Kapitel 63
Freitag, 13. Mai

Es war drei Uhr morgens, als Strafverteidiger Lennart Bratt in seinem Einfamilienhaus in Grefsen einen Anruf erhielt. Es war nicht ungewöhnlich, dass er mitten in der Nacht zu Mandanten gerufen wurde, wenn sie in Untersuchungshaft saßen, weshalb er keinen Grund sah, seine Frau zu wecken, die neben ihm schlief. Zwei Dinge waren in solchen Situationen wichtig: dafür zu sorgen, dass die Polizei bei den Verhören so wenig wie möglich herausbekam, und seinem Mandanten zuzuhören. Er musste ihn, denn in den meisten Fällen war es ein Mann, reden lassen und darauf hoffen, dass er ehrlich war, denn das machte es in jedem Fall später leichter.

Er kannte den Fernsehmoderator Tor Vaksdal schon lange. Sie spielten seit Jahren zusammen Golf. Aber Bratt war zu klug, um über die Informationen, die er erhielt, schockiert zu sein. Er wusste, dass unter bestimmten Umständen jeder jeden ermorden konnte.

Ein wahnsinniger Tor Vaksdal schien seinen Anwalt zu erwarten. Lennart Bratt hatte schon viele Male erlebt, dass mächtige Männer sich nach einer Festnahme bis zur Unkenntlichkeit veränderten. Die Demütigung, die Scham, die Furcht, der Hass, die Wut. In einer solchen Situation waren die Schwachen, die auf den untersten Stufen der Gesellschaft standen, in der Regel die Gewinner. Sie nahmen die Festnahme durchweg mit stoischer Ruhe. Tor Vaksdal dagegen schien völlig aufgelöst.

Sobald sie alleine waren, brach es aus Tor Vaksdal heraus. Sandra war die Antwort auf all seine Frustrationen gewesen. Die Treffen mit ihr hatten viel gekostet, doch er hatte mit ihr machen können, was er wollte. In der Regel sah er zu, dass er leicht angetrunken war, wenn er sie traf. Das machte es noch besser. Alles wurde besser mit Alkohol, auch Sex.

So war es mehrere Monate gegangen, bis zu dem Samstag vor zwei Wochen. Er hatte beim Essen gesessen und war erst nicht ans Telefon gegangen. Doch als die fremde Nummer eine Stunde später wieder anrief, ging er in die Diele und meldete sich. Er erkannte sie an der Stimme. Es war Sandra. Sie sagte, dass sie eigentlich Helle heiße und nicht fünfzehn sei, wie er geglaubt hatte, sondern neunzehn und Studentin. In ruhigem Ton erklärte sie ihm, dass sie ihr letztes Treffen gefilmt habe. Sie wolle Geld von ihm. Er hatte an ihren Mund gedacht, während die helle Stimme über das Handy zu ihm sprach, an ihren kleinen, rot geschminkten, höhnischen Mund. Ihm war schwindelig geworden. Sie hatte viel Geld verlangt und ihm eine Kontonummer genannt. Er hatte getobt, das Handy gegen die Wand geschleudert.

Seine wirtschaftliche Lage war angespannt genug. Zwei Exfrauen, eine mit einer Tochter im Teenageralter, die andere mit zwei Jungen von acht und zehn. Beide forderten Unterhalt und Unterstützung, außerdem hatte er eine neue Frau, die für seine Vergangenheit kein Verständnis zeigte. Er verdiente viel Geld, doch es zerrann ihm zwischen den Fingern, noch bevor er es zählen konnte.

Er sah diesen kleinen, fordernden Mund immer größere Summen verlangen, genau wie seine Frau und seine Exfrauen. Wie die Gier eines Kuckucksjungen, das nie genug bekam, würden die Forderungen der jungen Hure seine Familie treffen. Die Alternative: Der Film landete in den falschen Händen. Die Kollegen würden ihn bei lebendigem Leib zerreißen.

