Spezialisten bei der Arbeit
»Kein Zweifel, es war Selbstmord.«
Der Ermittler der Moskauer Kriminalpolizei Sergej Nikiforowitsch Subbotin presste wie gewohnt den Brillenbügel auf sein Nasenbein und lächelte wie entschuldigend. »Diesmal, Erast Petrowitsch, hat sich Ihre Vermutung nicht bestätigt.«
Fandorin traute seinen Ohren nicht.
»Machen Sie Scherze? Der Mann hat sich selbst den Bauch aufgeschlitzt und dann auch noch selber die Tür von außen abgeschlossen und den Schlüssel ans Brett gehängt?«
Subbotin kicherte pflichtschuldigst. Er befeuchtete sich mit einem Taschentuch das schüttere weißliche Haar – es wurde gleich hell, er hatte mehrere Stunden anstrengender Arbeit hinter sich.
»Erast Petrowitsch, ich werde, Ihrer Schule folgend, Punkt für Punkt durchgehen. Sie haben mir mitgeteilt, dass der Kornett Limbach keinen Grund für einen Selbstmord hatte, weil er in der Liebe erfolgreich gewesen sei. Nach Ihrer Kenntnis hat er die, äh, Gunst der berühmten Schauspielerin Altaïrskaja errungen, nicht?«
»Ja«, bestätigte Fandorin in eiskaltem Ton. »Der Kornett hatte k-keinen Grund, Hand an sich zu legen, noch dazu auf so grausame Weise.«
»Sie belieben zu irren«, entgegnete Subbotin noch schuldbewusster und ein wenig verlegen, weil er seinen einstigen Lehrer berichtigen musste. Vor langer Zeit, vor zwanzig Jahren, hatte er unter dem Staatsrat Fandorin seinen Dienst begonnen. »Während Sie den Leichnam in den Sektionssaal begleitet haben, um die genaue Todeszeit zu ermitteln, habe ich hier einige Nachforschungen angestellt. Die Schauspielerin unterhielt keine intime Beziehung mit dem Husaren. Die Gerüchte entbehren jeder Grundlage. Sie kennen meine Gründlichkeit, ich habe das eindeutig ermittelt.
»Keine intime Beziehung?« Erast Petrowitschs Stimme zitterte. »Nein. Mehr noch. Ich habe mit einem Freund Limbachs aus seiner Schwadron telefoniert, und dieser Zeuge sagt aus, dass der Kornett in letzter Zeit außer sich war vor Liebeskummer und mehrfach ausgerufen hat, er würde sich umbringen. Das, wie Sie immer sagen, erstens.«
»Und was ist zweitens?«
Subbotin zückte sein Notizbuch.
»Die Zeugen Prostakow und Dewjatkin sagen aus, sie hätten in der Nacht, als Limbach ins Zimmer von Frau Altaïrskaja eindrang, draußen vor der Tür gehört, wie er drohte, sich auf japanische Manier den Bauch aufzuschlitzen, wenn sie ihn abwiese. Da haben Sie zweitens.« Er blätterte eine Seite weiter. »Limbach hat sich auf bisher nicht geklärte Weise eine Besucherkarte verschafft und ist in die Garderobe der Dame seines Herzens eingedrungen. Ich vermute, er wollte seine Peinigerin bestrafen, wenn sie nach ihrem Triumph mit Blumen beladen von der Vorstellung kommt. Er hoffte nicht mehr auf Gegenseitigkeit. Limbach wollte sich auf grausame japanische Art töten. Wie ein Samurai, der wegen einer Geisha Hirikiri begeht.«
»Harakiri.«
»Ja, sage ich doch. Er schlitzt sich mit einem Messer auf, erleidet furchtbare Qualen, blutet schrecklich, will noch ihren Namen an die Tür schreiben, ›Lisa‹, doch die Kräfte verlassen ihn.«
In Fahrt gekommen, demonstrierte der Kriminalist, wie es gewesen war: Der Kornett hält sich den Bauch, krümmt sich, taucht einen Finger in die Wunde, schreibt etwas an die Tür und fällt zu Boden. Das Fallen sparte sich Subbotin, der Fußboden war eben erst gewischt worden und noch nicht trocken.
»Übrigens, der nicht ausgeschriebene Name, das ist drittens.« Subbotin zeigte auf die Tür, die auf seine Anweisung hin unberührt geblieben war. »Was hat der Experte gesagt? Wann ist der Tod eingetreten?«
»Gegen halb elf, p-plus, minus eine Viertelstunde. Also während des dritten Aktes. Die Agonie dauerte fünf, höchstens zehn Minuten.«
»Na, sehen Sie. Er hat gewartet bis kurz vor Schluss der Vorstellung. Sonst hätte er riskiert, dass nicht Frau Lointaine in die Garderobe kommt, sondern zufällig jemand anders vorbeischaut, und der Effekt wäre verdorben gewesen.«
Fandorin seufzte.
»Was ist mit Ihnen los, Subbotin? Ihre Deduktion und Ihre Rekonstruktion sind keinen Pfifferling wert. Haben Sie etwa die Tür vergessen? Irgendwer muss sie doch abgeschlossen haben?«
»Das war Limbach selbst. Er hatte offenbar Angst, er könnte den Schmerz nicht ertragen und halb ohnmächtig hinauslaufen. Den Schlüssel – genauer, ein Duplikat – habe ich in der Hosentasche des Selbstmörders gefunden – und das ist viertens.«
Auf der Handfläche des Kriminalisten glänzte ein Schlüssel. Fandorin holte eine Lupe heraus. Tatsächlich, das war ein Duplikat, erst kürzlich angefertigt – am Bart waren noch Spuren der Feile zu erkennen. In der Stimme des Kriminalisten lag keinerlei Triumph oder, Gott bewahre, gar Schadenfreude – lediglich ruhiger Stolz auf seine gewissenhafte Arbeit.
»Ich habe das überprüft, Erast Petrowitsch. Die Schlüssel zu den Schauspielergarderoben hängen unbeaufsichtigt am Brett. Die Räume werden gewöhnlich ohnehin nicht abgeschlossen, darum werden die Schlüssel kaum benutzt. Limbach kann bei einem seiner vorigen Besuche seelenruhig einen Abdruck gemacht haben.«
Erneut seufzte Fandorin. Subbotin war kein schlechter Kriminalist, sehr gründlich. Er holte keine Sterne vom Himmel, aber das musste ein Polizeibeamter auch nicht unbedingt. Er könnte es weit bringen. Leider war das Schicksal dem jungen Mann nach Erast Petrowitschs erzwungenem Ruhestand nicht günstig gewesen. In den Zeiten nach Fandorin brauchte ein Polizist für eine erfolgreiche Karriere ganz andere Eigenschaften: Er musste schöne Berichte schreiben können und die Obrigkeit zufriedenstellen. Beides hatte Subbotin bei Staatsrat Fandorin nicht gelernt. Der hatte ihn mehr im Zusammentragen von Beweismitteln und der Vernehmung von Zeugen geschult. Und das war nun das Ergebnis dieser falschen Erziehung: Der junge Mann war inzwischen über vierzig, aber noch immer Titularrat und durfte nur in den uninteressantesten, aussichtslosesten Fällen ermitteln, mit denen man sich keine Sporen verdienen konnte. Ohne Fandorins direkte Bitte hätte Subbotin niemals einen solchen Leckerbissen wie das blutige Drama in einem populären Theater übertragen bekommen. Darüber würden schließlich alle Zeitungen schreiben, er konnte im Nu berühmt werden. Natürlich nur, wenn er sich nicht blamierte.
»Und jetzt hören Sie m-mir zu. Ihre Hypothese zum ›Selbstmord auf Japanisch‹ ist nicht haltbar. Ich versichere Ihnen, niemand außer einem Samurai in alten Zeiten, der sich von Kindesbeinen an auf einen solchen Tod vorbereitet hat, kann allein Harakiri begehen. Höchstens ein tobsüchtiger Irrer in einem akuten Anfall von Wahn. Aber Limbach war nicht verrückt. Das erstens. Zweitens: Haben Sie sich den Schnittwinkel genau angesehen? Nein? Ich bin extra mit in den Sektionssaal g-gefahren, um die Wunde genau zu untersuchen. Der Schnitt wurde von jemandem ausgeführt, der vor Limbach stand. Im Augenblick des Angriffs hat der Kornett gesessen, also in keiner Weise mit einem Überfall gerechnet. Vor dem umgekippten Stuhl war, wenn Sie sich erinnern, eine beachtliche Blutlache. Genau dort ist der Angriff erfolgt. Das drittens. Und nun sehen Sie sich das Messer an. Was genau ist das?«
Subbotin nahm die Waffe in die Hand und drehte sie hin und her.
»Ein gewöhnliches Klappmesser.«
»Genau. Die Lieblingswaffe der Moskauer B-banditen, sie verdrängt mit Erfolg das Finnenmesser aus ihrem Arsenal. Mit einem solchen Messer kann man, ohne auszuholen, zustechen, ganz unbemerkt. Es wird heimlich aus dem Ärmel gezogen und hinterm Rücken aufgeklappt, so dass das Opfer es nicht sieht. Beim Zustechen hält man es in der Faust, den Daumen am Griff. Geben Sie mal her, ich zeige Ihnen, wie das geht.«
Er machte eine rasche Bewegung von hinten – Subbotin krümmte sich vor Überraschung.
»Es hinterlässt eine charakteristische Wunde, klein an der Penetrationsstelle und immer tiefer zum Ende hin. Also genau entgegensetzt zum Muster des Harakiri, bei dem die Klinge zunächst tief eindringt und dann mit einem Ruck schräg herausgerissenen wird. Ich sage noch einmal, einen so langen Schnitt wie den in Limbachs Bauch könnte sich nur ein unglaublich standhafter Samurai, der seine Hand lange trainiert hat, selbst beibringen. Gewöhnlich reichte bei den japanischen Selbstmördern die Willenskraft nur dazu, sich den Dolch in den Bauch zu stechen, und anschließend schlug der Sekundant dem Ärmsten rasch den K-kopf ab.« Fandorin sah seinen einstigen Schüler tadelnd an. »Sagen Sie, Sergej Nikiforowitsch, wie kommt ein Husarenkornett zu einem Banditenmesser?«
»Ich weiß nicht. Er hat es zufällig gekauft. Vielleicht genau zu diesem Zweck, wegen der scharfen Klinge«, antwortete der ins Schwanken geratene, aber noch immer an seiner Hypothese festhaltende Subbotin. »Ich erlaube mir, noch einmal an die Schrift an der Tür zu erinnern.« Er zeigte auf das blutige ›Li‹. »Wenn das nicht die Anfangsbuchstaben des Namens derjenigen sind, wegen der der junge Mann aus dem Leben scheiden wollte, was dann?«
»Ich habe eine Vermutung, aber lassen Sie uns erst einmal den Zeugen ein paar Fragen stellen. Es ist Zeit.«
Im Künstlerfoyer warteten Elisa, der Regisseur und sein Assistent. Erstere waren von Subbotin zum Bleiben aufgefordert worden, Stern und Dewjatkin von Fandorin.
Subbotin schickte einen Polizisten nach ihnen. Doch der brachte nur die Schauspielerin und den Assistenten mit.
»Noah Nojewitsch ist wütend und nach Hause gefahren«, erklärte Dewjatkin. »Das ist ja auch wirklich peinlich, Herrschaften. Einen Mann wie ihn warten zu lassen wie einen kleinen Dieb. Ich kann jede Ihrer Fragen zum Plan, zur Hausordnung, zu den Garderoben und so weiter beantworten. Das fällt in meine Kompetenz.«
»Wie geht es Ihnen?«, fragte Fandorin die Schauspielerin.
Sie war sehr blass, ihre Augen waren geschwollen. Die Geishafrisur war verrutscht, die weiten Kimonoärmel hatten Tuscheflecke – vermutlich hatte sich Elisa damit die Tränen abgewischt. Ihr Gesicht war übrigens frisch gewaschen, ohne Schminke.
»Danke, es geht mir schon besser«, antwortete sie leise. »Serafima war fast die ganze Zeit bei mir. Sie hat mir geholfen, mich in Ordnung zu bringen, ich sah ja aus wie eine Hexe, voller schwarzer Spuren … Serafima ist vor einer halben Stunde gegangen, Herr Masa hat sich erboten, sie zu begleiten.«
»V-verstehe.«
Er ist eifersüchtig wegen Subbotin, vermutete Erast Petrowitsch. Na, zum Teufel mit ihm. Soll er sich mit seiner Klubnikina vergnügen, wir kommen ohne ihn aus.
»Zwei Fragen, gnädige Frau«, sagte er in sachlichem Ton. »Die erste: War das Türschloss schon vorher so?«
Fandorin zeigte auf die Innenseite der Tür. Der Messingbügel war leicht verbogen.
Doch Elisa schien nur die Blutspuren zu sehen. Sie kniff die Augen zusammen und sagte mit schwacher Stimme: »Ich … weiß nicht … Ich erinnere mich nicht …«
»Ich erinnere mich«, erklärte Dewjatkin. »Das Schloss war vollkommen in Ordnung. Aber was steht denn hier?«
»Das ist meine zweite Frage. Frau Lointaine, hat Kornett Limbach Sie jemals ›Lisa‹ genannt?« Fandorin bemühte sich, seine Frage neutral klingen zu lassen.
»Nein. Niemand nennt mich so. Schon lange nicht mehr.«
»Vielleicht in … intimen Momenten?« Die Intonation des Fragenden wurde noch kühler. »Ich bitte Sie, ganz offen zu sein. Das ist sehr wichtig.«
Ihre Wangen röteten sich, ihre Augen funkelten zornig.
»Nein. Und nun leben Sie wohl. Mir geht es nicht gut.«
Sie drehte sich um und ging hinaus. Dewjatkin stürzte ihr nach.
»Wo wollen Sie denn hin im Kimono?«
»Unwichtig.«
»Ich begleite Sie zum Hotel.«
»Das Automobil bringt mich.«
Sie ging.
Was bedeutete ihr »nein« – diese Frage quälte Fandorin. Dass Limbach sie in intimen Momenten nicht Lisa genannt oder dass es keine intimen Momente gegeben hatte? Aber wenn es so war, warum dann die heftige Trauer? Das war mehr als normale Erschütterung angesichts des Todes, das war ein starkes, echtes Gefühl …
»Also«, resümierte er nüchtern. »Wie Sie sehen, hat Kornett Limbach Frau Altaïskaja-Lointaine nie Lisa genannt, es wäre also seltsam, wenn er sie im letzten Augenblick seines Lebens plötzlich anders nennen würde als sonst.«
»Was bedeutet dann das angefangene Wort? Er wollte doch wohl kaum zuletzt noch mit seinem Namen unterschreiben: ›Limbach, hochachtungsvoll‹?«
»Bravo. Früher haben Sie keine Neigung zu Ironie und Sarkasmus gezeigt.« Fandorin lächelte.
»Bei meinem Leben ist man ohne Ironie verloren. In der Tat, Erast Petrowitsch, was ist hier Ihrer Ansicht nach geschehen?«
»Ich denke, es war so. Der Mörder – jemand, den Limbach kannte und der bei ihm keinen Argwohn weckte – schlitzte dem Kornett in einem überraschenden Angriff den Bauch auf, ging oder rannte hinaus in den Flur und schloss die Tür ab oder drückte sie einfach zu. Der tödlich verwundete und stark blutende, aber noch nicht bewusstlose Husar schrie, aber niemand außer dem Täter hörte ihn. Der Kornett versuchte, aus der Garderobe zu gelangen, griff nach der Tür, verbog sogar den Knauf, aber er schaffte es nicht. Da versuchte er den Namen des Mörders oder ein Wort, das ihn entlarvte, an die Tür zu schreiben, doch die Kräfte verließen den Sterbenden. Als Stöhnen und Schreie verstummt waren, ging der Täter zurück in die Garderobe und steckte dem Toten den Nachschlüssel in die Tasche. Mit dem anderen Schlüssel, den er vom Brett genommen hatte, schloss er die Tür von außen wieder ab. Die Polizei sollte denken, der Selbstmörder habe sich selbst eingeschlossen. Erinnern Sie sich an die Aussagen von Frau Lointaine und Herrn Schustrow? Als sie herkamen und die Tür verschlossen fanden, wunderte sich die Schauspielerin, sah aber den Schlüssel an seinem üblichen Platz am Brett hängen. Dass der Täter, als er nach Limbachs Tod den Raum betrat, die Schrift an der Tür nicht bemerkte, ist nicht weiter verwunderlich – zwischen den vielen Blutflecken fällt sie nicht sehr ins Auge. Auch ich habe sie nicht gleich entdeckt.«
»Wie glaubwürdig Sie das alles schildern«, sagte der einfältige Dewjatkin beeindruckt. »Wie ein altgedienter Detektiv!«
Der Kriminalist warf einen spöttischen Blick zu Fandorin, sparte sich aber weitere Ironie.
