Kapitel 2
Ein Stück von der Absperrung entfernt versuchte Agnes, ein paar Passanten zu interviewen. Gleich der Erste, den sie ansprach, pflaumte sie an. Ob sie nicht wenigstens warten könnten, bis die Leiche kalt sei?
Es regnete noch immer. Das Regenwasser floss in großen Bächen zum nächsten Gulli. Rasmus Senders Regenmantel schützte zwar ihre Lederjacke, doch an den Beinen war sie pitschnass. Agnes stellte sich in den Eingang des Lebensmittelladens, um eine Zigarette zu rauchen.
Eine junge Frau stand schon da und suchte Schutz vor dem Platzregen. Sie war groß, schlank und trug ein langes weißes Hemdblusenkleid über einer schwarzen Hose. Ihre dunkelbraunen Haare waren zu einem modernen Bob geschnitten. Die Schminke um die Augen war teilweise verwischt.
»Hast du Feuer?«, fragte Agnes.
Die Frau schüttelte den Kopf.
»Was für ein Wetter«, fuhr Agnes fort. »Du hast auch nicht die passenden Schuhe an, wie ich sehe.« Sie zeigte auf die spitzen, exklusiven Stiefeletten.
Die andere antwortete nicht, sondern starrte nur geistesabwesend vor sich hin.
»Wohnst du hier?«, fragte Agnes.
Jetzt nickte sie.
»In dem Mietshaus?«
Erneutes Nicken.
»Hast du die Tote gekannt?«
»Sie war meine Mitbewohnerin«, flüsterte sie mit kaum hörbarer Stimme.
Agnes spürte ihr Herz schneller schlagen. »Wart ihr verwandt?«
»Nein, befreundet«, antwortete die junge Frau und schluckte.
Ihr Blick war weiter auf den Eingang des Mietshauses gerichtet. Zwei Männer in weißen Overalls kamen mit einer Bahre heraus. Der Körper des ermordeten Mädchens steckte in einem blauen Leichensack.
»Hör mal zu, ich arbeite als Journalistin bei Nyhetsavisen. Hast du mit der Polizei gesprochen?«, fragte Agnes.
Jetzt drehte die junge Frau sich zu ihr um. »Ich habe zwar bei denen angerufen, aber ich habe es nicht geschafft, mit ihnen zu reden, nicht jetzt.« Sie zitterte.
»Aber du wirst mit ihnen reden müssen, meinst du nicht?«
»Später. Ich brauche trockene Kleidung. Ich kann nicht wieder in die Wohnung gehen. Mein Geld und meine Kreditkarten sind dort. Kannst du mich zu meinen Eltern fahren? Sie wohnen draußen in Asker.«
Die junge Frau sah sie flehend an. Sie schien bei klarem Verstand zu sein. Agnes nickte, fischte Rasmus’ Autoschlüssel aus der Tasche und lief durch den strömenden Regen zu dem Saab, der in der Nähe geparkt war. Sie ließ die junge Frau auf dem Beifahrersitz Platz nehmen. Bevor Agnes den Schlüssel ins Zündschloss steckte, schickte sie Joakim eine SMS: »Muss mir das Auto ausleihen. Erklärung folgt.« Dann ließ sie den Motor an und fuhr auf den Kirkevei hinaus.
»Kannst du die Heizung anmachen?«, fragte die junge Frau.
»Sicher.«
Agnes stellte für beide Sitze die Sitzheizung ein. Sie selbst war völlig durchgefroren. Die Sicht war schlecht und die Straße voller Wasser, sodass sie nur langsam fahren konnte.
»Wie heißt du?«
»Ester«, antwortete die andere.
»Und die Tote?«
»Sie heißt Helle. Hieß Helle. Helle Isaksen.«
»Woher hast du gewusst, dass sie tot ist?«
Ester antwortete nicht. Sie starrte aus dem Fenster zum Frognerpark hinüber. Agnes sah, wie sich ihr Brustkorb hob und senkte, ihr Atem ging immer schwerer.
»Kannst du kurz anhalten?«
Agnes bog auf einen kleinen Parkplatz am Rand des Parks ab. Ester öffnete die Autotür und atmete die feuchte Luft tief ein. Ihr Rücken bebte. Agnes wartete still. Fragte sich, ob sie ihr eine Hand auf die Schulter legen sollte oder ob das zu weit gehen würde.
»Ich habe sie gefunden«, sagte Ester so leise, dass Agnes sie durch das Trommeln des Regens aufs Autodach kaum verstehen konnte. »Ich habe in der Diele nasse Fußabdrücke gesehen. Und dann habe ich sie im Schlafzimmer gefunden. Sie lag nackt auf dem Bett. Es hat gestunken, nach Scheiße, glaube ich. Ich habe mich hingekniet, ich musste mich übergeben. Erst nachher, als ich wieder aufgestanden bin, habe ich das Messer in ihrem Gesicht stecken sehen, es sah aus, als würde das Auge immer noch bluten. Ich habe versucht, sie wachzurütteln, aber …«
Ester übergab sich. Agnes reichte ihr ein Taschentuch. Als Ester es entgegennahm, fiel Agnes ein dunkelroter Fleck auf ihrem rechten Blusenärmel auf. Konnte das Blut von Helle Isaksen stammen?
