmt. Dort war bereits ein Häufchen vom Lärm erwachter Schauspieler versammelt: Anton Iwanowitsch Mefistow, Kostja Lowtschilin, Serafima Klubnikina, George Dewjatkin. Beim Anblick des bewaffneten Eindringlings verzogen sich alle bis auf den mutigen George in ihre Zimmer.

Inzwischen hatte Limbach durch die vielen Wirren gänzlich den Verstand verloren.

Den Säbel schwingend, stürzte er sich auf den Regieassistenten.

»Wo ist sie? Wo ist Elisa? Wo habt ihr sie versteckt?«

George – ein mutiges Herz, aber kein sonderlich heller Kopf – ging rückwärts zur Tür von Zimmer drei und stellte sich davor.

»Nur über meine Leiche!«

Doch Limbach war das nun auch egal – dann eben über eine Leiche. Er versetzte Dewjatkin einen Hieb mit dem Säbelgriff, so dass dieser zu Boden sank, und stand vor dem Zimmer, in dem zuvor Soja gewohnt hatte.

Alles Weitere bedurfte keiner Rekonstruktion, das hatte Elisa selbst beobachtet und unmittelbar erlebt.

Erschöpft vom ständigen Schlafmangel, hatte sie am Abend zuvor etwas Laudanum genommen und den ganzen Zirkus verschlafen. Geweckt wurde sie erst durch den Krach direkt vor ihrer Tür. Sie zündete eine Kerze an, öffnete – und fand sich Auge in Auge mit dem völlig derangierten, von der Rennerei puterroten Limbach.

Mit Tränen in den Augen stürzte er sich auf sie.

»Ich habe Sie gefunden! Mein Gott, was ich alles durchgemacht habe!«

Noch ganz verschlafen, trat sie beiseite, was der Kornett offensichtlich als Einladung missverstand.

»Hier lauern überall Erotomaninnen!«, klagte er (was Elisas spätere Vermutungen hinsichtlich der Reginina und der Lissizkaja erklärt). »Aber ich liebe Sie! Nur Sie!«

Die Liebeserklärung auf der Türschwelle wurde unterbrochen, als Wassja Prostakow um die Ecke gelaufen kam. Er hatte einen festen Schlaf und war darum als Letzter der »Madrider« aufgewacht.

»Limbach, was tun Sie hier?«, rief er. »Lassen Sie Elisa in Ruhe! Warum liegt George auf dem Boden? Haben Sie ihn geschlagen? Ich rufe Noah Nojewitsch!«

Da glitt der Kornett rasch ins Zimmer und schloss die Tür hinter sich. Nun war Elisa mit ihm allein.

Nicht, dass sie erschrocken gewesen wäre. Sie hatte schon so einige Hitzköpfe erlebt. Manche, besonders Offiziere und Studenten, hatten noch ganz anderes angestellt. Zudem verhielt sich Wolodja recht friedlich. Er sank auf die Knie, warf den Säbel zu Boden, ergriff den Saum ihres Negligés und presste ihn ehrfürchtig an seine Brust.

»Mag ich Ihretwegen sterben … Mag man mich sogar aus dem Regiment verstoßen … Meine alten Eltern werden das nicht überleben, aber ohne Sie kann ich nicht sein«, rief er, stammelnd, aber mit viel Gefühl. »Wenn Sie mich von sich stoßen, schlitze ich mir den Bauch auf, wie es die Japaner im Krieg getan haben!«

Dabei nestelten seine Finger wie aus Versehen an dem dünnen Seidenstoff, der Falten bildete und immer weiter hochrutschte. Der Husar unterbrach sein Klagelied, beugte sich hinunter und küsste Elisas nacktes Knie – und blieb dabei, sich immer weiter nach oben küssend.

Plötzlich überfiel sie Schüttelfrost. Nicht von seinen schamlosen Berührungen, sondern von einem schrecklichen Gedanken, der ihr in den Sinn gekommen war.

Was, wenn das Schicksal ihn mir geschickt hat? Er ist verwegen, er ist verliebt. Wenn ich ihm von meinem Alptraum erzähle, dann fordert er Dshingis Khan zum Duell und tötet ihn. Und ich bin frei!

Doch sogleich schämte sie sich. Aus egoistischen Erwägungen das Leben des Jungen aufs Spiel zu setzen war niederträchtig.

»Hören Sie auf«, sagte sie schwach und legte ihm die Hände auf die Schultern (Limbachs Kopf war noch immer unter ihrem Negligé verborgen). »Stehen Sie auf. Ich muss mit Ihnen reden …«

Sie wusste selbst nicht, wie das Ganze ausgegangen wäre. Ob Sie den Mut oder im Gegenteil den Kleinmut aufgebracht hätte, den Jungen in eine lebensgefährliche Geschichte zu drängen.

Doch es kam zu keiner Aussprache.

Die Tür wurde von einem mächtigen Stoß aus den Angeln geworfen. Draußen standen der Hotelportier, Prostakow und Dewjatkin – mit einer dunkelroten Beule und flammendem Blick. Zwischen sie drängte sich Noah Nojewitsch. Mit einem ärgerlichen Blick erfasste er das unschickliche Bild. Elisa stieß Limbach das Knie gegen die Zähne.

»Kommen Sie da heraus!«

Limbach stand auf, nahm seine Stichwaffe unter den Arm, glitt unter den ausgestreckten Armen des Portiers hindurch und rannte hinaus in den Flur, wobei er brüllte: »Ich liebe Sie! Ich liebe Sie!«

»Lassen Sie uns allein«, befahl Stern. Seine Augen schleuderten Blitze.

»Elisa, ich habe mich in Ihnen getäuscht. Ich hielt Sie für eine Frau von höherem Rang, doch Sie erlauben sich …« Und so weiter, und so weiter.

Sie hörte gar nicht zu, den Blick nach unten gerichtet, auf ihre Schuhspitzen.

Schrecklich? Ja. Gemein? Ja. Aber es ist eher verzeihlich, das Leben eines dummen kleinen Husaren aufs Spiel zu setzen als das eines großen Dramatikers. Selbst wenn das Duell mit dem Tod von Limbach endet, wird Dshingis Khan dennoch aus meinem Leben verschwinden. Er kommt ins Gefängnis oder flieht in sein Khanat oder nach Europa – egal. Ich werde frei sein. Wir werden frei sein! Dieses Glück kann man auch mit einem Verbrechen bezahlen … Oder nicht?