»Sie haben mich überzeugt«, gestand er. »Ich nehme an, Sie haben bereits eine Hypothese?«
»Mehrere. Hier die erste: Limbach hatte ein seltsames, verworrenes Verhältnis zu einem Mann, der, soweit ich weiß, das Oberhaupt der Kartenschwarzhändler ist. Ein ziemlich krimineller Typ. Ein sehr großes, unangenehmes Subjekt mit lehmfarbenem Gesicht. Er trägt amerikanische Anzüge und pfeift die ganze Zeit vor sich hin …«
»Sein Spitzname ist ›Mr. Swist‹1, bestätigte Subbotin. »Eine bekannte Figur. Die rechte Hand von Herrn Zarkow, Spitzname ›Zar‹, dem Oberhaupt eines ganzen Imperiums von Spekulanten, äußerst einflussreich. Zarkow ist gut Freund mit der gesamten Obrigkeit der Stadt, hat in jedem Theater eine eigene Loge.«
»Ich weiß, von wem Sie sprechen. Nach Herrn Z-zarkow hätte ich als Nächstes gefragt. Ich hatte bereits das Vergnügen, mit ihm in seiner Loge zu sitzen. Auch Mr. Swist tauchte dort auf. Diesen Zar also meinte der Husar …« Die Hypothese wurde immer überzeugender. »Sie müssen wissen, vor einigen Tagen wurde ich Zeuge einer Auseinandersetzung zwischen Mr. Swist und Limbach. Der Schwarzhändler verlangte von dem Kornett die Begleichung einer Schuld, und der junge Mann sagte: ›Gehen Sie zum Teufel mit Ihrem Zaren.‹ Ich wunderte mich noch darüber … Ich weiß nicht genau, worüber sich die beiden stritten, aber es würde mich nicht wundern, wenn eine kriminelle Persönlichkeit wie Mr. Swist ein Klappmesser in der Tasche hätte. Und vor Mord macht ein solcher Mann auch nicht halt, d-das sieht man ihm an den Augen an. Das wäre Hypothese Nummer eins. Kommen wir nun zu Nummer zwei …«
Doch dazu kam es nicht.
»Ich kenne diesen Swist!«, mischte sich Dewjatkin ein, der begierig zugehört hatte. »Und auch Zarkow. Wer kennt sie nicht? Herr Zarkow ist ein höflicher, umgänglicher Mann, er lässt den Schauspielern immer Blumensträuße und Geschenke bringen. Nach einer erfolgreichen Vorstellung, sozusagen als Zeichen der Dankbarkeit. Beim Regisseur und den ersten Schauspielern bedankt sich Herr Zarkow meist persönlich, zu den anderen schickt er Mr. Swist. Aber Sie irren sich, Erast Petrowitsch, er ist keineswegs ein Krimineller, ganz im Gegenteil. Nicht wahr, Herr Polizist?«
»Das ist richtig.« Subbotin kehrte freudig zu Fandorins erster Hypothese zurück – sie interessierte ihn. »Früher war er Revieraufseher im Mjasnizkaja-Bezirk. Er ist nicht ganz freiwillig gegangen. Da war irgendetwas mit Bestechung, allerdings ohne gerichtliche Folgen. Sie wissen ja, bei uns trägt man nicht gern den Unrat aus der Hütte.«
»Ich w-weiß. Aber fahren Sie fort.«
»Meine Herren«, unterbrach Dewjatkin, ungeduldig von einem Bein aufs andere tretend. »Wenn Sie mich nicht mehr brauchen … Vielleicht hat das Automobil ja nicht auf Frau Altaïrskaja gewartet? Sie kann doch nicht allein durch die nächtliche Stadt laufen – in diesem Aufzug und diesem aufgewühlten Zustand! Ich möchte mich gern vergewissern und sie gegebenenfalls begleiten. Sie kann noch nicht weit gekommen sein in ihren japanischen Sandalen.«
Damit lief er davon, ohne auf eine Erlaubnis zu warten. Fandorin sah ihm neidisch nach.
»Der richtige Name von Mr. Swist«, fuhr der Kriminalist fort, »ist Sila Jegorowitsch Lipkow …«
Er stockte, verstummte mit offenem Mund und klapperte mit den hellen Wimpern.
»Sehen Sie«, sagte Fandorin gedehnt und vergaß mit einem Schlag Elisa ebenso wie ihren treuen Paladin. »Nicht ›Lisa‹. Vielleicht Lipkow? Tja, mit der Hypothese Nummer zwei warten wir lieber noch.«
Er nahm einen Stuhl, stellte ihn vor sich und ließ sich rittlings darauf nieder.
»Setzen Sie sich auch. Jetzt fängt unser Gespräch nämlich erst richtig an. Ich wittere B-beute.«
Auch Subbotin setzte sich, neben Fandorin, ebenfalls rittlings. Die beiden Ermittler sahen aus wie zwei berittene Recken an einer Wegkreuzung.
»Womit befehlen Sie zu beginnen?«
»Mit dem K-kopf. Also mit Zarkow. Und damit Sie richtig in Fahrt kommen, will ich noch ein wenig Öl ins Feuer gießen. Erinnern Sie sich, wie zu Beginn der Saison irgendwer eine Schlange in die Blumen von Frau Lointaine geschmuggelt hat?«
»Ich habe so etwas in der Zeitung gelesen. Was hat das mit diesem Fall zu tun?«
»Folgendes.« Erast Petrowitsch lächelte. »Ich erinnere mich – und ich habe, wie Sie wissen, ein gutes Gedächtnis – an einen Satz von Zarkow. Er sagte zu seinem Adjutanten etwas wie: »Herausfinden, wer, und bestrafen.« Das erstens. Davor hatte er Swist beauftragt, Smaragdow ein halbes Dutzend Flaschen eines teuren Bordeaux zu bringen. Das zweitens. Und schließlich drittens: Smaragdow hat sich nicht vergiftet, wie die Zeitungen geschrieben haben. Er wurde vergiftet, und zwar mit Wein. Schade, dass ich nicht daran gedacht habe, zu analysieren, was für ein Wein es war. Jedenfalls ist das drittens. Und viertens: Wer die Schlange in den Kob geschmuggelt hat, bleibt ein Rätsel, aber wenn man den Charakter des verstorbenen Schauspielers und seine Rivalität mit Frau Lointaine in Betracht zieht, ist nicht auszuschließen, dass Smaragdow selbst diese Niederträchtigkeit begangen hat.«
»Der zweite Mord in ein und demselben Theater!« Subbotin sprang auf und setzte sich wieder. »Swist könnte Smaragdow vergiftet haben? Aber ist das nicht eine zu harte Strafe für eine kleine Gemeinheit?«
»So klein war sie auch wieder nicht. Der B-biss der Viper zusammen mit dem Schock hätte die junge Frau durchaus ins Jenseits befördern können. Außerdem hatte Zarkow, wenn ich mich recht erinnere, keine sonderlich hohe Meinung von dem Jugendlichen Helden. Er könnte sehr wütend geworden sein, sollte er herausgefunden haben, d-dass die Abscheulichkeit mit der Schlange Smaragdows Werk war. Aber damit ich genauer einschätzen kann, wie gefährlich Zarkows Zorn sein könnte, erzählen Sie mir bitte mehr über ihn. Alles, was Sie wissen.«
»Oh, ich weiß eine Menge über ihn. Letztes Jahr hatte ich einiges Material über ihn zusammen und wollte ihn in die Zange nehmen, aber …« Subbotin winkte ab. »Eine zu harte Nuss für mich. Zu mächtige Beschützer. Ich sage es gleich: Den Zorn von Awgust Iwanowitsch Zarkow und seine Drohungen sollte man sehr ernst nehmen. Er ist ein solider, beherrschter Mann und lässt seinen Gefühlen selten freien Lauf. Aber wenn er einmal wütend ist …« Der Kriminalist fuhr sich vielsagend mit dem Handrücken über die Kehle. »Der Schwarzhandel mit Theaterkarten ist sein liebstes, aber keineswegs sein einziges Geschäftsfeld. Zar kann für den Erfolg eines Stückes sorgen. Oder dafür, dass es durchfällt. Rummel um ein Theater, Gerüchte, Claqueure, Kritiker – das alles steht in seiner Macht. Er kann eine unbekannte Debütantin zur Berühmtheit machen, aber ebenso gut eine Schauspielerkarriere ruinieren. Seine Logen stehen stets den Oberen der Stadt zur Verfügung, weshalb sie und noch mehr ihre Gattinnen Zarkow als einen wunderbaren, zuvorkommenden Mann schätzen, dem sich Gesindel wie Titularrat Subbotin mit seinen kleinlichen Kritteleien nicht nähern darf.«
Der Polizist lächelte bitter.
»Wirft der Schwarzhandel mit Theaterkarten denn tatsächlich so große Gewinne ab?«, fragte Fandorin erstaunt.
»Rechnen Sie es sich selbst aus. Laut Verordnung der Stadtobrigkeit zur Bekämpfung der Spekulation dürfen die Kassen nicht mehr als sechs Karten an eine Person abgeben. Doch das ist für Zarkow kein Hindernis. Für ihn arbeiten zwei Dutzend sogenannte ›Aufkäufer‹, die stets als Erste vor der Kasse stehen – ich muss wohl nicht erwähnen, dass sämtliche Kartenverkäufer bestochen sind. Wenn wir ein extrem populäres Stück nehmen wie die gestrige Premiere, beläuft sich Zarkows Reingewinn vom Weiterverkauf auf wenigstens anderthalb Tausend. Und es gibt ja noch das Künstlertheater, für das man auch nicht so leicht Karten bekommt, und das Bolschoi. Auch im Maly-Theater und bei Korsch gibt es begehrte Stücke. Außerdem Konzertprogramme und bunte Abende. Mit dem Schwarzhandel mit Theaterkarten hat Zarkow irgendwann einmal angefangen, und dieses in jeder Hinsicht einträgliche Geschäft betreibt er noch heute, aber seinen wichtigsten Profit bezieht er aus etwas anderem. Nach meinen Informationen kontrolliert er sämtliche teuren Bordelle in Moskau. Außerdem bietet Zar interessierten Personen auch delikatere Dienste an: Soliden Herren, die die Öffentlichkeit scheuen, liefert er keine professionellen, sondern durchaus ehrbare Damen. Ähnliche Liebenswürdigkeiten erweist er auch sich langweilenden Damen – für gutes Geld besorgt er ihnen schöne junge Männer als Gigolos. Sie werden verstehen, dass in Zarkows Unternehmen alles miteinander zusammenhängt: Tänzer und Tänzerinnen aus dem Ballett- oder Operettenensemble, aber auch bekannte Schauspieler und Schauspielerinnen haben oft nichts gegen einen einflussreichen Gönner oder eine großzügige Geliebte einzuwenden.«
»Das heißt, Zarkow v-verfügt über eine ganze Organisation. Wie ist sie aufgebaut?«
»Ideal. Sie läuft wie ein Uhrwerk. Es gibt feste und freie Mitarbeiter. Die ganz unten, die Aufkäufer, sind Tagelöhner. Dafür suchen sich Swists Gehilfen auf dem Chitrow-Markt Hungerleider wie heruntergekommene Beamte oder Studenten. Die stellen sich schon in der Nacht in der Schlange vor der Kasse an und kaufen die besten Plätze für populäre Stücke auf. Dafür werden die Aufkäufer eigens eingekleidet – mit Hemdbrust, Hut und Jackett. Spezielle Vorarbeiter passen auf, dass der Hungerleider nicht mit dem Geld abhaut und sich betrinkt. Außerdem gibt es eigens geschulte Drängler; sie sorgen an der Kasse für Gedränge, schieben ihre Leute vor und drängen andere zurück. Dann gibt es noch die Springer – die lungern vor jedem Theater herum und verkaufen die Karten. Sie werden von den Pinschern betreut, deren Aufgabe es ist, sich mit den Revierpolizisten zu einigen und die Tätigkeit von Schwarzhändlern zu unterbinden, die das Geschäft auf eigene Faust betreiben. Ach ja, die Informanten hätte ich beinahe vergessen. Das sind sozusagen Geheimagenten. Zar bezahlt in jedem Theater jemanden aus der Direktion oder der Truppe. Sie informieren ihn über das bevorstehende Repertoire, über den Wechsel von Stücken, über interne Ereignisse, Sauftouren der Ersten Schauspieler und Migränen der Diven – einfach über alles. Dank dieser Informanten irrt sich Zar nie. Noch nie hat er Karten für ein Stück aufgekauft, dass abgesetzt wurde, oder für eine Premiere, die durchgefallen ist.«
»Gut, das ist im G-großen und Ganzen klar. Nun bitte zu Mr. Swist. Wofür genau ist er in dieser Hierarchie zuständig?«
»Für alles ein bisschen, aber hauptsächlich für die Pinscher. Das ist eine Art fliegende Eingreiftruppe. Swist hat dafür fixe Burschen rekrutiert, die jeden Beliebigen verprügeln, wenn nötig auch töten können. Die Kontrolle über die Bordelle ist Zar nicht einfach zugeflogen, diesen fetten Happen musste er sehr seriösen Leuten entreißen.«
»Diese seriösen Leute kannte ich«, bestätigte Erast Petrowitsch. »Lewontschik aus der Gratschowka und Zirkatsch vom Sucharew-Mark. Lange nichts von ihnen gehört.«
»Eben darum. Letztes Frühjahr ist Lewontschik in sein heimisches Baku zurückgekehrt. Im Rollstuhl. Stellen Sie sich vor, er ist zufällig aus dem Fenster gefallen und hat sich das Rückgrat gebrochen. Und Zirkatsch hat erklärt, dass er sich aus seinem Geschäft zurückzieht. Kurz davor war sein Haus abgebrannt, und zwei seiner engsten Mitarbeiter waren verschwunden.«
»Letztes Frühjahr? Da war ich in der Karibik. D-deshalb ist mir das entgangen.« Fandorin schüttelte den Kopf. »Sieh an, Mr. Swist. Und keinerlei Unannehmlichkeiten von der Polizei?«
»Nichts. Meine Berichte zählen nicht. Habe offizielle Anordnung, die Angelegenheit auf sich beruhen zu lassen. Und in einem vertraulichen Gespräch hieß es: ›Seien wir Herrn Zarkow dankbar, dass er unsere Arbeit macht und die Stadt von Banditen säubert.‹ Und noch etwas, Erast Petrowitsch. Lipkow ist bei der städtischen Polizei sehr beliebt, besonders bei den Revieraufsehern. Er ist gewissermaßen ihr Held und Idol. Einmal im Jahr, an seinem Namenstag, veranstaltet er im Buffo-Theater einen Abend für seine ehemaligen Kollegen, der deswegen auch ›Ball der Revieraufseher‹ heißt. Dieses Fest ist anschließend in allen Polizeirevieren noch lange Gesprächsthema. Kein Wunder! Ein großartiges Programm mit Sängerinnen, Cancan und Clowns, dazu erstklassige Beköstigung und die Gesellschaft fröhlicher Damen. Einerseits prahlt Mr. Swist damit vor seinen ehemaligen Kollegen – seht, wie reich und mächtig ich geworden bin, und andererseits unterhält er auf diese Weise nützliche Beziehungen. Razzien bei den Schwarzhändlern sind vollkommen sinnlos. Swists Freunde bei der Polizei warnen ihn jedes Mal rechtzeitig. Als ich hinter Zarkow her war, dachte ich an einen überraschenden Besuch in seinem sogenannten Kontor, um Beweise und Indizien für seine kriminelle Tätigkeit zu finden. Aber ich musste diese Idee fallenlassen. Meine eigenen Assistenten wären die Ersten gewesen, die Swist von der geplanten Aktion informiert hätten, und das Kontor hätte umgehend die Adresse gewechselt. Es zieht ohnehin ständig um.«
»W-wozu? Ich denke, Zarkow hat keine Angst vor der Polizei?«
»Aber vor den Kriminellen, denen ist er ein Dorn im Auge. Außerdem ist Zarkow geradezu krankhaft vorsichtig. Länger als ein, zwei Wochen bleibt er nirgends. Ein berühmter Mann, seine Automobile und Kutschen trifft man vor jedem Theater, aber versuchen Sie mal, herauszufinden, wo er gerade wohnt – das weiß niemand.«
Fandorin stand auf und dachte nach, wobei er leicht auf den Absätzen wippte.