»Ich habe die Polizei angerufen«, fuhr Ester fort. »Dann bin ich aus der Wohnung gestürzt. Ich musste einfach raus, ich bekam keine Luft mehr. Als ich wieder zurückkam, war alles abgesperrt, überall war Polizei. Ich kann jetzt einfach nicht mit der Polizei reden. Ich traue mich nicht.«
»Wie meinst du das?«
Ester antwortete nicht. Sie drehte sich wieder zu Agnes um, zog die Autotür zu.
»Bitte, fahr noch nicht. Mir ist so übel, und vom Fahren wird mir noch schlechter.«
»Hatte Helle einen Freund?«
»Keinen festen«, antwortete Ester.
»Und einen Exfreund?«
»Das schon, aber das ist echt lange her. Er heißt Tom.«
»Tom und wie weiter?«
»Tom Marius Westerberg. Er studiert auch an der Handelshochschule.«
»Glaubst du, dass er es war?«
»Sie waren nur kurz zusammen, letzten Herbst.«
»Gibt es jemand anderen, von dem du dir vorstellen kannst, dass er das getan hat?«
Ester antwortete nicht, sondern starrte nur weiter vor sich hin.
»Weißt du, ob Helle Drogen genommen hat?«
Ester schüttelte entschieden den Kopf.
»War die Tür aufgebrochen?«
»Nein. Als ich kam, war sie nicht verschlossen. Sie muss ihm aufgemacht haben.«
»Dann weißt du also, dass es ein Er war?«
»Etwas anderes ist doch wohl unwahrscheinlich. Außerdem habe ich die Fußabdrücke in der Diele gesehen. Von Herrenschuhen.«
Agnes nickte. In der Wohnung dürften mehr als reichlich Spuren sein. Wenn Ester die Freundin nackt vorgefunden hatte, dann war Helle Isaksen vielleicht vergewaltigt worden. Plötzlich sah Agnes, wie Ester zusammenzuckte. Sie starrte einen Mann in dunklen Regensachen an, der auf sie zugeeilt kam.
»Fahr«, rief Ester so laut, dass ihre Stimme brach.
Agnes ließ sofort den Motor an. Bevor sie den Parkplatz verließ, warf sie einen schnellen Blick in den Rückspiegel. Der Mann setzte sich gerade in eines der Autos, doch Ester nahm keine Notiz davon. Sie hatte die Hände vors Gesicht geschlagen und weinte. Agnes beschleunigte und fuhr weiter auf die E18. Sie registrierte, dass ihr auf Lautlos gestelltes Handy in der Tasche mehrmals vibrierte, wagte aber nicht, sich zu melden. Sie hatte jetzt zwei Prioritäten: Sie musste Ester beruhigen, und sie musste so viele Informationen wie möglich aus ihr herausholen. Agnes mochte in der Kriminaljournalistik ein Neuling sein, aber ihr war sofort klar gewesen, dass die junge Frau auf dem Beifahrersitz journalistisch gesehen der Hauptgewinn war.
»Warum hat dir der Mann auf dem Parkplatz solche Angst eingejagt? Hast du ihn für Helles Mörder gehalten?«
Agnes warf einen Blick auf das Profil ihrer Beifahrerin. Die nickte kurz. So beantwortete sie die meisten Fragen, die Agnes ihr während der Fahrt stellte. Mit Nicken oder Kopfschütteln. Hin und wieder kam überhaupt keine Reaktion. Agnes war unsicher, wie sehr sie insistieren sollte, aber ein bisschen bekam sie dennoch aus ihr heraus.
Ester und Helle hatten sich über das Studium an der Handelshochschule kennengelernt. Ester hatte Helle schon bald angeboten, in ihre Wohnung in Majorstua mit einzuziehen. Viele ihrer Bekannten gingen mehr oder weniger regelmäßig in einen Edelschuppen in Frogner, der sich Hjørnet nannte, die Ecke, erzählte Ester. Agnes hatte davon gehört. Oslos neuer Yuppietreffpunkt.
Sie erreichten Asker und näherten sich Esters Elternhaus. Agnes war noch nie in dieser Gegend gewesen. Die Einfamilienhäuser lagen wie kleine Bauklötze in den großen Gärten. Durch den Regen konnte Agnes die Konturen der Gebäude nur erahnen.
»Kannst du mich bitte hier rauslassen?«, bat Ester.
Agnes bremste vor einem massiven Einfamilienhaus. Sie sah Ester an und verspürte einen Anflug von schlechtem Gewissen wegen der Frage, die sie ihr jetzt stellen musste.
»Ist es okay, wenn ich die Informationen, die du mir gegeben hast, in einem Artikel bringe?«
Ester nickte kurz. Aber sie wolle keinen Besuch vom Fotografen der Zeitung, sagte sie, weshalb Agnes selbst ein paar Bilder mit ihrem Handy machte.
»Können wir uns morgen weiter unterhalten?«, fragte Agnes, während sie Ester ihre Visitenkarte reichte.
Ester starrte Agnes mit einem Blick an, den diese nicht zu deuten vermochte. »Ich weiß nicht. Ich … du … Ich glaube, du willst da nicht reingezogen werden.«
»Wie meinst du das?«, fragte Agnes und spürte, dass ihr die Nackenhaare zu Berge standen.
Ester antwortete nicht, öffnete nur die Autotür und lief in den Regen hinaus. Agnes beugte sich über den Beifahrersitz und rief ihr hinterher: »In was denn reingezogen?«