Kapitel 16
Auf dem Weg zurück in die Akersgate erhielt Joakim einen Anruf von Rechtsanwalt Martin Tollefsen. Er konnte ihm berichten, dass er seinen Mandanten überredet hatte, sich mit Joakim zu treffen. Inzwischen war es eins, und Joakim spazierte zu Tollefsens Kanzlei. Dort wartete Professor Kato Zetterstrøm auf ihn. Der Mann, der Joakim die Hand reichte, machte einen gehetzten Eindruck. Er war kreidebleich. Über dem schlanken, sehnigen Oberkörper trug er ein dünnes weißes Hemd. Auf seiner Nase saß eine eckige modische Brille.
»Schrecklich, was mit Helle passiert ist«, begann er.
Joakim nickte. Er empfand kein Mitleid mit dem Mann, der ihm gegenüberstand. Er mochte schuldig sein, er mochte unschuldig sein. Alle Möglichkeiten waren offen.
»Wie gut haben Sie Helle gekannt?«
Der Professor sah unruhig zu seinem Anwalt hinüber, der sich gerade eine Zigarette anzündete. Tollefsen nickte.
»Ich habe sie sehr gut gekannt. Helle war ein Mädchen mit vielen Problemen. Sie ist irgendwann nach Vorlesungsende im Hörsaal geblieben. Anfangs wollte sie nur meinen fachlichen Rat. Nach und nach hat sie sich mir dann anvertraut«, erzählte Zetterstrøm.
»Was hat sie Ihnen anvertraut?«
»Sie war deprimiert. Sie trug eine schwere emotionale Last mit sich herum. Ich komme mir wie ein Verräter vor, wenn ich das weitererzähle.«
»Ich muss nicht alles schreiben«, antwortete Joakim.
Zetterstrøms Augen wurden feucht. Er hielt die Hände im Schoß verschränkt. Er dachte nach, überlegte wahrscheinlich, wie viel er erzählen sollte. Joakim hielt den Atem an, wusste, dass es nichts nützen würde, ihn zu drängen. Zetterstrøm wischte sich über die Augen hinter den eckigen Brillengläsern.
»Sie hat mir erzählt, dass sie in ihrer Kindheit missbraucht worden ist, von ihrem eigenen Großvater. In den Schulferien wurde Helle immer zu den Großeltern geschickt, die auf Kråkerøy bei Fredrikstad wohnten, während ihre Eltern in Oslo gearbeitet haben. Dort ist es zu den Übergriffen gekommen. Sie begannen, als Helle acht, neun Jahre alt war. Die Großmutter hatte psychische Probleme, sie war tablettenabhängig. Deshalb hat sie nachts tief geschlafen und nicht mitbekommen, was ihr Mann so trieb.«
»Lebt er noch?«
»Nein, der Großvater ist gestorben, als Helle sechzehn war. Erst da hat es aufgehört. Sie hat sich nie gegen ihn zur Wehr gesetzt. Sie war total kaputt, konnte mit Jungen in ihrem Alter nichts anfangen.«
»Und da haben Sie ihr geholfen, indem Sie ihr Sex mit einem verheirateten Mann geboten haben, der dreimal so alt war wie sie?«
Joakim ärgerte sich über sich selbst. Der Satz war ihm einfach herausgerutscht. Zetterstrøm antwortete zuerst nicht, dann versuchte Joakim es noch einmal.
»Hatten Sie Sex mit Helle?«
»Helle hat selbst die Initiative dazu ergriffen. Ich wollte erst nicht, doch mit der Zeit haben wir starke Gefühle füreinander entwickelt.«
»Wie lange ging das Verhältnis?«
»Nur kurz. Es begann im Januar. Das letzte Mal waren wir im März zusammen, direkt vor den Osterferien. Da hat sie mir gesagt, dass sie unsere Beziehung beenden will. Danach wirkte sie immer depressiver und kam nur noch selten in die Vorlesungen.«
»Und Ihnen ist nie der Gedanke gekommen, dass das vielleicht mit dem Verhältnis zu Ihnen zu tun haben könnte?«
»Ich wollte ihr helfen, das habe ich doch gesagt.« Die Stimme des Professors war plötzlich schärfer.
»Was wissen Sie über Tom Marius Westerberg?«
»Sie hat ihn mir gegenüber nie erwähnt.«
Nach dem Interview brachte Tollefsen Joakim hinaus.
»Und, verstehen Sie jetzt, was ich neulich gemeint habe?«
»Dass er unschuldig ist? Dazu habe ich keine Meinung.«
»Was er gemacht hat, ist unschuldig«, sagte Tollefsen.
»Unter uns – und unabhängig davon, ob er sie umgebracht hat oder nicht: das Letzte, was ein Inzestopfer braucht, ist ein sexuelles Verhältnis mit einem alten Schwein«, antwortete Joakim.