»Hm, und was für Beweise gedachten Sie in seinem Kontor zu finden?«
»Zar führt penibel Buch nach amerikanischem System. Zu diesem Zweck hat er sich aus Chicago zwei große Schränke auf Rädern schicken lassen. Darin befinden sich eine Kartothek, Rechnungen und so weiter. Zarkow liebt die Ordnung, und eine Durchsuchung fürchtet er nicht. Außerdem hat er bewaffnete Wachleute zum Schutz der Papiere und ihres Besitzers. Zar wohnt immer dort, wo sich sein Kontor befindet. Und Mr. Swist auch. Sie sind so unzertrennlich wie Satan und sein Schwanz.«
Der Kriminalist drückte sich die Brille aufs Nasenbein und sah Fandorin argwöhnisch an.
»Sie haben doch nicht etwa vor …? Nein. Das ist zu riskant. Zumal allein. Auf die Polizei können Sie nicht zählen. Meine Leute würden Sie nur daran hindern, das habe ich Ihnen ja erklärt. Ich könnte natürlich privat, aber …«
»Nein, nein, ich will Sie nicht vor Ihrer Obrigkeit k-kompromittieren. Da Sie doch eigens ermahnt wurden, Herrn Zarkow nicht zu belästigen. Aber vielleicht wissen Sie ja wenigstens, wo sich das berüchtigte Kontor zur Zeit befindet?«
Subbotin zuckte die Achseln.
»Leider …«
»Macht nichts. Das ist die g-geringste Schwierigkeit.«
Angenehme Rückbesinnung
auf die Vergangenheit
Fandorin gedachte den jetzigen Sitz des Kontors von Herrn Zarkow auf ganz simple Weise zu finden: indem er Mr. Swist folgte. Aber das erwies sich als nicht so einfach.
Das Vorhaben war etwas Vertrautes, recht Angenehmes. Erast Petrowitsch hielt sich zu Recht für einen Meister der Verfolgung. In den letzten Jahren hatte er nur selten Gelegenheit gehabt, sich an jemanden »dranzuhängen«. Umso mehr Spaß machte es ihm nun, sich auf seine Vergangenheit zu besinnen.
Ein Automobil war ein praktisches Ding – man konnte darin mehrere Verkleidungen mitnehmen, Schminksachen, das nötige Werkzeug und sogar eine Thermoskanne mit Tee. Im neunzehnten Jahrhundert hatte er unter weniger komfortablen Bedingungen Leute beschatten müssen.
Auf dem Theaterplatz hielt Fandorin vergeblich nach dem Zielobjekt Ausschau, darum ging er in die Kamergerski-Gasse und entdeckte das Spekulanten-Oberhaupt am Eingang des Künstlertheaters. Lipkow stand wie üblich scheinbar untätig da, pfiff vor sich hin, ab und an trat jemand zu ihm – vermutlich Springer oder Pinscher, vielleicht auch Informanten. Sie wechselten jedes Mal nur wenige Worte miteinander. Hin und wieder öffnete Swist sein grünes Portefeuille und holte etwas heraus oder steckte etwas hinein. Kurz – er arbeitete im Schweiße seines Angesichts, rührte sich nicht von seinem Arbeitsplatz weg.
Seinen Wagen hatte Fandorin etwa fünfzig Schritte weiter geparkt, vor einem Geschäft für Damenkleidung, wo bereits mehrere Kutschen und Autos standen. Zum Beobachten benutzte er eine ausgezeichnete deutsche Neuheit: Ein Fotofernglas, mit dem man Momentaufnahmen machen konnte. Für alle Fälle fotografierte Erast Petrowitsch jeden, mit dem Mr. Swist sprach – nicht so sehr zu praktischen Zwecken, sondern um den Apparat auszuprobieren.
Um halb drei bewegte sich das Zielobjekt vom Fleck – zu Fuß, woraus Fandorin schloss, dass er keinen weiten Weg vor sich hatte. Anfangs wollte Fandorin ihm im Auto folgen, zum Glück war die Straße ziemlich stark befahren, auch waren genügend Fußgänger unterwegs, doch er bemerkte rechtzeitig, dass Swist begleitet wurde: Auf beiden Seiten der Straße folgten ihm zwei junge Männer im Abstand von 15-20 Schritten. Die beiden hatte Fandorin kurz zuvor mit seiner Kamera festgehalten. Offensichtlich zwei Pinscher, die ihrem Chef als eine Art Leibwächter dienten.
Fandorin musste also auf seinen Isotta-Fraschini verzichten. Bekleidet war er mit einer unauffälligen Wendejacke (auf der einen Seite grau, auf der anderen braun). In einer Schultertasche, wie sie Handelsreisende tragen, lag ein Reservekleidungsstück, eine weitere Wendejacke. Der Bart, mit einem Kleber eigener Rezeptur befestigt, ließ sich mit einer einzigen Bewegung abnehmen; die Brille mit dem Horngestell machte das Gesicht fast unkenntlich.
Das Zielobjekt passierte die Kusnezki-Brücke, bog nach rechts ab und bezog Position an der äußersten Säule des Bolschoi-Theaters. Dort spielte sich das Gleiche ab wie zuvor: Swist klackte mit dem Verschluss seines Portefeuilles und wechselte jeweils ein paar Worte mit geschäftig herbeieilenden Männern.
Eigentlich könnte ich jetzt mein Automobil holen, überlegte Fandorin. Nun ist klar, dass er vom Bolschoi zur »Arche Noah« gehen wird – offensichtlich seine übliche Route.
Zehn Minuten später stand der Isotta zwischen den beiden Theatern, so dass Fandorin bequem beide Seiten im Blick hatte.
Zu den Kassen der »Arche« begab sich Mr. Swist Punkt vier. Die Springer hier waren andere als am Künstlertheater und am Bolschoi, die Pinscher jedoch dieselben. Sie deckten ihren Anführer rechts und links, blieben aber auf Abstand.
Unweit vom Bühneneingang lungerte ein Mann mit einem tief ins Gesicht gezogenen Hut und in einem leichten Mantel aus Rohseide herum. Er fiel Fandorin auf, weil er sich seltsam verhielt: Jedes Mal, wenn die Tür aufging, versteckte er sich hinter einer mit Plakaten beklebten Säule. Fandorin sah sich genötigt, auszusteigen und sich den interessanten Herrn näher anzusehen. Er hatte einen dunklen Teint, eine große kaukasische Nase und über der Nasenwurzel zusammengewachsene Brauen. Der Haltung nach zu urteilen war er ein Militär. Erast Petrowitsch fotografierte ihn – allerdings nicht mit dem Fernglas. Zum unauffälligen Fotografieren aus kurzer Distanz besaß er eine Detektivkamera von Stirn: eine unter der Kleidung befestigte flache Schachtel mit einem hochlichtempfindlichen Objektiv, das als Knopf getarnt war. Das Unbequeme an dieser wunderbaren Erfindung war jedoch, dass man sie nur einmal benutzen konnte, und bald überzeugte sich Fandorin, dass er das Foto umsonst vergeudet hatte. Der Kaukasier zeigte nicht das geringste Interesse für Mr. Swist und nahm keinen Kontakt zu ihm auf. Kurz nach fünf, als die Probe zu Ende war, kamen die Schauspieler heraus. Als Elisa auftauchte, begleitet von Prostakow und der Klubnikina, versteckte sich der verdächtige Typ.
Fandorin schaute begierig durch sein Ferngals. Die Frau, die ihn seiner Harmonie beraubt hatte, war heute blass und traurig, aber dennoch unaussprechlich schön. Sie winkte mit der Hand, um ihr Automobil fortzuschicken. Zusammen mit den beiden anderen lief sie in Richtung Ochotny Rjad. Offensichtlich wollten sie zu Fuß zum Hotel gehen.
Der Mann im Rohseidenmantel folgte den Schauspielern, und Erast Petrowitsch vermutete, dass es sich um einen weiteren Verehrer handelte. Er hatte gewartet, bis die Schöne auftauchte, und nun würde er sich an ihre Fersen heften, vergehend vor Hingabe.
Nein, ich werde in diesem Ensemble nicht mittanzen, dachte Fandorin wütend und zwang sich, das Fernglas von Elisas zierlicher Silhouette auf das hässliche Lehmgesicht von Lipkow zu richten.
»Es wäre allmählich an der Zeit, nach Hause zu gehen, mein Freund. Wozu sich so im Dienst aufreiben?«, flüsterte Erast Petrowitsch.
Mr. Swist, als hätte er das gehört, winkte kurz, und ein geschlossener schwarzer Ford, der zuvor neben dem Springbrunnen gestanden hatte, fuhr vor. Die Pinscher stürzten zum Wagen. Der eine riss die Tür auf, der andere schaute sich nach allen Seiten um. Dann stiegen alle drei ein.
Fandorin ließ den Motor an, bereit, dem Ford zu folgen. Er unterdrückte ein Gähnen. Die Sache näherte sich ihrem Ende. Gleich würde er herausfinden, wo Zar seine Höhle hatte.
Doch weit gefehlt!
Als der Ford losfuhr, versperrte ein weiteres Automobil die Fahrbahn, ein offener Packard. Darin saßen drei kräftige junge Männer vom selben Typ wie Lipkows Leibwächter. Die Schreie der Kutscher und die Autohupen ignorierend, ließ der Fahrer des Packard Swist erst um die Ecke biegen, bevor er behäbig losfuhr. Fandorin hätte natürlich auch diesem Wagen folgen können – er fuhr bestimmt dieselbe Strecke, aber das Risiko war zu groß. Er musste auf die mobiliserte Beschattung verzichten. Die Wachleute im Packard würden den aufdringlichen Isotta garantiert bemerken – genau zu diesem Zweck wurde Swist ja von einem zweiten Automobil begleitet.
Der Tag war also sinnlos vergeudet. Abgesehen davon, dass Fandorin sich davon überzeugt hatte, dass das gesteckte Ziel nicht so leicht zu erreichen war. Und dass er ein paar Sekunden lang Elisa betrachtet hatte.
Plötzliche Hindernisse waren für Erast Petrowitsch stets lediglich ein Anlass, zusätzliche Ressourcen seines Intellekts zu mobilisieren. So geschah es auch diesmal, wobei gar keine besonderen Anstrengungen erforderlich waren. Die Aufgabe war ja nicht allzu kompliziert, und eine neue Lösung fand sich schnell.
Am nächsten Tag fuhr er zusammen mit Masa ins Theater. Nach den von Stern aufgestellten Regeln musste ein Repertoirestück jeden Tag geprobt werden. Laut Noah Nojewitschs Lehre war die Premiere nur der Beginn der eigentlichen Arbeit, jede neue Vorstellung musste vollkommener sein als die vorherige.
Herr und Diener frühstückten in Grabesstille und schwiegen auch auf der ganzen Fahrt zum Theater, wobei Masa demonstrativ aus dem Fenster sah. Der Japaner war noch immer beleidigt, weil Erast Petrowitsch ihn nicht in den Gang der Ermittlungen einweihte. Gut so, dachte Fandorin. Er verspürte bislang kein Bedürfnis nach Versöhnung.
Zu Beginn der Probe, als die Person, die Fandorin besonders interessierte, frei war, tat er, wozu er hergekommen war.
Er wollte mit Konstantin Lowtschilin reden, dem Darsteller des Diebes.
»Sind Sie ein Informant?«, fragte Erast Petrowitsch ohne Umschweife und führte den Schauspieler in den Flur.
»Wie bitte?«
»Arbeiten Sie für Zarkow? Streiten Sie es n-nicht ab. Zehn Tage vor der Premiere habe ich die Mappe mit Ihrer Rolle im Portefeuille von Mr. Swist gesehen. Ihre Farbe ist doch gelb?«
Das Gesicht des Schalks geriet in Bewegung, seine Augen zwinkerten heftig. Lowtschilin schwieg.
»Wenn Sie mir nichts sagen wollen, erzähle ich Stern von Ihrem Nebenverdienst«, drohte Fandorin.
»Bitte nicht«, sagte Lowtschilin und schaute sich um, ob auch niemand in der Nähe war. »Ich habe doch nichts Schlechtes … Nun ja, ich antworte manchmal auf Fragen, was bei uns so los ist. Berichte von Änderungen im Repertoire. Als plötzlich Ihr Stück auftauchte, war Zar natürlich sehr interessiert. Es hat ihm übrigens sehr gefallen. Er hat dem Stück einen großen Erfolg prophezeit.«
»Merci. Sie stehen also in ständigem Kontakt mit Zarkow?«
»Nein, mehr mit Swist. Mit Zar selten. Das letzte Mal, als wir über Sie gesprochen haben. Er war sehr neugierig …«
»Tatsächlich?«
»Ja, er hat mich nach meiner Meinung gefragt – ob er Ihnen ein wertvolles Geschenk zur Premiere machen kann. Ich habe abgeraten. Herr Fandorin, habe ich gesagt, ist ein verschlossener, ungeselliger Mensch. Das könnte ihm missfallen …«
»Sie sind ja ein P-psychologe.«
»Zar war nicht erstaunt. Ich glaube, er weiß über Sie mehr als ich …«
Erast Petrowitsch erinnerte sich an seinen Zusammenstoß mit Swist. Zar hatte sich also für den neuen Autor interessiert, Erkundigungen über ihn einholen lassen und viel Interessantes erfahren. Nun, das war günstig.
»Wo haben Sie sich mit Zarkow getroffen? Bei ihm im Kontor?«
»Ja. Ich wurde hingefahren, irgendwo hinter Ostankino.«
»Haben Sie sich den Ort gemerkt?«, fragte Fandorin beiläufig.
»Ja. Aber Swist hat gesagt, sie würden am nächsten Tag umziehen. Und das war vor fast zwei Wochen.«
»Und wo Zarkow jetzt wohnt, wissen Sie das?«
»Woher denn?«
Fandorin überlegte eine Weile und sagte: »Dann Folgendes. Sie werden Zarkow einen B-brief schicken, über Swist. Er steht gerade vor dem Theater. Hier haben Sie einen Stift und ein Blatt Papier. Schreiben Sie. ›Fandorin hat mich über Sie ausgefragt. Wir müssen uns treffen.‹ Man wird Sie unverzüglich in sein Kontor bringen.«
Lowtschilin schrieb brav, verzog jedoch skeptisch die dicken Lippen.
»Wieso? Bloß weil ein Autor ein paar Fragen stellt? Sie wissen doch, wer Zar ist. Ein sehr seriöser Mann!«
»Swist wird Sie unverzüglich zu Zarkow bringen«, wiederholte Erast Petrowitsch. »Sie werden nervös sein. Sie werden ihnen erzählen, ich hätte Ihnen gegenüber einen V-verdacht geäußert. Sagen Sie, Fandorin denkt, Smaragdow und Limbach seien von Zarkows Leuten getötet worden.«
»Wie – getötet?! Sie haben doch Selbstmord begangen!«, rief Lowtschilin aufgeregt. »Außerdem – ich an Ihrer Stelle würde diese Leute nicht reizen. Sie könnten beleidigt sein.«
»Heute Abend komme ich zu Ihnen ins Hotel, und dann erzählen Sie mir, ob sie beleidigt sind oder nicht. Aber vor allem – prägen Sie sich gut ein, wohin man sie bringt.«
Vom Foyerfenster aus beobachtete Fandorin, dass seine Vermutung richtig gewesen war.
Lowtschilin kam heraus und ging zu Mr. Swist. Er sprach mit ihm, den Kopf devot eingezogen. Dann übergab er ihm das zusammengerollte Blatt Papier. Lipkow rollte es auf, runzelte die Stirn. Stellte ein paar Fragen. Dann winkte er mit der Hand – und der Rest lief genauso ab wie am Vortag. Zwei Pinscher kamen herbeigeeilt, der Ford fuhr vor, das zweite Auto blockierte die Straße. Der Schauspieler wurde zu einer Unterredung mit dem Herrscher über die Moskauer Theaterkarten-Spekulanten gebracht.
Bis zum Abend unternahm Fandorin noch einen weiteren Schritt – er traf sich mit Herrn Schustrow, den er zuvor in der »Gesellschaft für Theater und Kinematographie« angerufen hatte. Der Unternehmer war bereit, den Autor sofort zu empfangen.
»Nun, haben Sie es sich überlegt?«, fragte Schustrow und drückte seinem Gast die Hand. »Werden Sie für mich Szenarien schreiben?«
Sein Büro wirkte irgendwie unrussisch. Zierliche Möbel aus Stangen und Metallrohren; riesige Fenster vom Boden bis zur Decke mit Blick auf die Moskwa und die dahinterliegenden Fabrikschlote; an den Wänden Bilder – lauter Würfel, Quadrate und gebrochene Linien. Erast Petrowitsch verstand und mochte die moderne Kunst nicht, was er seinem vorgerückten Alter zuschrieb. Jede neue Epoche hat ihre eigenen Augen und Ohren, will etwas anderes sehen, etwas anderes hören. Auch die braven Impressionisten hatten einst als rebellisch gegolten, und nun hing über dem Schreibtisch eines ehrbaren Unternehmers eine grässliche violette Frau mit drei Beinen, und es war nichts weiter dabei.
