Kapitel 46

Es geht einzig und allein darum, zu überleben, dachte Agnes. Am Leben zu bleiben, bis die Polizei eintrifft.

Die beiden sahen, wie sich eine Hand auf die innere Türklinke legte. Sie wussten nicht, was sie auf der anderen Seite erwartete, wie viele es waren und wer. Agnes lief ins Wohnzimmer und riss die Verandatür auf, die auf die Terrasse führte.

»Los, weg hier, verdammt noch mal!«, rief sie ihm zu. Sie merkte, wie panisch ihre Stimme klang.

Joakim blieb einige Sekunden stehen. Er schien abzuwägen: Kampf – Flucht – Kampf – Flucht.

Sie hatte einen kleinen Vorsprung. Joakim war zwanzig Meter hinter ihr. Die Sohlen ihrer Stiefeletten rutschten im nassen Gras. Der ordentlich gemähte Rasen ging an dieser Stelle in wilde Wurzeln und scharfe Halme über. Sie schnappte nach Luft, schwankte ins dunkle Nichts. Hinter sich hörte sie die Stimmen näher kommen. Sie drehte sich um und sah Joakim, der von zwei schwarz gekleideten Männer verfolgt wurde. Admir und Ratomir. Sie wusste es. Diesmal würde Admir es tun, diesmal würde er es zu Ende führen und sie umbringen.

Ihre Beine wollten ihr nicht gehorchen. Sie rutschte auf einer glatten Wurzel aus und spürte ein heftiges Pochen im Knöchel. Ich muss klar denken, ermahnte sie sich. Ich darf mich von der Angst nicht lähmen lassen.

Sie kroch hinter einen großen Nadelbaum mit ausladenden Ästen, der am Waldrand stand. Von ihrem Versteck aus konnte sie das Haus beobachten. Joakim lief im Zickzack zwischen den Bäumen herum, die beiden Männer hinter ihm her. Sie wusste, dass es nur eine Frage der Zeit war. Sie würden ihn letztendlich kriegen, er hatte keine Chance – nicht bei diesen beiden.

Jetzt hatte Joakim einen Stock zu fassen bekommen. Er wollte offenbar kämpfen. Der Stock in seinen Händen wirkte so winzig. Die Männer waren mit schweren Schlaghölzern bewaffnet. Ein einziger Schlag konnte reichen, um ihn niederzustrecken. Er duckte sich, doch sie sah, wie unsicher er war.

Agnes versuchte sich aufzurichten. Der Knöchel tat weh, war aber nicht gebrochen. Sie kroch unter den Tannenzweigen hervor, duckte sich, um nicht entdeckt zu werden, und schlich zurück zum Garten. Sie hatte das sichere Gras fast erreicht, als sie die Stimmen hörte. Sie konnte nicht verstehen, was sie sagten, doch der Sinn war eindeutig. Der eine drehte sich zu ihr um, während der andere sich auf Joakim konzentrierte.

Ich kann es noch schaffen, dachte sie fieberhaft und hinkte quer über den Rasen. Admir trat in dem Moment aus dem Wald, als sie die Verandatür hinter sich zugezogen hatte. Sie schloss ab, wusste jedoch, dass ihr das nicht viel Zeitvorsprung einbringen würde. Sie rannte zur Treppe, hoch in die erste Etage und ins Büro. Ihre Hände zitterten so sehr, dass sie den kleinen schwarzen Koffer zunächst nicht aufbekam. Als es ihr endlich gelang, hörte sie Glas splittern.

Admir war offenbar durch ein Fenster eingestiegen. Dann wurde es still. Sie war wie gelähmt vor Schreck, stolperte und fiel auf die Knie. Da sah sie plötzlich ein Versteck und rutschte unter das Sofa. Sie zog die Wolldecke, die auf dem Sofa lag, ein Stück herunter, bis sie nicht mehr zu sehen war.

Ein leichtes Knarzen der Dielen bestätigte ihr, dass er unten nach ihr suchte. Bald hörte sie ein ähnliches Geräusch auf der Treppe. Er war auf dem Weg nach oben. Sie starrte in die Finsternis unter dem Sofa. Ihre Hände umklammerten krampfhaft die Pistole. Drückende Angst erfüllte den Raum. Dann hörte sie seine Stimme, genauso furchterregend wie das letzte Mal.

»Das ist kein Spiel! Mir entkommst du nicht. Ich will diese verdammte CD!«

Alle Türen zu den Zimmern in der ersten Etage standen offen. Er schwieg erneut. Sie konnte nicht sagen, in welchem Raum er gerade war. Ihr Herzschlag übertönte alles. Dann spürte sie die Hand. Ohne ein Wort zu sagen, hatte er die Hand in ihre Höhle gesteckt. Mit stählernem Griff hielt er ihren linken Fuß fest.

Ihre Hysterie erkaufte ihr etwas Zeit: Sie trat wild um sich und traf mit dem rechten Fuß seinen Arm. Er fluchte laut und stieß mit einem Ruck das Sofa um. Jetzt stand er über ihr, während sie auf dem Rücken lag, schutzlos. Verwirrt starrte er auf die Waffe in ihrer Hand, die sie auf ihn gerichtet hatte.

Du kannst nicht danebenschießen, sagte sie sich. Aus einer so geringen Entfernung kannst du nicht danebenschießen.

Sie drückte ab.

Sie hatte auf seine Brust gezielt, doch sie verriss den Schuss, sodass die Kugel nach rechts oben ging. Das Dröhnen war im ganzen Wald zu hören. Was folgte, bekam sie nur teilweise mit. Das Blut, das aus seinem Gesicht schoss. Sie sah nur seine Augen in all dem Rot – wie wahnsinnig vor Hass und Entsetzen. Die Schreie. Rau, heiser, wie von einem Tier.

Er schwankte kurz, bevor er nach hinten überkippte. Das Nächste, woran sie sich erinnerte, war das Heulen der Martinshörner. Sie war alles andere als erleichtert. Sie hatte Joakim nicht retten können, nur sich selbst.

Die Polizei stieß die Haustür auf. Agnes drückte Admir den Pistolengriff in die Hand, bevor sie die Waffe in die Ecke warf. Dann griff sie nach dem schwarzen Koffer und versteckte ihn ganz hinten in der Schreibtischschublade. Sie hörte die Polizisten die Treppe heraufkommen.

Der erste riss die Tür auf und sah Agnes im Zimmer stehen, neben ihr der sterbende Admir.

»Auf den Boden. Sofort!«, schrie der Polizist sie an, während er mit der Pistole auf ihren Kopf zielte.

Grabesdunkel
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