Einen kurzen Augenblick in diesem rabenschwarzen Moment fiel ihm der alte Spruch ein, dass man die Leute auf dem Weg nach oben gut behandeln sollte, weil man dieselben Leute auf dem Weg nach unten wiedertraf. Tor Vaksdal hatte seine Kollegen nie gut behandelt. Er hatte sie zur Seite gedrängt, ihnen ihren Erfolg gestohlen und sich damit gebrüstet. So hatte er die Karriereleiter erklommen. Er hatte zu viele Feinde im eigenen Lager.

Diese Gedanken waren ihm in der schlaflosen Nacht durch den Kopf gegangen. Am Sonntag hatte er einen Entschluss gefasst. Clever war sie nicht gewesen – sie hatte von ihrem eigenen Handy aus angerufen. Im Internettelefonverzeichnis fand er ihre Adresse. Gegen Mittag war er zu ihr gefahren, hatte gesagt, dass er nur über ein paar Details bezüglich der Geldüberweisung reden wolle. In Wirklichkeit wollte er sie schlagen, bis sie den Mund hielt. Helle schien Angst zu bekommen, als sie ihn sah, doch sie hatte ihn hereingelassen. Sie trug einen Morgenmantel, unter dem sie nackt war. Es roch nach Sex in der Wohnung. Offenbar hatte sie an diesem Morgen noch einen anderen Besucher gehabt, das Luder.

Es stellte sich fast sofort ein, dieses fürchterliche Gefühl, das er, seit er erwachsen war, zu verdrängen versucht hatte. Dieses blinde Wutgefühl, das ihn alles vergessen ließ. Einmal hatte es ihn einen Welpen mit den bloßen Händen erwürgen lassen. Jetzt war es wieder da. Er hatte die Angst in ihren Augen gesehen, er hatte die gestammelten Bitten gehört. Doch seine Haut war wie Teflon. Worte, Tränen, Schluchzer, alles perlte an ihm ab.

Er riss ihr den Morgenmantel vom Leib. Zuerst hatte er vorgehabt, sie zu vergewaltigen, sie zu Tode zu ficken. Doch sein Schwanz hatte keinen Appetit. »Wo ist der Film?«, hatte er gezischt, ohne eine Antwort zu bekommen. Helle hatte unter dem Kopfkissen etwas hervorgezogen, er hatte Metall aufblitzen sehen. Ein Messer, das sie für den Notfall dort deponiert hatte. Er hatte es ihr aus der Hand gerissen und die Blattspitze auf ihr großes, nasses Auge gerichtet. »Wo ist der Film?«, wiederholte er, doch er bekam noch immer keine Antwort.

Er wusste nicht, ob sie aus Unwissenheit nicht antwortete oder weil sie einen Kollaps hatte. Er drückte das Messer gegen den weichen, glänzenden Augapfel, der ihn anstarrte. Dann stach er das Messer hinein. Sie schrie so gellend, dass seine Ohren sich nachher wie mit Watte gefüllt anfühlten. Der Schrei verunsicherte ihn, alles war so unwirklich. Er wich zurück, als er sah, was er getan hatte. Sie schluchzte, schien unter Schock zu stehen. Er wandte sich von ihr ab, durchsuchte die Wohnung verzweifelt nach dem Film, ohne Erfolg.

Sie atmete noch, als er sie verließ. Er hatte gesehen, wie sich das unverletzte Auge bewegt hatte, es war ihm gefolgt, als er ihr Schlafzimmer durchwühlt hatte. Dann war er aus der Wohnung gestürzt, war ziellos durch die Stadt gefahren.

Am Tag darauf war ihr Bild in allen Zeitungen gewesen, in allen Nachrichtensendungen. Sie war tot. Der Abgrund hatte sich vor ihm aufgetan. Sein ganz persönlicher Weltuntergang. Als Nyhetsavisen den Prostituiertenring aufgedeckt und den Film gefunden hatte, der ihn ganz eindeutig mit dem Ganzen in Verbindung brachte, war ihm klar geworden, dass das Spiel vorbei war. Die Polizei bekam ihre DNA-Probe, und er wusste, wie das Resultat aussehen würde.

Lennart Bratt saß da und hörte seinem Golffreund und Mandanten schweigend zu. Seine Hand ruhte auf der Schulter des schluchzenden Tor Vaksdal. Er hatte keine tröstenden Worte für ihn.

Grabesdunkel
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