»Was Sie sich da vorgenommen haben, ist eine ernsthafte Sache«, sagte Fandorin gesetzt, den Blick auf Plakate der neuesten europäischen Filme gerichtet (»L’Inferno«, «Le Fils de Locuste«, »Sherlock Holmes contra Professor Moriarty«). »Aber auch ich bin ein ernsthafter Mann. Ich muss die Regeln kennen und akzeptieren.«
»Selbstverständlich.« Der junge Millionär nickte. »Was sind Ihre Befürchtungen? Ich beantworte Ihnen gern jede Frage. Ich bin außerordentlich interessiert an der Mitarbeit eines Mannes wie Sie. Warum meiden Sie die Journalisten? Warum durften auf den Plakaten nur die Initialen Ihres Namens stehen? Das ist falsch, das ist ein Fehler. Ich würde gern einen Star aus Ihnen machen.«
Mit diesem Herrn musste man Klartext reden. Darum fragte Fandorin ohne Umschweife: »Wie vertragen Sie sich mit Zarkow? Soweit ich weiß, ist ohne gute Beziehungen zu diesem Geschäftsmann die Gründung eines Theater- und Unterhaltungsunternehmens in Moskau äußerst schwierig, wenn nicht gar unmöglich.«
Diese direkte Frage machte Schustrow keineswegs verlegen.
»Mit Zar vertrage ich mich ausgezeichnet.«
»Ach ja? Aber Sie sind doch ein Anhänger des z-zivilisierten Unternehmertums, er dagegen fischt im Trüben, ist ein halber Bandit.«
»Ich bin vor allem Realist. Ich kann die spezifischen Gegebenheiten des russischen Business nicht ignorieren. Für den Erfolg eines jeden großen Vorhabens braucht man bei uns Unterstützung von oben wie von unten. Von den Wolken« – Schustrow zeigte auf die Kremltürme, die vom äußersten Fenster aus zu sehen waren –, »und von unter der Erde.« Er zeigte mit dem Finger auf den Fußboden. »Die Regierung gestattet dir, deine Geschäfte zu machen. Mehr nicht. Aber wenn du willst, dass es läuft, musst du dir bei der inoffiziellen Macht Unterstützung holen. In unserem behäbigen und für Geschäfte so ungünstigen Land hilft nur sie, die rostigen Zahnräder zu ölen und die Kanten glattzuschleifen.«
»Sie reden von Leuten wie Z-zarkow?«
»Natürlich. Die Zusammenarbeit mit diesem illegalen Geschäftsmann ist auf dem Gebiet, mit dem ich mich befasse, vollkommen unerlässlich. Auf seine Unterstützung zu verzichten hieße, mit nur einer Hand auszukommen. Und wäre er uns feindlich gesinnt, wäre unser Unternehmen gänzlich unmöglich.«
»Worin besteht denn seine Unterstützung?«
»In vielem. Wussten Sie zum Beispiel, dass während der Vorstellungen der ›Arche Noah‹ keine Taschendiebe agieren? Eine Zeitung schrieb dieses Phänomen der günstigen Wirkung der hohen Kunst selbst auf verdorbene Diebesseelen zu. In Wahrheit haben Zarkows Leute die Taschendiebe eingeschüchtert. Eine besondere Liebenswürdigkeit an meine Adresse. Auch den zusätzlichen Rummel um Gastspiele organisiert er – wenn er sie für lohnend hält. Ihm nützt das im Hinblick auf den Schwarzhandel mit Karten, mir im Hinblick auf den Kurs der Aktien des Theaters, auf das ich gesetzt habe. Doch den wichtigsten Nutzen wird Zar bringen, wenn der kinematographische Zweig unserer Tätigkeit erst richtig anläuft. Dann wird sein Untergrundunternehmen sich auf ganz Russland ausweiten. Jemand muss die Verleiher kontrollieren, für Ordnung in den Elektrotheatern sorgen, illegale Kopien verhindern. Die Polizei kann das nicht leisten und wird es auch nicht wollen. Zar und ich haben also noch große Pläne miteinander.«
Schustrow sprach lange und mit großem Engagement darüber, wie das von ihm geschaffene Imperium funktionieren sollte. Darin würde jeder das tun, wozu er Talent hatte. Glänzende Literaten wie Herr Fandorin würden sich die Sujets ausdenken, geniale Regisseure wie Herr Stern Filme drehen und Stücke inszenieren, wobei beide thematisch miteinander verknüpft waren: Wenn auf Orientalisches gesetzt wurde, dann folgten auf ein Stück zu einem japanischen Stoff zwei oder drei Filme zum selben Thema. Das würde die Nachfrage erhöhen und es zugleich ermöglichen, Dekorationen und Kostüme ökonomisch zu nutzen. Eigene Zeitungen und Magazine der Gesellschaft würden den Kult um ihre Schauspieler und Schauspielerinnen fördern. Eigene Elektrotheater würden dafür sorgen, dass man die Einnahmen mit niemandem würde teilen müssen. Dieses ganze weitverzweigte System müsse von oben und von unten geschützt werden. Gute Beziehungen zu den Behörden würden vor Konflikten mit dem Gesetz schützen, gute Beziehungen zu Zarkow den Schutz vor Kriminellen und diebischen Mitarbeitern garantieren.
Fandorin hörte zu und fragte sich, warum in Russland zu allen Zeiten für den Erfolg einer jeden Unternehmung »gute Beziehungen« entscheidend waren. Vermutlich, weil der russische Mensch Gesetze als ärgerliche Formalität betrachtet, von einer feindlichen Macht im eigenen Interesse erfunden. Der Name dieser feindlichen Macht war »Staat«. Und nichts an den Handlungen des Staates war vernünftig oder wohlwollend. Dieses Ungeheuer, sagt schon Radistschew2, ist »behäbig, niederträchtig und riesig, hat hundert Mäuler und bellt«. Die einzige Rettung ist, dass es zudem recht blind und dumm ist und jedes einzelne »Maul« leicht zu füttern. Ohne das kann man in Russland einfach nicht leben. Stell dich gut mit dem nächstgelegenen gierigen Maul, und du kannst tun, was du willst. Aber denk daran, rechtzeitig Fleischbrocken nachzuwerfen. So war es unter den Nachfahren Rjuriks3, so ist es unter den Romanows, und so wird es bleiben, solange sich das Verhältnis zwischen Bürgern und Staat nicht grundlegend ändert.
Erast Petrowitsch versprach, über den geschäftlichen Vorschlag des Millionärs nachzudenken, und verließ die »Gesellschaft für Theater und Kinematographie« in der Tat nachdenklich. Der Gegner, den er herausgefordert hatte, war ernster zu nehmen, als er geglaubt hatte.
Der technische Geist des zwanzigsten Jahrhunderts setzte sich allmählich auch in der kriminellen Moskauer Unterwelt durch. Bei Zarkow zum Beispiel gab es amerikanische Buchhaltung, eine gegliederte Struktur, Automobile und einen sicheren Schutz von oben. Im Alleingang gegen eine solche Organisation vorzugehen war wohl unvernünftig. Ob er wollte oder nicht – er musste sich mit Masa versöhnen.
Ein wahrer Freund
Der Japaner kam zum Übernachten nicht nach Hause. Fandorin maß dem keine besondere Bedeutung bei. Er vermutete ihn bei der Klubnikina. Halb so schlimm, den Plan eines kleinen Besuchs in Sokolniki konnten sie auch am nächsten Tag besprechen.
Am Abend berichtete Lowtschilin von seiner Fahrt zu Zarkow. Der Schauspieler war zugleich verängstigt und neugierig. Die Nachricht von Fandorins Verdacht hatte das Oberhaupt der Spekulanten ernsthaft beunruhigt.
»Wer sind Sie eigentlich? Ich meine, in Wirklichkeit?«, fragte Lowtschilin Erast Petrowitsch ängstlich. »Sie haben gesagt, ich soll ihnen jedes Wort von Ihnen sofort mitteilen … Wieso haben die solche Angst vor Ihnen?«
»Ich habe keine Ahnung«, erwiderte Fandorin und sah den Schauspieler starr an. »Aber ich rate Ihnen davon ab, Mr. Swist jedes meiner Worte mitzuteilen.«
Lowtschilin schluckte. »V-verstehe.« Er fuhr erschrocken zusammen. »Oh, ich wollte Sie nicht nachäffen! Das war keine Absicht!«
»Das glaube ich Ihnen. Also ein einstöckiges Haus in Sokolniki, am Ende des Hirschparks? Bitte, setzen Sie sich und beschreiben Sie mir den Ort genauer. Mich interessiert die nähere Umgebung.«
Zu Hause in der Swertschkow-Gasse ermittelte Fandorin mit Hilfe einer detaillierten Polizeikarte die jetzige Adresse des Kontors von Herrn Zarkow. Das Haus, von dem Lowtschilin berichtet hatte, war früher einmal ein Landhaus vor der Stadt gewesen und lag inzwischen auf dem Gelände des Parks. Auf der Karte war es als »Hirsch-Haus« verzeichnet. Im Schutz der Nacht begab sich Fandorin in das nordöstliche Gebiet von Sokolniki, um sich das Objekt näher anzusehen und, sollte sich die Gelegenheit dazu bieten, sein Vorhaben gleich auszuführen.
Auf einen Sturmangriff musste er verzichten. Auf den ersten Blick lag das Haus sehr günstig: Es war auf drei Seiten von dichtem Gebüsch umgeben. Doch die leichte Zugänglichkeit täuschte. Das Kontor wurde gut bewacht. Ein Pinscher stand die ganze Zeit auf der Treppe und ließ kein Auge von der zu dem einzeln stehenden Haus führenden Allee. Fandorin schaute durch sein Fernglas und entdeckte noch vier weitere Männer, die drinnen Wache hielten. Die Vorhänge waren überall dicht zugezogen, doch oben, direkt unter der Gardinenstange, entdeckte er eine schmale Spalte. Um eine Vorstellung vom Grundriss des Erdgeschosses zu bekommen, musste Erast Petrowitsch auf drei Seiten des Hauses auf Bäume klettern. Eine unsolide, aber erfrischende Tätigkeit – Fandorin fühlte sich gleich jünger.
Im ersten Stock lagen die Räume von Zarkow und das Zimmer von Mr. Swist. Unten gab es zwei große Räume. Der eine war, den Möbeln nach zu urteilen, das Speisezimmer, der andere, in dem sich ständig Wachposten aufhielten, das Büro. Fandorin konnte im orangeroten Licht der Petroleumlampen sogar zwei große lackierte Schränke von ungewöhnlicher Form schimmern sehen. Das war zweifellos das persönliche Archiv Seiner Spekulantenhoheit.
Das hier war nicht gerade Plewen4, aber im Sturm, noch dazu im Alleingang, dennoch nicht zu nehmen. Anders zu zweit, mit Masa.
Nach der erfolgten Aufklärung fühlte sich Fandorin zum ersten Mal seit einem Monat fast genesen, kehrte nach Hause zurück, schlief rund vier Stunden, und dann war es auch schon Zeit, ins Theater zu gehen. Er musste Masa vor Beginn der Probe erwischen, darum saß Erast Petrowitsch ab halb elf im Zuschauerraum, hinter einer Zeitung versteckt – ein ausgezeichneter Schutz vor dem leeren Geschwätz, dem Schauspieler so gern frönen. Es ist allgemein bekannt, dass Zeitunglesen, besonders, wenn man es mit konzentrierter Miene betreibt, der Umgebung Respekt einflößt und vor unerwünschten Kontakten schützt. Und Fandorin musste sich nicht einmal verstellen. Die Zeitung »Utro Rossii«5 enthielt heute ein hochinteressantes Interview mit dem Minister für Handel und Industrie Timaschow über die hervorragende Finanz- und Devisenlage des Imperiums: Der Fonds frei verfügbarer Mittel aus Haushaltsüberschüssen betrug über 300 Millionen Rubel, der Kurs des russischen Rubels erstarkte von Tag zu Tag, und die energische Politik der Regierung würde Russland ohne Zweifel auf den Weg in eine lichte Zukunft führen. Fandorins Prognosen hinsichtlich der Zukunft Russlands waren weniger optimistisch, aber es wäre doch schön, wenn er sich irrte!
Hin und wieder schaute er zur Tür. Allmählich fand sich die Truppe ein. Alle trugen ihre Alltagskleider – nach den üblichen Regeln wurde im Bühnenbild, aber ohne Kostüm und Maske geprobt. Der geniale Noah Nojewitsch glaubte, das »entblöße« das Spiel des Schauspielers, mache Schnitzer und Fehler offenkundiger.
Die Klubnikina kam herein. Erast Petrowitsch senkte den Blick auf die Zeitung und erwartete, dass Masa hinter ihr auftauchen würde, aber er irrte sich – die Muntere erschien allein.
Also musste er noch einen weiteren Artikel lesen, über die historischen Ereignisse in China. Der vor einer Woche begonnene Aufstand eines einzigen Bataillons in der Provinzstadt Wuchang hatte bewirkt, dass sich Chinesen allerorten die Zöpfe abschnitten, sich nicht mehr der kaiserlichen Macht unterwerfen wollten und eine Republik forderten. Unglaublich, was für eine gewaltige Maschinerie dieser kleine Funken in Gang gesetzt hatte – 400 Millionen Menschen! Doch die Europäer schienen sich gar nicht bewusst zu sein, dass damit das große, verschlafene Asien erwacht war. Nun war es nicht mehr aufzuhalten. Es würde allmählich in Schwung kommen, immer stärker, und schließlich den ganzen Planeten überschwemmen. Die Welt würde nicht mehr weiß und, wie die Japaner sagten, »rundäugig« sein, sie würde gelb und ihre Augen würden schmaler werden. Das war wirklich spannend!
Er riss sich von der Zeitung los und versuchte sich das erwachte schwarzhaarige Asien im Bund mit dem aufgeklärten goldhaarigen Europa bildhaft vorzustellen. Und erstarrte. Herein kam, Arm in Arm mit Masa, Elisa. Sie lächelten sich an und flüsterten miteinander.
Raschelnd glitt die Zeitung von Fandorins Schoß.
»Guten Tag, meine Herrschaften«, grüßte die abscheulichste, schönste Frau der Welt. Dann entdeckte sie Fandorin und blickte ihn deutlich verlegen, ja, schüchtern an. Sie hatte nicht erwartet, ihm hier zu begegnen.
Masa dagegen schaute seinen Herrn mit unabhängiger Miene an und reckte stolz das Kinn. Unterm Arm trug er Zeitungen. Den Hang zur Lektüre der Presse hatte er erst kürzlich entwickelt – seit die Journalisten über die »asiatische Entdeckung« des Regisseurs Stern schrieben. Jetzt kaufte Masa gleich am frühen Morgen sämtliche Moskauer Zeitungen.
»Heute stehte nichts dlin. Sie schereiben nur, dass übehmorgen die zeweite Vorestellung ise«, sagte er und legte die Zeitungen auf den Regietisch. »Und dasse das Publikume volleh Ungeduld auf den eleneuten Tliumphe von Flau Lointaine und dem einzigahtigen Gasonow wahtet.« Er zeigte auf eine dick mit Rotstift umrandete winzige Notiz.
Einige Schauspieler traten näher, um zu sehen, ob nicht auch etwas über sie drinstand. Den Mienen nach zu urteilen, war außer den beiden Hauptdarstellern niemand erwähnt worden.
Fandorin, vollkommen niedergeschmettert ob dieses neuerlichen – doppelten! – Verrats, biss die Zähne zusammen. Dass er sich mit seinem Freund hätte versöhnen wollen, war vergessen. Er wollte nur noch eines – fort von hier. Aber das konnte er unauffällig erst nach Beginn der Probe tun, und die fing seltsamerweise noch immer nicht an.
Dewjatkin trat auf die Bühne.
»Noah Nojewitsch hat telefoniert. Er bittet um Entschuldigung. Er ist noch bei Herrn Schustrow.«
Die Schauspieler, die sich bereits in die erste Reihe gesetzt hatten, standen wieder auf und zerstreuten sich im Saal.
Die Intrigantin Lissizkaja ging zum Regietisch, an dem wie zwei Turteltäubchen die beiden Hauptdarsteller saßen. Sie griff nach der Zeitung »Stolitschnaja molwa6 und bat mit zuckersüßer Stimme: »Lieber Gasonow, lesen Sie uns doch etwas Interessantes vor.«
»O ja, ich höre Ihnen auch so gern zu!«, unterstützte sie Mefistow, den gewaltigen Mund zu einem Lächeln verzogen.
Der Japaner ließ sich nicht lange bitten.
»Wase solle ichi lesen?«
»Egal, irgendetwas.« Die Lissizkaja zwinkerte Mefistow heimlich zu. »Sie haben eine so klangvolle Stimme! Eine so bezaubernde Aussprache!«
Bei anderer Gelegenheit hätte Fandorin den beiden Spöttern nicht erlaubt, seinen Freund derart zu verhöhnen, nun aber verspürte er böse Schadenfreude. Sollte dieser aufgeblasene Puter, dieser frischgebackene Star sich doch vor Elisa und allen anderen zum Gespött machen! Das war etwas anderes, als ohne ein einziges Wort Text über die Bühne zu hüpfen!
Masa liebte den Klang seiner eigenen Stimme sehr und wunderte sich deshalb nicht über die Bitte. Mit Vergnügen schlug er die Zeitung auf, räusperte sich und las mit der Intonation eines geübten Deklamators alles, was ihm unterkam. Ganz oben waren Annoncen in dekorativen Rahmen abgedruckt – auch sie ließ er nicht aus.
Er begann mit der Reklame der Pastille »Nüchternheit«, die eine Heilung der Trunksucht versprach, und las ausdrucksvoll den Text von Anfang bis Ende.
»Eine übehwältigende Zahl schelimmeh Telinkeh schickte uns Dankesagungen, begeisteht von deh wundehtätigen Kelaft deh Pastille.«
»Schon probiert, diese Pille«, brummte Rasumowski. »Hilft kein bisschen. Nichts als Sodbrennen.«
Nicht weniger gefühlvoll las Masa den Aufruf des »kulasse Künstelehs W. Leonardow«, sich bei ihm für einen Kurs in Malerei und Zeichnen anzumelden.
»Was heißt kulasse«, fragte er.
»Das heißt sehr gut, sehr schön«, erklärte Mefistow, ohne mit der Wimper zu zucken. »Von Ihnen könnte man sagen: ein kulasse Schauspieler.«
Erast Petrowitsch runzelte die Stirn. Er sah, mit was für einem spöttischen Lächeln einige der Schauspieler Masa zuhörten, doch das bereitete dem Eifersüchtigen nicht die erwartete Genugtuung.
Aber nicht alle amüsierten sich über die komische Aussprache des Japaners. Die Klubnikina zum Beispiel lächelte verträumt.
Vermutlich steigerte Fremdgehen in den Augen einer Frau ihres Schlages nur noch den Wert ihres Liebhabers. Mit einem gerührten Lächeln lauschte auch die Grande Dame Reginina dem Vorleser.
»Ach, lesen Sie doch etwas über Tiere vor«, bat sie. »Ich liebe die Rubrik ›Neues aus dem Zoologischen Garten‹ auf der letzten Seite.«
Masa blätterte um.
»Übehfall eineh Riesenschelange auf Doketuh Sidolow.«
Er las nicht nur vor, nein, er gestaltete die ganze schreckliche Szene des Angriffs der Python auf den Leiter des Terrariums anschaulich nach. Der Doktor war in die Hand gebissen worden, und das Reptil hatte erst losgelassen, als es mit Wasser überschüttet worden war.
»Wie furchtbar!« Die Reginina griff sich an die üppige Brust. »Ich muss gleich wieder an die schreckliche Schlange im Blumenkorb denken! Ich weiß gar nicht, wie Sie das ausgehalten haben, Elisa. Wirklich, ich wäre auf der Stelle tot umgefallen!«
Frau Lointaine wurde blass und kniff die Augen zusammen. Masa (dieser Frechling!) stand auf, streichelte ihr beruhigend die Schulter und las weiter – von einem neugeborenen Löwenjungen, das von der Mutter nicht angenommen worden war. Gerettet wurde es von einer Mischlingshündin, die es mit ihrer Milch aufzog.
Diese Notiz gefiel der Reginina weit besser.
»Wie reizend – ein winziges Löwenjunges! Und diese wundervolle, großherzige Hündin! Wirklich, ich würde gern hinfahren und mir das ansehen!«
Beflügelt vom Erfolg, sagte Masa:
»Hieh ise noch eine seh intelessante Notize. ›Das Leben deh Bälen in Gefah‹.« Dann las er einen Artikel über die rätselhafte Erkrankung zweier Braunbären vor, deren Geheimnis der Tierarzt Tobolkin gelüftet hatte. Es wurde vermutet, die Tiere hätten die Pest, aber Masa verkündete den Zuhöreren freudig: ›Nach Ansichte des Doketuhs lüht die Klankeheit von übehmäßigeh Onanie, der sich die Bälen von felüh bis späte hingaben. Das ist bei Bälen lecht selten, häufig abeh bei Affen und Kamelen anezuteleffen.‹ Das ise wah! Ichi habe selbse im Dschungel ofte gesehen, wie die Äffechen …«
Er stockte, sein rundes Gesicht spiegelte Unverständnis: Wieso wandte sich Wassilissa Prokofjewna plötzlich empört ab, während die Intriganten hysterisch lachten?
Da tat der Ärmste Fandorin leid. Die Unterschiede im Erziehungskodex, in den von Kindheit an aufgesogenen Vorstellungen davon, was anständig war und was unanständig, waren eine schwer zu überwindende Hürde. Seit fast dreißig Jahren lebte der einstige Junge aus Yokohama nun fern von seinem Japan, konnte sich aber noch immer nicht an die Regeln der »Rothaarigen« gewöhnen. Mal sagte er etwas aus der Sicht der Grande Dame Skandalöses, dann wieder wurde er selbst schamrot wegen etwas aus westlicher Sicht vollkommen Harmlosem – zum Beispiel, weil eine sitzende Frau ihren Schirm fallen gelassen und ihn mit der Fußspitze zu sich herangezogen hatte (unglaublich vulgär!).
Von Mitleid zu Verständnis ist es nur ein Schritt. Erast Petrowitsch schaute den erröteten Masa an – und fühlte sich, als würden ihm die Augen geöffnet. Der Japaner hatte sich absichtlich an Elisa herangemacht und war auch nicht zufällig nach einer nicht zu Hause verbrachten Nacht mit ihr zusammen hergekommen! Das war nicht die Tat eines Verräters, im Gegenteil, das war die Tat eines treuen Freundes. Da Masa seinen Herrn gut kannte und sah, in welch elendem Zustand der sich befand, wollte er ihn von seiner zerstörerischen Obsession auf brutale, aber wirksame Weise kurieren. Und zwar nicht mit Worten, die hätten ohnehin nichts ausgerichtet. Stattdessen demonstrierte er Fandorin, was die Frau wert war, die – ausschließlich dank einer unheilvollen Verkettung von Zufällen – eine Bresche in das verhornte Herz geschlagen hatte. Dieser kleinen Schauspielerin war es ganz egal, wen sie eroberte – Hauptsache, die Trophäe war präsentabel. Dem jungen Kornett hatte sie den Kopf verdreht, ihn jedoch nicht in ihr Bett gelassen – dafür war er ein zu kleines Licht. Anders ein erfolgreicher Autor oder ein populärer japanischer Schauspieler. Darüber musste man sich nicht wundern oder ärgern. Schließlich hatte Fandorin das von Anfang an gespürt, als er noch über den besten Weg zum Herzen (nein, lediglich zum Körper) von Frau Lointaine nachgedacht hatte. Und es war der Kenner der Frauenherzen Masa gewesen, der ihm diesen Weg gezeigt hatte.
Natürlich! Erast Petrowitsch war nun nicht mehr wütend auf seinen Freund. Nein, er war ihm sogar dankbar.
Trotzdem – zuzuschauen, wie Elisa den Japaner zärtlich anlächelte und dieser nach ihrem Arm griff und ihr etwas ins Ohr flüsterte, war unerträglich.
Ohne einen Assistenten war die geplante Operation undurchführbar. Doch Erast Petrowitsch spürte, dass er Masa nicht mitnehmen konnte und wollte. Allein der Gedanke war ihm zuwider, und er fand auch sogleich eine logische Erklärung für dieses Gefühl. Ein chirurgischer Schnitt, selbst wenn er einem guten Zweck dient, tut weh und blutet. Es braucht Zeit, bis die Wunde verheilt.
»Meine Damen und Herren!«, wandte sich der Regieassistent laut an die Truppe. »Gehen Sie nicht auseinander! Sie wissen doch, Noah Nojewitsch verlangt vor der Probe absolute Konzentration! Lassen Sie uns schon mit der ersten Szene beginnen. Und wenn Noah Nojewitsch kommt, wiederholen wir sie noch einmal.«
»Das hätte er gern«, knurrte Rasumowski. »Eine Probe der Probe – ist ja was ganz Neues.«
Auch die Übrigen ignorierten Dewjatkins Aufruf. Leidend presste der Assistent die Hände auf die Brust – unter dem Ärmel seines zu kurzen Jacketts lugte eine falsche Manschette hervor.
»Keiner von Ihnen liebt die Kunst wirklich!«, rief er. »Sie tun nur so, als würden Sie an Noah Nojewitschs Theorie glauben! Herrschaften, so geht das nicht! Man muss sich voll und ganz seiner Berufung hingeben! Sie wissen doch: ›Die ganze Welt ist eine Bühne!‹ Lassen Sie uns anfangen! Ich übernehme den Text des Erzählers!«
Niemand außer Fandorin hörte ihm zu. Erast Petrowitsch aber hatte plötzlich eine Idee.
Warum sollte er nicht George Dewjatkin zu seiner Operation mitnehmen?
Er hatte natürlich seine Eigenheiten, aber dafür war er sehr mutig – Fandorin brauchte nur an den vergifteten Degen zu denken. Das erstens.
Er war Offizier gewesen. Das zweitens.
In kritischen Situationen verlor er nicht den Kopf, wie die Geschichte mit der Schlange bewiesen hatte. Das drittens.
Und, was besonders wichtig war: Er war nicht geschwätzig. Er hatte niemandem etwas von Fandorins Ermittlungen zum Tod von Smaragdow verraten. Mehr noch: Er hatte ihn danach kein einziges Mal mit Fragen belästigt, obgleich Erast Petrowitsch oft seinen fragenden, forschenden Blick gespürt hatte. Eine für einen Schauspieler höchst seltene Zurückhaltung!
Ja, in der Tat. Den Plan der Operation konnte er korrigieren und die Rolle des Assistenten auf ein Minimum reduzieren. Im Grunde waren Masas Talente – Kampferfahrung, Tatkraft und blitzschnelle Reaktion – hier nicht erforderlich. Zuverlässigkeit und Härte würden genügen. Und über diese Eigenschaften schien George durchaus zu verfügen. Nicht umsonst hatte Stern ihn zu seinem Assistenten gemacht.
Das Gespräch mit dem Regieassistenten bestätigte Fandorin in seinem spontan gefassten Entschluss.
Erast Petrowitsch führte den enttäuschten Dewjatkin in einen Seitengang der Bühne.
»Sie haben mir k-kürzlich Ihre Hilfe angeboten. Nun ist die Stunde gekommen. Sind Sie bereit? Aber ich muss Sie warnen: Die Sache birgt ein gewisses Risiko.« Er korrigierte sich. »Ich w-würde sogar sagen, ein erhebliches Risiko.«
Dewjatkin dachte keinen Augenblick nach.
»Ich stehe ganz zu Ihrer Verfügung.«
»Sie fragen nicht einmal, was ich von Ihnen will?«
»Das ist nicht nötig.« George schaute ihn mit seinen runden Augen an, ohne zu blinzeln. »Erstens sind Sie ein Mann mit Erfahrung. Ich habe gesehen, mit welchem Respekt der Polizeibeamte Sie angehört hat.«
»Und zweitens?«, fragte Fandorin neugierig.
»Zweitens können Sie nichts Unwürdiges von mir verlangen. Sie haben eine noble Seele. Das erkennt man an Ihrem Stück und an Ihrer ganzen Art. Besonders weiß ich es zu schätzen, dass Sie sich nach unserem Gespräch letztlich einer gewissen Person gegenüber tadellos verhalten haben. Und dass Sie niemandem von meiner unglückseligen Schwäche (ich rede von Mademoiselle Durowa) erzählt haben. Kurz, was Sie auch vorhaben – ich bin bereit, Ihnen zu folgen. Umso mehr, wenn es etwas Gefährliches ist.« Der Assistent reckte stolz das Kinn. »Wenn ich ablehnte, würde ich mich selbst nicht mehr achten.«
Er war natürlich ein wenig lächerlich mit seinem hochtrabenden Pathos, aber zugleich auch rührend. Fandorin, der immer sorgfältig auf seine Garderobe achtete, bemerkte selbstverständlich, dass Dewjatkin ärmlich gekleidet war: Das Jackett war sauber, aber abgetragen; kein Hemd, sondern nur eine Hemdbrust; die Schuhe geputzt, aber die Absätze geflickt. Noah Nojewitsch entlohnte seinen Assistenten nicht eben großzügig – vermutlich nach der »dritten Gruppe«, entsprechend den Rollen, die er spielte.
Und das nur, dachte Fandorin, weil in Sterns Menschheitsmodell eine wichtige Figur fehlte. Sie war recht exotisch, doch ohne sie war die Palette der Rollenfächer unvollständig und das Leben ohne Würze. Wobei diese Gestalt in der Literatur häufiger anzutreffen war als im täglichen Leben. George wäre die ideale Besetzung für den »edlen Sonderling« – Don Quichotte, Tschazki7, Fürst Myschkin.
Zweifellos konnte Dewjatkins Tolpatschigkeit zu unvorhersehbaren Problemen führen. Erast Petrowitsch versprach sich in Gedanken, die Rolle seines Assistenten extrem zu vereinfachen. Zu einer ernsthaften Operation nahm er lieber einen linkischen, aber edlen Menschen mit als irgendeinen selbstsüchtigen Polizisten, der im letzten Moment beschließt, dass ihm das Hemd näher ist als der Rock. Ein Mensch mit einem ausgeprägten Ehrgefühl konnte einen anderen wohl aus Fahrlässigkeit im Stich lassen, niemals aber aus Niedertracht oder Feigheit.
Wie viel leichter das Leben doch wäre, wenn jeder Mensch Achtung vor sich selbst hätte, dachte Fandorin nach dem Gespräch mit dem Assistenten.
Es gab eine menschliche Spezies, der Erast Petrowitsch stets mit Abscheu begegnete – Menschen, die ohne die geringste Scheu von sich sagten: »Ich weiß, dass ich Dreck bin.« Und das sogar als mutig empfanden, als eine besondere Art von Ehrlichkeit. Allerdings folgte diesem gnadenlosen Bekenntnis meist der Satz: »Und alle um mich herum sind ebenso Dreck, aber sie verstecken sich hinter schönen Worten.« Hinter jeder edlen Tat sucht ein solcher Mensch ein niederes Motiv und wird sehr wütend, wenn er es nicht sofort erkennt. Doch schließlich findet er natürlich etwas und atmet erleichtert auf. »Lasst gut sein!«, sagt er dann. »Mir macht man nichts vor. Wir sind alle aus dem gleichen Holz geschnitzt.« Der Philantrop ist großzügig, weil er sich anderen überlegen fühlt. Der Humanist führt nur schöne Reden, in Wirklichkeit ist er durch und durch falsch und will nichts als bewundert werden. Wer wegen seiner Überzeugungen zur Zwangsarbeit geschickt wird, ist lediglich dumm wie Bohnenstroh. Der Märtyrer geht in den Tod, weil es Subjekten dieses Typs eine perverse Befriedigung bereitet, sich zu opfern. Und so weiter. Ohne derartige Auslegungen könnten Menschen, die sich bereitwillig als Dreck bezeichnen, nicht leben – das würde ihr ganzes Weltbild zerstören.
Die Operation Hirschpark
Auf dem Weg dorthin bat Fandorin seinen Partner, ihm noch einmal das Ergebnis seines Trainings zu demonstrieren. Es war Abend, fast schon Nacht, der Isotta jagte an den Brachen und Baracken der traurig berühmten Straßen von Sokolniki vorbei, und der Nachtigallentriller, den Dewjatkin erzeugte, indem er die zu einem Ring zusammengelegten Finger an die Zähne legte, klang unheilvoll. Sollte irgendwo in der Nähe ein später Passant durch die Dunkelheit stolpern, sank dem Ärmsten bestimmt das Herz in die Hose.
Nach der Probe hatte sich Fandorin mit Dewjatkin in eine leere Garderobe zurückgezogen und ihn in die Ergebnisse seiner Ermittlungen eingeweiht.
Die Abfolge der Ereignisse sah nach Fandorins Überlegungen folgendermaßen aus:
Aus Eifersucht und Neid auf den Erfolg seiner Partnerin arrangiert Smaragdow den üblen Scherz mit der Schlange.
Zar beauftragt seinen Gehilfen, herauszufinden, wer das getan hat. Mr. Swist berichtet dem Chef von der Schuld des Schauspielers. Weil Zarkow weiß, dass der Erfolg des höchst einträglichen Gastspiels in erster Linie von Elisa abhängt, und fürchtet, Smaragdow könne sie weiterhin schikanieren, befiehlt er, die Bedrohung zu beseitigen. Seiner Ansicht nach (die sich als richtig erweist) ist der Verlust Smaragdows für die Truppe nicht weiter schlimm. Als Swist mit dem Wein bei Ippolit auftaucht, ahnt der Schauspieler nichts Böses. Vermutlich hatten sie auch früher schon miteinander getrunken. Der ehemalige Polizist streut Gift in den Chateau Latour. Ohne den Riss im zweiten Kelch hätte niemand an einem Selbstmord gezweifelt.
Der zweite Mord war nicht ganz so klar. Offenkundig schuldete Limbach dem Kontor viel Geld, wollte es nicht zurückzahlen und verweigerte jede Erklärung – eine solche Szene hatte Fandorin vor dem Theater beobachtet. Während der Premiere der »Zwei Kometen« erfuhr Swist irgendwie, dass Limbach sich in Elisas Garderobe geschlichen hatte und dort auf sie wartete – wahrscheinlich, um sie unter vier Augen zu beglückwünschen. Nun konnte der Kornett einem Gespräch nicht mehr ausweichen. Womöglich war der Streit ausgeartet, und Swist sah sich genötigt, das Klappmesser zu benutzen. Es war vermutlich kein vorsätzlicher Mord gewesen, sonst hätte der Täter das Opfer gleich getötet. Stattdessen war er in Panik auf den Flur hinausgerannt und hatte dort gewartet, bis der Verwundete verstummte. Den Zweitschlüssel hatte wahrscheinlich der Kornett anfertigen lassen, um in die Garderobe zu gelangen. Und Swist hatte das vermutlich während ihrer stürmischen Auseinandersetzung erfahren. Während er die Tür festhielt, damit der Verwundete nicht in den Flur hinauslaufen konnte, reifte in Swist ein Plan. Wenn er die Tür von innen mit dem Schlüssel vom Brett abschloss und der zweite Schlüssel bei dem Toten gefunden wurde, wären alle überzeugt, dass Limbach sich selbst eingeschlossen und sich selbst den Bauch aufgeschlitzt hatte. Dafür musste er dem Toten nur das Messer in die Hand drücken, was er auch tat. Allerdings hatte er, genau wie bei der Sache mit dem undichten Kelch, auch diesmal etwas übersehen. Er hatte nicht bemerkt, dass der Sterbende die ersten Buchstaben des Namens »Lipkow« mit Blut an die Tür geschrieben hatte, was letzten Endes die Polizei (so Fandorin in aller Bescheidenheit) auf die Spur gebracht hatte.
Dewjatkin lauschte ihm mit gespannter Aufmerksamkeit.
»Wenn das alles vorbei ist, müssen Sie ein Stück darüber schreiben«, erklärte er. »Das wird eine Sensation – ein Kriminaldrama auf den frischen Spuren des Verbrechens! Noah Nojewitsch wird die Idee gefallen. Und dem profitgierigen Schustrow erst recht. Ich würde gern den Swist spielen! Schreiben Sie diese Rolle für mich?«
»Spielen Sie erst einmal sich selbst«, bremste ihn Fandorin und bedauerte im Stillen bereits, sich mit einem Schauspieler eingelassen zu haben. »Heute Nacht. Aber denken Sie daran: In unser beider Stück k-kann ein Misserfolg mit dem Tod enden. Mit echtem Tod.«
Nicht im Geringsten eingeschüchtert, rief George: »Dann lassen Sie uns proben! Was soll ich tun?«
»Kunstvoll pfeifen. Betrachten Sie es als Vorbereitung auf die Rolle des Mr. Swist. Jede Moskauer Bande, die etwas auf sich hält, hat ihre eigene Art der Kommunikation. Wie in der Tierwelt erfüllt dabei ein Tonsignal eine doppelte Funktion: sich den Eigenen zu erkennen zu geben und Fremde einzuschüchtern. Ich besitze eine ganze Kollektion von Banditenpfiffen. Die Sucharew-Bande eines gewissen Zirkatsch, d-den unsere Freunde vor einiger Zeit von der Futterkrippe verdrängt haben, benutzt diesen Triller.« Erast Petrowitsch legte die Finger auf eine besondere Weise zusammen und erzeugte einen gellenden, forschen Pfiff, der frech durch das leere Theater hallte. »Nun, probieren Sie es einmal.«
»Wozu?«, fragte Dewjatkin nach kurzem Überlegen.
»Wir sollten uns über eines einigen.« Fandorin lächelte höflich. »Wenn ich Ihnen einen Auftrag gebe, dann überlegen Sie nicht lange und fragen nicht ›wozu‹, sondern tun es einfach. Sonst k-könnte unser Vorhaben übel enden.«
»Wie beim Militär? Befehle werden nicht diskutiert, sondern ausgeführt? Zu Befehl.«
Der Assistent bat den Kommandeur, ihm den Pfiff noch einmal vorzuführen, und zu Fandorins Erstaunen gelang ihm der Kampfruf der Sucharew-Bande bereits beim ersten Versuch recht gut.
»Bravo, George. Sie haben Talent.«
»Ich bin schließlich Schauspieler. Nachahmen ist mein Beruf.«
Bis zur Nacht hatte George es durch fleißiges Üben zu wahrer Meisterschaft gebracht, was er nun auch eifrig demonstrierte.
»G-genug! Mir werden schon die Ohren taub.« Erast Petrowitsch nahm die Hand vom Lenkrad und gebot dem begeisterten Pfeifer mit einer Geste Einhalt. »Das können Sie ausgezeichnet. Zarkow und seine Wachen werden überzeugt sein, dass die Sucharew-Bande sie überfällt. Und nun wiederholen Sie noch einmal, was Sie tun werden.«
»Zu Befehl.« Dewjatkin legte militärisch die Hand an die keck schräg aufgesetzte Schirmmütze, die er eigens für diese Operation erhalten hatte. Mit solchen Kopfbedeckungen schmückten sich die Gauner vom Sucharew-Markt, im Unterschied zu denen vom Chitrow-Markt, die achteckige Käppis bevorzugten, oder denen aus der Gratschowka, bei denen es als schick galt, barhäuptig herumzulaufen.
»Ich sitze im Gebüsch auf der Südwestseite des Hauses …«
»Dort, wo ich es sage«, korrigierte Fandorin.
»Dort, wo Sie es sagen. Ich schaue auf die Uhr. Nach genau 300 Sekunden beginne ich zu pfeifen. Wenn Leute aus dem Haus gerannt kommen, schieße ich zwei Mal.« Der Assistent zog eine Nagant-Offizierspistole aus dem Gürtel. »In die Luft.«
»Nicht irgendwie in die Luft, sondern senkrecht nach oben, in Deckung hinter einem Baumstamm. Sonst können die ›Pinscher‹ am Mündungsfeuer ausmachen, wo Sie sich befinden, und gezielt losfeuern.«
»Jawohl.«
»Und dann?«
»Dann beginne ich mit dem Rückzug in Richtung Jausa und schieße dabei hin und wieder.«
»Nach wie vor in die Luft. Wir haben nicht vor, jemanden zu töten. Sie sollen nur die Wachposten ablenken.«
»Jawohl. In der Taktik heißt das ›die Hauptkräfte des Gegners auf sich lenken‹.«
»Genau.« Erast Petrowitsch warf einen zweifelnden Blick auf seinen Assistenten. »Lassen Sie sie um Gottes willen nicht zu nahe herankommen. K-keine Bravourstückchen. Ihre Aufgabe ist es, sie bis zum Fluss zu locken, dort hören Sie auf zu schießen und laufen davon. Das ist alles. Damit ist Ihre Mission beendet.«
Dewjatkin wandte würdevoll ein: »Herr Fandorin, ich bin Offizier der russischen Armee. Ich kann aus taktischen Erwägungen einen Scheinrückzug antreten, aber davonzulaufen, noch dazu vor irgendwelchen Banditen, ist mir unmöglich. Glauben Sie mir, ich bin zu mehr fähig.«
Was tue ich hier, fragte sich Fandorin. Ich setze das Leben eines Dilettanten aufs Spiel. Und das alles nur, weil ich so idiotisch sauer bin auf Masa. Vielleicht sollte ich die Operation lieber abbrechen, solange es noch nicht zu spät ist?
»Schon gut, Disziplin ist nun mal Disziplin. Der Befehl wird ausgeführt.« Dewjatkin seufzte. »Aber versprechen Sie mir eines: Wenn Sie Hilfe brauchen, signalisieren Sie das mit einem Sucharew-Pfiff, und ich bin unverzüglich zur Stelle.«
»Ausgezeichnet. A-abgemacht. Wenn ich nicht pfeife, heißt das, ich benötige Sie nicht«, sagte Fandorin erleichtert. »Aber machen Sie sich keine Sorgen. Es wird keine Komplikationen geben. Vertrauen Sie meiner Erfahrung.«
»Sie sind der Kommandeur, Sie müssen es wissen«, erwiderte der abgedankte Fähnrich knapp, und Erast Petrowitsch war fast beruhigt.
Nach den Regeln der Psychologie musste er nun, um überflüssige Nervosität abzubauen, das Gespräch auf ein abstraktes Thema lenken. Sie hatten noch rund zehn Minuten Fahrt durch den Sokolniki-Park vor sich. Nieselregen setzte ein – das war günstig für ihre Operation.
»Ich finde es seltsam, dass ein Mann Ihres Schlages den Militärdienst der Bühne wegen aufgegeben hat«, sagte Fandorin in leichtem Plauderton, als seien sie unterwegs zu einem gesellschaftlichen Ereignis. »Die Uniform stand Ihnen bestimmt gut, und eine militärische Karriere passt wunderbar zu Ihrem Charakter. Sie sind doch ein Idealist, ein Romantiker. Das Dasein eines Theaterregisseurs, wie Sie einer werden wollen, läuft im Grunde auf äußerst p-prosaische Dinge hinaus: ob ein Stück gut ist, ob es Kasse macht, ob das Publikum Ihre Schauspieler mag. Den Status eines Theaters bestimmt nicht das Niveau der Kunst, sondern der Preis für eine Karte. Noah Nojewitsch oder auch Stanislawski gelten als Genies, weil auf Ihren Plakaten steht: ›Erhöhte Kartenpreise‹.«
Die Ablenkung durch ein entlegenes Thema war gelungen. Dewjatkin rief hitzig: »Oh, Sie irren sich! Ich bin mit Leib und Seele Theatermensch. Für mich ist einfach die ganze Welt eine Bühne, für mich ist die Bühne das Zentrum des Weltgebäudes, sein ideales Modell, ohne niederes und unnötiges Beiwerk! Ja, alles darin hat, ebenso wie in der gewöhnlichen Welt, seinen Preis. Aber es ist eben ein erhöhter Preis. Er ist höher als der Preis der erbärmlichen Wirklichkeit. Wenn ich auf der Bühne stehe, existiert alles andere nicht mehr! Dann hat nichts Bedeutung – nicht die Zuschauer im Saal, nicht die Stadt hinter den Mauern des Theaters, nicht das Land, nicht der Erdball! Das ist wie die wahre Liebe, wenn man nur eine einzige Frau auf der Welt begehrt. Man bereit ist, in ihr die ganze Menschheit zu lieben, doch ohne sie ist für einen die ganze Menschheit nichts wert und bedeutet einem nichts.«
»Sie übertreiben ein wenig, aber ich v-verstehe, was Sie meinen«, bemerkte Erast Petrowitsch düster.
Dewjatkin knurrte: »Ich übertreibe nie. Ich bin ein exakter Mensch.«
»Nun, dann führen Sie exakt das aus, was wir abgesprochen haben. Wir sind da. Den Rest gehen wir zu Fuß.«
Sie mussten ziemlich weit laufen. Vom Sokolniki-Prospekt zum Hirsch-Haus führte eine lange Allee. Sie mit dem Auto entlangzufahren war selbstredend ausgeschlossen – in der nächtlichen Stille hätte der Motorenlärm die Wachposten alarmiert. Sie liefen schweigend. Jeder dachte an das Seine. Aber vielleicht dachten sie auch beide an ein und dasselbe, überlegte Fandorin plötzlich. Das heißt an ein und dieselbe.
Wegen der tiefhängenden Wolken und des unablässigen Nieselregens war der Weg kaum zu erkennen. Und Fandorin hütete sich, die Taschenlampe einzuschalten. In der dichten Finsternis war selbst ein schwaches Licht weithin zu sehen. Sie orientierten sich an den Silhouetten der Pappeln beiderseits der Allee. Sie gingen zwar nebeneinander, aber nicht im gleichen Schritt. Plötzlich schrie Dewjatkin dumpf auf und verschwand – buchstäblich. In der Tiefe.
»Was ist mit Ihnen?«
»Ich bin hier …«
Der Kopf mit der Schirmmütze tauchte unmittelbar aus dem Boden auf.
»Hier ist ein Graben. Geben Sie mir die Hand …«
Quer über den Weg verlief tatsächlich ein schmaler Graben. Auf der Fahrbahn war er mit Brettern abgedeckt, am Straßenrand jedoch, den die beiden Komplizen benutzten, offen. Erast Petrowitsch hatte Glück gehabt – er hatte ihn überschritten, ohne ihn wahrzunehmen, George dagegen war genau hineingetreten.
»Halb so schlimm, mir ist nichts passiert.« Der Assistent kroch ächzend heraus. »Ich danke Ihnen.«
Der kleine Zwischenfall hatte Dewjatkin anscheinend nicht aus dem Gleichgewicht gebracht. Erast Petrowitsch zollte den Nerven des einstigen Offiziers Anerkennung. Der klopfte sich die Kleider ab und sagte nachdenklich: »Noch vor kurzem hätte ich diesen Sturz als böses Omen gesehen, als ein Zeichen dafür, dass das Schicksal mir nicht wohlgesinnt ist. Erinnern Sie sich, ich sagte Ihnen, ich sei gewohnt, mich stets dem Fatum anzuvertrauen. Aber ich habe meine Ansichten geändert. Daran, dass Sie über den Graben geschritten sind, ich dagegen hineingefallen bin, ist nichts Schicksalhaftes. Sie haben einfach mehr Glück als ich. Wissen Sie, inzwischen denke ich, dass es gar kein Schicksal gibt. Das Schicksal ist blind. Sehend ist nur der Künstler! Alles entscheidet und bestimmt dein eigener Wille.«
»Ich bin mehr oder weniger derselben Ansicht, aber wenn Sie Ihre T-toilette wieder in Ordnung gebracht haben, sollten wir weitergehen. Und schauen Sie um Gottes willen, wo Sie hintreten!«
Als in der Ferne, mitten auf einer kleinen Lichtung, ein Haus mit trübe erleuchteten Fenstern sichtbar wurde, wechselte Fandorin vom Straßenrand ins Gebüsch. Er wollte diese unkomplizierte, aber sich in die Länge ziehende Angelegenheit so rasch wie möglich zu Ende bringen.
»Bleiben Sie hier«, flüsterte er Dewjatkin am Rande der Lichtung zu, hinter einer alten Birke. »Hier haben Sie meine Uhr, sie hat phosphoreszierende Zeiger. Genau fünf Minuten.«
»Zu Befehl.«
George schwenkte munter die Pistole.
Fandorin legte Lederjacke und Kappe ab und trug nun nur noch ein schwarzes Gymnastiktrikot. Er duckte sich, lief auf die Lichtung, dann streckte er sich flach auf dem Boden aus und kroch weiter, wobei er die Sekunden zählte. Bei zweihundert hatte er bereits die richtige Position erreicht, fünfzehn Schritte entfernt von der Treppe, wo sich ein Wachposten langweilte.
Der Plan der Ablenkung der Pinscher war äußerst primitiv, denn Fandorin hielt sich stets an die Regel: Man sollte nichts komplizierter machen als nötig. Seine Gegenspieler waren keine Spione und keine Staatsgegner, nicht einmal eine Bande von Mördern. Diese kleinen Gauner waren nicht darin geübt, Krieg zu führen, es war leicht vorherzusehen, wie sie sich in einer kritischen Situation verhalten würden. Offenbar hatte Zarkow keine Angst vor einem direkten Überfall, sonst hätte er sich nicht an einem so einsamen Ort niedergelassen. Als Garant für ihre Sicherheit betrachteten er und Swist die Mobilität des Kontors und seine Lage weitab von den belebten Stadtvierteln. Umso überraschter würden die Herren über einen Besuch der Sucharew-Bande sein, die sie für besiegt hielten.
Wenn ihn nur der »Theatermensch« nicht im Stich ließ.
Das tat er nicht. Als Fandorin bis dreihundert gezählt hatte, ertönte aus dem Gebüsch ein gellender Pfiff. Der fixe George pfiff sogar in drei verschiedenen Tonlagen, als wären mehrere Mitglieder der Sucharew-Bande in der Nähe. Genau so wären Zirkatschs Leute vorgegangen, hätten sie herausgefunden, wo sich das Kontor befindet, und im Rausch mitten in der Nacht beschlossen, mit ihren Beleidigern abzurechnen. Sie wären mit Droschken zum Park gefahren, doch in unmittelbarer Nähe des Kontors hätte sich ihr Kampfgeist verflüchtigt. Für drohende Pfiffe aus dem Gebüsch hätte ihr Mut gereicht, aber keiner von ihnen hätte sich auf offenes Gelände, ins Schussfeld der Pinscher gewagt.
Der Wachposten stürmte die Treppe herunter und riss seinen Revolver aus der Tasche. Offenbar hatte Mr. Swist nicht eben schüchterne Burschen engagiert. Im Gebüsch knallten zwei Schüsse – Dewjatkin spielte seine Rolle tadellos. Der Pinscher feuerte aufs Geratewohl. Gott sei Dank nicht in die Richtung, wo sich der Assistent versteckte.
Aus dem Haus kamen mit gezückter Waffe die übrigen vier gelaufen.
»Wo sind sie? Wo?«, riefen die Wachen.
Mr. Swist trat aus der Tür – ohne Jackett, mit Hosenträgern. Oben wurde krachend ein Fenster geöffnet. Zarkow schaute heraus. Er trug Schlafrock und Nachtmütze.
»Es ist nichts weiter, Awgust Iwanytsch!« rief Swist hinauf. »Die Sucharewer spielen verrückt. Denen werden wir eine Lehre erteilen. Gescheckter, du bleibst hier. Alle anderen – vorwärts! Versohlt ihnen den Hintern!«
Vier Pinscher stürmten voran, wild um sich schießend. Auch im Gebüsch krachte ein Schuss – bereits ein Stück entfernt.
»Sie hauen ab! Da hinten sind sie!«
Stiefel polterten, Zweige knackten, und die Meute war verschwunden. Die Schüsse und Schreie entfernten sich immer weiter. Bis jetzt lief alles wie geschmiert.
»Was habe ich Ihnen gesagt, Lipkow«, rief Zarkow von oben ärgerlich. »Wir hätten diesen Gorilla, den Sucharewer Zirkatsch, vollständig vernichten müssen. Kommen Sie! Wir müssen reden.«
»Zum Vernichten ist es nie zu spät, Awgust Iwanytsch. Wir werden ihn vernichten.«
Aber Zarkow war nicht mehr am Fenster.
Swist rieb sich betreten die Wange. Er sagte zu dem Wachposten mit dem Spitznamen Gescheckter: »Pass mir ja auf!« und verschwand im Haus.
Inzwischen hatte Fandorin einen Stein von handlicher Größe aufgehoben. Die Kunst des gezielten Steinwurfs beherrschte er seit seiner Zeit in Japan vortrefflich.
Ein dumpfer, satter Laut – und der Herr Gescheckte fiel ohne einen Schrei oder ein Stöhnen von den Stufen. Der Beruf, den er gewählt hatte, barg nun einmal diverse Risiken. Zum Beispiel das einer mittelschweren Gehirnerschütterung.
Lautlos drang Fandorin ins Haus ein. Er durchquerte das Speisezimmer und stand im Büro.
Nein, das ist kein richtiges Abenteuer, dachte er enttäuscht. Das ist bestenfalls etwas aus dem Leben von Detektiv Putilin8.
Er hatte einen ganzen Satz Dietriche mitgenommen, für alle erdenklichen Schlösser, doch die vielgerühmten amerikanischen Schränke ließen sich mit dem ersten, allersimpeltsten öffnen.
Nun denn, sehen wir uns die Geheimnisse des Hofs von Madrid einmal an …
Der erste, in Fächer unterteilte Schrank enthielt sämtliche erlaubten und unerlaubten Vergnügungsbetriebe der alten Hauptstadt (Fandorin taufte ihn sofort »Garten der Lüste«). Es waren sechs Fächer. Auf jedem prangte ein Schild mit einer maschinengeschriebenen Bezeichnung und einem gezeichneten Emblem – eine Augenweide. Das Schild »Theater« mit einer Maske, »Kinematograph« mit einem Scheinwerferstrahl, »Zirkus« mit einem Gewicht, »Restaurants, Wirtshäuser« mit einer Flasche, »Sport« mit einem Boxhandschuh und »Liebe« mit einem Symbol, bei dem Fandorin, kein Freund von Schamlosigkeiten, das Gesicht verzog. Offenbar hatte Subbotin bei weitem keine vollständige Vorstellung vom wahren Ausmaß des Zarkowschen Terrains. Oder Zarkow hatte seit dem letzten Jahr, als der Titularrat seine Informationen über dessen illegales Reich zusammengetragen hatte, seine Einflusssphäre erweitert. Profitable und vielseitige Unternehmen wachsen bekanntlich rasch.
Erast Petrowitsch griff aufs Geratewohl nach einer Mappe aus dem Bereich Sport. Aha, der Kampfsportklub »Samson«. Auf dem Umschlag stand ein Name, in Klammern dahinter: nomineller Inhaber; ein zweiter Name, dahinter: Besitzer und der Vermerks. Personal. Der Hefter enthielt Daten, Zahlen, Summen, eine Liste der Kampfsportler und der jeweiligen Zahlungen. Offenkundig verdiente Zarkow nicht nur an den Eintrittskarten, sondern auch an den vertraglich vereinbarten Kämpfen. Alles war unverschlüsselt – ein sicheres Zeichen dafür, dass der Betreiber des Archivs sich sicher fühlte und keine Angst vor überraschenden Besuchen der Polizei hatte.
Rasch und mit Gelassenheit agierend, lauschte Fandorin zugleich aufmerksam, ob vielleicht die Treppe knarrte. Noch immer krachten Schüsse, aber in beträchtlicher Entfernung, die Schreie waren kaum noch zu hören. Großartig – anscheinend hatte Dewjatkin die Pinscher schon bis an die Jausa gelockt.
Den zweiten Schrank würde man nach Bibliotheksgepflogenheiten Schlagwort- und Personenkatalog nennen. Die Fächer trugen Aufschriften wie Schauspieler, Schuldner, Freunde, Informanten, Klienten, Mädchen, Jungen, Eigene, Sportler und so weiter – insgesamt mindestens zwanzig. Hier gab es keine verspielten Bildchen, alles war ganz sachlich. Auch hier standen Mappen, nach Namen geordnet. Erast Petrowitsch sah flüchtig die Kategorie »Freunde« durch und schüttelte nur den Kopf: Fast die gesamte Moskauer Stadtverwaltung, Abgeordnete der Stadtduma, eine große Zahl Polizeibeamter. Wer davon auf Zarkows Gehaltsliste stand und wer nur dessen Liebenswürdigkeiten genoss, konnte er in der Kürze der Zeit nicht ermitteln. Erst musste er sich um seinen Fall kümmern.
Er öffnete das Fach mit der Aufschrift Schuldner und fand unter L das Gesuchte: Limbach, Wladimir Karlowitsch, geb. 1889, St. Petersburg, Kornett des Leibhusarenregiments. Auf einem tabellarisch angelegten Blatt Papier waren Summen verzeichnet, von fünfzig bis zu zweihundert Rubeln. Einige davon waren durchgestrichen und mit dem Vermerk begl. versehen. An einer Stelle stand: Blumenstrauß für 25 Rub. Die letzten beiden Einträge lauteten: 4. 10. Verhältnis mit Altaïrskaja-Lointaine (?). Vorschlag unterbreiten.
5. 10. Er hat abgelehnt. Maßnahmen ergreifen.
Nun, das war es dann wohl. Das Gerücht, Limbach sei Elisas Liebhaber geworden, hatte Zarkow wahrscheinlich beunruhigt. Die Geschichte mit Smaragdow zeigte, dass der Untergrundgeschäftsmann sehr auf diese Schauspielerin setzte. Genau wie der Millionär Schustrow hielt er sie offensichtlich für sehr vielversprechend. (Dieser Gedanke freute Fandorin: Immerhin hatte ihm nicht eine gewöhnliche Kokotte den Verstand geraubt, sondern eine große Schauspielerin, eine wirklich herausragende Frau.) War der unberechenbare und für Elisa gefährliche Partner einfach beseitigt worden, so hatte man dem aufdringlichen Kornett zunächst »einen Vorschlag« unterbreitet: Vielleicht, dass seine Schuld als beglichen gelte, wenn er die Schauspielerin in Ruhe ließe. Oder im Gegenteil: Limbach sollte Informant werden und Zarkow über Verhalten und Stimmungen der Diva unterrichten. Vor dem Theater war Fandorin zufällig Zeuge dieser Auseinandersetzung (oder einer davon) geworden. Limbach hatte sich geweigert (»Ich bin Offizier der kaiserlichen Garde!«). Das nächste Gespräch mit Mr. Swist hatte mit einem Streit und einem Messer geendet.
Für alle Fälle warf Erast Petrowitsch auch einen Blick in das Fach Schauspieler, fand jedoch dort nichts über Smaragdow. Was nicht weiter verwunderlich war – wozu ein Dossier über jemanden aufheben, der längst auf dem Friedhof lag?
Er konnte sich nicht beherrschen und griff nach Elisas Mappe. Er erfuhr einiges Neues über sie. Zum Beispiel ihren Geburtstag (1. Januar 1882); in der Spalte Vorlieben stand: Parfüm mit Parmaveilchen-Duft, die Fabe Lila; kein Geld schicken, keine silbernen Vasen; mag Elfenbein. Er erinnerte sich, dass sie oft raffinierte Spangen aus etwas Weißem im Haar trug. Und der Veilchenduft, den er für ihren natürlichen Duft gehalten hatte, kam also von einem Parfüm? Bei der Spalte Liebhaber runzelte Fandorin die Stirn. Dort standen zwei Namen. Der erste, sein eigener, war durchgestrichen, der zweite, Limbach, mit einem Fragezeichen versehen.
Doch das alles waren Lappalien ohne jede Bedeutung. Das Wichtigste war – seine Hypothese hatte sich bestätigt, er konnte also den nächsten Schritt tun und zur direkten Klärung schreiten.
Sollten die Pinscher mitten im Gespräch zurückkehren, wäre das nicht weiter schlimm. Diese Kleinganoven waren für einen echten Profi keine ernsthafte Gefahr. Trotzdem legte Erast Petrowitsch seinen kompakten flachen Browning auf den Tisch und deckte ihn mit einem Blatt Papier zu. Er setzte sich in einen Sessel, schlug die Beine übereinander, zündete sich eine Zigarre an, und dann rief er laut: »He, Sie da oben! Genug geflüstert! Kommen Sie herunter!«
Das undeutliche Gemurmel im ersten Stock verstummte.
»Hurtig, meine Herren! Ich bin’s, Fandorin!«
Krachend fiel ein Stuhl um. Polternde Schritte auf der Treppe. Swist kam ins Büro gestürmt, eine Mauser in der Hand. Beim Anblick des friedlich paffenden Besuchers erstarrte er. Zarkow tauchte hinter dem Rücken seines Gehilfen auf – noch immer im Schlafrock, aber ohne Nachtmütze, die Glatze umrahmt von zerzaustem Haar.
»Setzen Sie sich, Awgust Iwanowitsch«, sagte Fandorin friedfertig, ohne die Mauser zu beachten. Seine entspannte Pose täuschte: Bei der geringsten Regung von Mr. Swists Zeigefinger wäre der Sessel sofort leer gewesen. Die Kugel hätte das Polster getroffen. Die schwierige Kunst des blitzschnellen Ortswechsels hatte sich Erast Petrowitsch einst perfekt angeeignet und bemühte sich, stets in Form zu bleiben.
Nach einem vielsagenden Blick auf seinen Assistenten trat der Herrscher über die Vergnügungswelt von ganz Moskau vor und stellte sich vor den ungebetenen Gast. Swist zielte noch immer auf den Sitzenden.
Umso besser. Das Gegenüber sollte sich ruhig in der Illusion wiegen, die Situation zu beherrschen und das Gespräch jederzeit abbrechen zu können – auf für Fandorin fatale Weise.
»Ich habe Ihren Besuch erwartet. Allerdings unter weniger extravaganten Umständen.« Zarkow wies mit einer Kopfbewegung zum Fenster, durch das noch immer Schüsse zu hören waren, wenn auch seltener. »Mir ist bekannt, dass Sie einen Verdacht gegen mich hegen. Ich weiß eigentlich nicht einmal, welchen. Wir hätten ganz zivilisiert ein Treffen verabreden können, und ich hätte Sie überzeugt, dass Sie sich irren.«
»Ich wollte zuerst in Ihr Archiv schauen«, erklärte Fandorin.
Erst jetzt bemerkte Zarkow die offenen Schränke. Sein rundes Gesicht verzerrte sich vor Zorn.
»Egal, wer Sie sind, und wenn Sie tausendmal Nick Carter wären oder Sherlock Holmes, das ist eine Frechheit, für die Sie sich verantworten werden!«, zischte Zarkow.
»Dazu bin ich b-bereit. Aber zuerst antworten Sie mir. Ich beschuldige Sie – oder, um juristisch korrekt zu sein, Ihren wichtigsten Mitarbeiter – zweier Morde.«
Lipkow stieß einen ironischen Pfiff aus.
»Ob zwei Morde oder drei, macht keinen Unterschied«, sagte er drohend. »Warum so kleinlich sein?«
»Warten Sie.« Mit erhobenem Finger bedeutete Zarkow Swist, sich nicht einzumischen. »Warum sollte ich Smaragdow töten und diesen – wie hieß er gleich …« Er schnippte mit den Fingern, als könne er sich nicht an den Namen erinnern. »Nun, diesen Husaren … Teufel, ich weiß nicht einmal mehr, wie er heißt!«
»Wladimir Limbach, und das wissen Sie sehr gut. In Ihrem Archiv existiert ein D-dossier mit interessanten Aufzeichnungen.« Fandorin zeigte auf die Mappe. »Beginnen wir also mit Limbach.«
Zarkow griff nach der Mappe, schaute hinein und zupfte an seinem spanischen Bärtchen.
»In meiner Kartei steht so mancher … Soll ich mir etwa jede Kleinigkeit merken? Ach ja, Kornett Limbach. ›Einen Vorschlag unterbreiten.‹ Ich erinnere mich.«
»Bravo? Und worin bestand der? Dass der Junge Frau Lointaine nicht mehr belästigen sollte? Doch der Junge war widerspenstig?«
Zarkow, der immer wütender wurde, schleuderte das Dossier wieder auf den Tisch.
»Sie dringen mitten in der Nacht bei mir ein! Inszenieren ein Affentheater mit Pfiffen und Schießereien! Sie wühlen in meinen Papieren und wagen auch noch, von mir Erklärungen zu verlangen? Ich brauche nur mit den Fingern zu schnippen, und Sie landen im Jenseits.«
»Ich verstehe gar nicht, warum Sie das bis jetzt nicht getan haben«, bemerkte Mr. Swist.
»Man hat mir gesagt, Sie seien ein Genie des Scharfsinns«, zischte Zar, den Einwurf ignorierend. »Aber Sie sind nur ein eingebildeter, aufgeblasener Idiot. So etwas – in mein Kontor einzudringen! Wegen eines solchen Unsinns! So lassen Sie sich gesagt sein, Sie Leuchte des Spürsinns, dass …«
»Die Pistole weg! Ich schieße!«, dröhnte eine Stimme hinter Lipkow.
In der Tür zum Speisezimmer stand George Dewjatkin. Sein Nagant zielte auf Mr. Swist.
»Erast Petrowitsch, ich bin rechtzeitig zur Stelle!«
»Teufel! Wer hat Sie gebeten, sich einzu…«
Fandorin brachte den Satz nicht zu Ende. Lipkow drehte sich blitzschnell um und reckte die Hand mit der Mauser. Der Assistent schoss als Erster, doch der ehemalige Polizist war schneller und sprang zur Seite. Die Mauser krachte trocken, weit leiser als der Nagant. Ein metallisches Klingen zeigte an, dass die Kugel die Türangel getroffen hatte, Splitter flogen herum, einer traf Dewjatkin an der Wange.
Erast Petrowitsch hatte keine Wahl. Er griff nach dem Browning unter dem Blatt Papier, bevor Swist noch einmal auf den Abzug drücken konnte, und schoss ihm in den Hinterkopf. Die bisher so erfolgreich angelaufene Operation war in einem einzigen Augenblick zu einer Katastrophe geworden.
Der tödlich getroffene Lipkow fiel gegen den Schrank und rutschte zu Boden. Die Pistole entglitt seinen leblosen Fingern.
Herr Zarkow dagegen entfaltete eine überraschende Kühnheit. Er raffte den Saum seines Schlafrocks, nahm Anlauf und sprang mit einem gellenden Schrei aus dem Fenster. Die Vorhänge wehten, die Fensterscheiben klirrten, und der Herrscher über die Vergnügungswelt von Moskau verschwand im Dunkel der Nacht. Statt ihm nachzujagen, stürzte Fandorin zu George.
»Sind Sie verwundet?«
»Das Schicksal beschützt den Künstler«, sagte Dewjatkin und zog sich den Splitter aus der blutenden Wange. »So viel zur Frage des Fatums …«
Fandorins Erleichterung schlug unvermittelt in Wut um.
»Warum sind Sie zurückgekommen? Sie haben alles verdorben!«
»Meine Verfolger haben sich am Ufer zerstreut, und ich dachte, ich müsse mich überzeugen, ob bei Ihnen alles in Ordnung ist. Ich wollte Sie nicht stören … Die Tür stand sperrangelweit offen, die Schreie … Ich habe nur hineingeschaut, und da sehe ich – er zielt auf Sie, gleich wird er schießen. Aber wieso rechtfertige ich mich!«, rief Dewjatkin empört. »Ich habe Ihnen das Leben gerettet, und Sie …«
Was hatte es für einen Sinn, mit ihm zu streiten? Fandorin knirschte nur mit den Zähnen. Schließlich war er selbst schuld. Er hatte gewusst, wen er da mitnahm!
Er lief hinaus auf die Treppe, aber Zarkow war natürlich spurlos verschwunden. Ihn im dunklen Park zu jagen war ein sinnloses Unterfangen.
Wieder zurück im Büro, rief Fandorin Subbotin zu Hause an – Gott sei Dank musste neuerdings jeder Kriminalbeamte einen Telefonapparat zu Hause haben. Fandorin berichtete kurz, was geschehen war. Subbotin versprach, Polizisten aus dem nächstgelegenen Revier vorbeizuschicken und auch selbst zu kommen.
Zu seinem Assistenten sagte Erast Petrowitsch: »Gehen Sie. Aber um Gottes willen auf einem anderen Weg – in Richtung Prospekt. Vermutlich sind die Pinscher schneller hier als die Polizei.«
»Ich denke gar nicht daran.« Dewjatkin verband sich die Wange mit einem riesigen Taschentuch und sah nun noch mehr aus wie der Ritter von der traurigen Gestalt. »Dass ich Sie hier alleinlasse? Niemals!«
Ach, wie sehr mir Masa fehlt, dachte Erast Petrowitsch wehmütig.
Seltsamerweise kam die Polizei zuerst. Obwohl – das war vielleicht gar nicht so seltsam – vermutlich hatten die Pinscher auf ihrem Weg zum Haus Zarkow getroffen und sich mit ihm zusammen aus dem Staub gemacht. Fandorin konnte sich Zarkow nur schwer als einen Feldherrn vorstellen, der den Sturm auf eine befestigte Stellung befehligte.
Um keine Zeit mit Warten zu verlieren – auf einen Angriff oder auf Hilfe –, befahl Fandorin seinem Assistenten, die Zugänge zum Haus zu beobachten, während er selbst sich an ein genaueres Studium des Archivs machte. Als Subbotin mit einer Droschke eintraf (rund eine halbe Stunde nach den örtlichen Polizeikräften), stand der Plan für das weitere Vorgehen mehr oder weniger fest.
»Zwei Fragen«, sagte Fandorin zu dem Kriminalisten im Gespräch unter vier Augen, nachdem er ihm erzählt hatte, was geschehen war. »Die erste: Wo müssen wir Zarkow suchen? Und die zweite: Was machen wir hiermit?« Er wies mit einem Kopfnicken auf die amerikanischen Schränke.
»Wollen Sie mich zugrunde richten? Die Mappen nehme ich nicht. Da steht halb Moskau drin, meine gesamte Obrigkeit eingeschlossen. Was mich gar nicht wundert. Die Welt und die Menschen, die sie bevölkern, sind unvollkommen, das weiß ich seit langem. Der Herr wird es früher oder später jedem nach seinen Taten vergelten.« Der Titularrat nickte hinüber zur Leiche von Mr. Swist, die bereits auf einer Trage lag, aber noch nicht in die Polizeikutsche verladen worden war. »Erast Petrowitsch, nehmen Sie dieses Dynamit lieber an sich. Bei Ihnen ist es sicherer aufgehoben. Ich schreibe ins Durchsuchungsprotokoll, dass die Schränke leer waren. Und was Herrn Zarkow angeht, den sehen wir in unserer Stadt nicht wieder. Er ist kein Dummkopf, er weiß genau: Mit jedem Streich wäre er ungeschoren davongekommen, aber nicht mit dem Verlust einer solchen Kartei. Gehen Sie davon aus, dass der Zar sich freiwillig in die Verbannung begeben hat und auf den Thron verzichtet.«
»Aber ich verzichte nicht auf Zarkow«, sagte Fandorin drohend, verärgert über den Misserfolg der Operation. »Er hat zwei Morde auf dem Gewissen. Ich werde ihn finden, und wenn es unter der Erde ist.«
»Wo wollen Sie denn nach ihm suchen? Die Erde ist groß.«
Erast Petrowitsch zeigte auf den Stapel Mappen.
»Der Konzern unseres Freundes hat drei Filialen: in Petersburg, in Warschau und in Odessa. Dort hat Zarkow seine Leute, seine Geschäftsinteressen. Sämtliche Namen und Adressen sind hier verzeichnet. Ich bin sicher, er wird sich in eine der drei Städte zurückziehen. Ich muss nur kombinieren, wohin er genau will – nach Norden, nach Westen oder nach Süden.«
»Kombinieren? Wie denn?«
»K-keine Sorge. Dafür gibt es die Deduktion. Ich werde es herausfinden, und er wird brav mit mir zurückkommen«, versprach Fandorin, verträumt lächelnd aus Vorfreude auf eine Arbeit, die Vergessen verhieß.
Nach Moskau kehrte er am ersten Novembertag zurück. Mit leeren Händen, dafür fast vollkommen geheilt.
Fandorin hatte sein Versprechen nur zur Hälfte gehalten. Er hatte richtig kombiniert, in welche Stadt Zarkow geflohen war: nach Warschau. Dort war sein Unternehmen weiter ausgebaut als in Petersburg oder Odessa. Zudem war, falls es Unannehmlichkeiten gab, die Grenze in der Nähe. Diesen Notausgang benutzte Zar denn auch, sobald er erfahren hatte, dass ein gewisser grauhaariger Herr, der bestens Bescheid wusste über sämtliche Warschauer Kontakte des flüchtigen Moskauers, in der Hauptstadt des Generalgouvernements eingetroffen war.
Die Jagd führte weiter durch ganz Deutschland und endete im Hamburger Hafen. Lediglich um zwanzig Minuten verspätete sich Fandorin – und sah nur noch das Heck des Schiffes, mit dem der aufgeschreckte Zarkow nach Amerika abdampfte. In der Hitze des Gefechts wollte Erast Petrowitsch eine Passage für das nächste Schiff kaufen. Den Emigranten in New York zu erwischen war ein Leichtes – er brauchte nur ein Telegramm an die Agentur Pinkerton zu schicken, damit der Gast am Pier in Empfang genommen und bis zu Fandorins Ankunft nicht aus den Augen gelassen wurde.
Doch der Eifer, der Erast Petrowitsch während der ganzen Jagd angetrieben hatte, verpuffte allmählich. Die Sache war es nicht wert. Das Auslieferungsverfahren würde sich über Monate hinziehen, und sein Ausgang war ungewiss. Schließlich hatte Zarkow selbst niemanden getötet, der Vollstrecker und einzige Zeuge war tot, und dem Verdächtigen die Beteiligung an einem Verbrechen nachzuweisen, das zudem am anderen Ende der Welt begangen worden war, schien praktisch unmöglich. Doch selbst wenn man Zar auslieferte, stand für Fandorin fest, dass er nicht vor Gericht gestellt werden würde. Die Stadtoberen von Moskau konnten einen aufsehenerregenden Prozess mit unvermeidlichen skandalösen Enthüllungen nicht gebrauchen. Niemand wäre erbaut, brächte Fandorin Zarkow nach Moskau.
Den Rückweg trat Erast Petrowitsch von der Jagd erquickt an, und die zwei Tage im Eisenbahncoupé halfen ihm, seine Gedanken und Gefühle zu ordnen. Nun schien er bereit, zu einem von Vernunft und Würde beherrschten Leben zurückzukehren.
Es ist ein großer Irrtum, zu meinen, ein kluger Mensch sei in allem klug. Er ist klug in Dingen, die Verstand verlangen, in Herzensdingen aber ist er mitunter sehr dumm. Erast Petrowitsch gestand sich seine Dummheit ein, streute sich Asche aufs Haupt und hatte die feste Absicht, sich zu bessern.
Was hieß im Grunde klug und dumm? Das Gleiche wie erwachsen und infantil. In dieser unsinnigen Geschichte hatte er die ganze Zeit gehandelt wie ein Kind. Er musste sich endlich wie ein Erwachsener benehmen. Sein Verhältnis zu Masa wieder normalisieren. Nicht mehr schmollen mit Elisa, die keinerlei Schuld trug. Sie war, wie sie war – eine außergewöhnliche Frau, eine große Schauspielerin, und dass sie ihn nicht liebte – da war nun einmal nichts zu machen. Dem Herzen konnte man nichts befehlen, wie es so schön hieß. Konnte es überhaupt lieben, das Herz einer Schauspielerin? So oder so – Elisa verdiente eine ausgeglichene, respektvolle Behandlung. Ohne heimliche kindische Blicke, ohne albernes Gekränktsein, ohne Eifersucht, zu der er keinerlei Recht hatte.
Er fuhr direkt vom Alexander-Bahnhof ins Theater, wo gerade Probe sein musste. Aus den Zeitungen wusste Fandorin, dass während seiner Abwesenheit die »Kometen« noch zwei Mal gelaufen waren, mit triumphalem Erfolg. Sehr gelobt wurde Frau Altaïrskaja-Lointaine, ebensolche Begeisterung galt ihrem Partner, der nie anders genannt wurde als »der echte Japaner Herr Gasonow«. Mit besonderer Befriedigung bemerkten die Kritiker, dass die Karten für die Vorstellungen nun erschwinglicher waren, da die tapfere Moskauer Polizei endlich das Netz der Kartenspekulanten zerschlagen habe. Die nächste Vorstellung des »asiatischen Stücks« hatte der berechnende Stern um zwei Wochen verschoben – offensichtlich, um das Interesse wachzuhalten.
Die Treppe zum Zuschauersaal stieg Erast Petrowitsch in vollkommener Ruhe hinauf. Doch im Foyer erwartete ihn eine Überraschung: Dort ging Elisa auf und ab. Er bemerkte sie als Erster. Beim Anblick der schlanken, in der Taille mit einem breiten Gürtel umschlungenen Gestalt stockte ihm das Herz, aber nur für einen Augenblick – ein gutes Zeichen.
»Guten Tag«, sagte er leise. »Warum sind Sie denn nicht auf der Probe?«
Sie färbte sich rosa.
»Sie …? Sie waren sehr lange nicht hier!«
»Ich war in Europa, geschäftlich.«
Er konnte mit sich zufrieden sein: Die Stimme ruhig und freundlich, ein wohlwollendes Lächeln, nicht das geringste Stottern. Elisa schien weit erregter als er.
»Ja, Masa sagte, Sie hätten einen Brief hinterlassen und seien abgereist … Auch an Dewjatkin haben Sie geschrieben. Warum ausgerechnet an ihn? Seltsam …«
Sie redete das eine, schien aber an etwas anderes zu denken. Sie schaute ihn an, als wolle sie etwas sagen, könne sich aber nicht entschließen.
Aus dem Saal drang Geschrei. Erast Petrowitsch erkannte die Stimme des Regisseurs.
»Warum schimpft Noah Nojewitsch?«, fragte Fandorin mit einem leisen Lächeln. »Sagen Sie bloß, Sie haben etwas angestellt, und er hat Sie rausgeworfen?«
Er tat, als bemerke er ihre Verlegenheit nicht. Er wollte sich nicht auf ihre Schauspielerspielchen einlassen. Wahrscheinlich spürte Elisa mit ihrem weiblichen Instinkt, dass er sich verändert, sich aus dem Spinnennetz befreit hatte, und nun wollte sie ihn erneut in ihre trügerische, falsche Welt zurückholen. So war eine Schauspielerin nun einmal beschaffen – sie konnte sich nicht mit dem Verlust eines Verehrers abfinden.
Doch Elisa ging auf seinen scherzhaften Ton ein.
»Nein, ich bin selbst hinausgegangen. Wir haben wieder einmal einen unangenehmen Vorfall. Wieder hat jemand etwas von einem Soloabend in die ›Annalen‹ geschrieben.«
Fandorin begriff nicht gleich, wovon die Rede war. Dann erinnerte er sich, wie bei seiner ersten Bekanntschaft mit der Truppe im September im heiligen Journal eine rätselhafte Notiz aufgetaucht war: bis zum Soloabend noch soundso viele Einheiten, und wie Stern sich wegen dieses »Sakrilegs« echauffiert hatte.
»Ein und derselbe Scherz g-gleich zwei Mal? Das ist dumm.«
Ich stottere wieder, dachte er. Macht nichts. Das ist ein Zeichen, dass die Spannung nachlässt.
»Nicht zwei, sondern drei Mal.« Ihre Augen sahen ihn wie immer an und zugleich irgendwie an ihm vorbei. »Vor einem Monat hat erneut jemand etwas über irgendwelche Einheiten geschrieben. Beim ersten Mal waren es acht Einheiten, beim zweiten Mal sieben und heute merkwürdigerweise fünf. Wahrscheinlich hat sich der Witzbold verrechnet.«
Wieder hatte er das Gefühl, dass sie nicht das sagte, woran sie dachte.
»Zum dritten Mal?« Er runzelte die Stirn. »Für einen Scherz, selbst für einen d-dummen, ist das zu viel. Ich werde Noah Nojewitsch bitten, mir die ›Annalen‹ zu zeigen.«
»Wissen Sie was«, sagte Elisa plötzlich. »Man hat mir einen Antrag gemacht.«
»Was hat man Ihnen denn angetragen?«, fragte er, obwohl er sofort ahnte, wovon die Rede war.
Ach, das Herz, das Herz! Er hatte sich mit ihm doch geeinigt, und trotzdem ließ es ihn nun im Stich und bebte.
»Herz und Hand.«
Er zwang sich zu lächeln.
»Wer ist der Mutige?« Die Ironie war überflüssig, das klang verletzt!
»Andrej Gordejewitsch Schustrow.«
»A-ah. Nun, er ist ein seriöser Mann. Und jung.«
Warum habe ich das gesagt – jung? Als würde ich es beklagen, dass ich selbst nicht mehr jung bin!
Darüber also wollte sie mit ihm reden. Wollte sie ihn etwa um Rat fragen? O nein, das nicht, ergebensten Dank.
»Eine großartige Partie. Willigen Sie ein.«
Ja, das klang nicht schlecht.
Sie sah plötzlich so unglücklich aus, dass Erast Petrowitsch sich schämte. Er hatte sich doch wieder kindisch benommen. Ein erwachsener Mann hätte einer Dame die Freude gemacht, den Eifersüchtigen zu spielen, innerlich völlig ungerührt.
Die Schauspielerin und der Millionär – ein ideales Paar. Talent und Geld, Schönheit und Energie, Gefühl und Berechnung, Blume und Stein, Feuer und Eis. Schustrow würde aus ihr einen Star machen, berühmt in ganz Russland, wenn nicht in der ganzen Welt, und zum Dank würde sie das mathematisch exakte Leben des Unternehmers in ein Feuerwerk und Fest verwandeln.
Alles in ihm brodelte.
»V-verzeihen Sie, ich muss gehen.«
»Kommen Sie wieder? Gehen Sie nicht in den Saal?«
»Ich habe zu tun. Das hatte ich ganz vergessen. Ich komme morgen vorbei«, sagte er abgehackt.
Ich muss an mir arbeiten. Selbstkontrolle, Beherrschung, Disziplin. Umso besser, dass sie heiratet. Meinen Segen hat sie. »Nun ist alles endgültig aus«, flüsterte Fandorin, während er die Treppe hinunterstieg. »Wollte ich nicht etwas erledigen?«
Aber seine Gedanken verwirrten sich.
Na schön, später. Alles später.