Kapitel 4
Agnes atmete in der dunklen, kalten Mainacht tief durch. Sie war auf dem Weg zur Bar Stopp Pressen, um ein Bier zu trinken. Die Geschehnisse des Tages gingen ihr nicht aus dem Kopf. Kurz bevor sie gegangen war, hatte sie einen Blick auf den Bildschirm des Layouters geworfen. Die morgige Titelseite hatte ihr entgegengeleuchtet: ein Bild von Helle, die sie mit einem strahlenden Lächeln anlachte. Das blonde, fast weiße Haar reichte ihr bis zu den Schultern. Die Lippen glänzten rosa, die Wangen waren rot, der Pullover flauschig und hellblau. Sie blickte erwartungsvoll in die Kamera. »Nackt und tot im eigenen Bett aufgefunden«, verkündeten die schwarzen Lettern darunter und bildeten einen schmerzlichen Kontrast zu dem Foto.
Ihre Stiefeletten erzeugten ein Echo in der Akersgate. Der Asphalt dampfte schwach, als würde der Boden nach dem heftigen Regen ausatmen. Agnes spürte das Adrenalin noch immer im Körper. Sie war erst seit drei Monaten bei Nyhetsavisen. Als ihr ein fester Job im Politikressort angeboten worden war, hatte sie die Journalistenschule geschmissen. Wahnsinn, meinten ihre Kommilitonen, da ihr nur noch ein halbes Semester bis zum Abschluss fehlte. Doch Agnes war es mehr als leid gewesen. Sie wollte arbeiten. Sie hatte sich nicht auf der Journalistenschule eingeschrieben, um später ein Zeugnis in der Hand halten zu können, sondern um in einer der großen Redaktionen einen Job zu bekommen. Und jetzt hatte sie ihr Ziel erreicht.
Doch sie fühlte sich noch immer unsicher. Vor allem heute hatte sie das gespürt. Joakim hatte keinen Hehl daraus gemacht, dass er es als Belastung empfand, sie mitzunehmen. Agnes wusste genau, wer er war. Vor zwei Jahren hatte er den begehrtesten und renommiertesten Journalistenpreis Norwegens, den SKUP-Preis, gewonnen, nachdem er zu einer spektakulären Ermittlung in einem Mordfall beigetragen hatte, was in der Verbandszeitung gehörig kommentiert worden war.
Gerade über diesen Fall hatten zahlreiche Gerüchte kursiert. Ein Kind, ein fünfjähriges Mädchen, war eines Nachmittags von zu Hause verschwunden. Man war von Entführung ausgegangen, bis Joakim der Polizei einen Tipp gegeben hatte, wo die Leiche versteckt war. Als man das Mädchen gefunden hatte, war der Vater zusammengebrochen und hatte gestanden, das Kind missbraucht und ermordet zu haben. Kurze Zeit nach der Preisverleihung hatte Joakim an der Journalistenschule einen Vortrag über Kriminaljournalistik gehalten, doch woher er gewusst hatte, wo die Leiche des Mädchen vergraben war, hatte er nicht verraten. Agnes hatte sichtlich beeindruckt in der letzten Reihe gesessen und dem großen Mann in dem weißen Hemd und der dunklen Jeans zugehört.
Seit sie bei Nyhetsavisen arbeitete, hatte sie ihren Eindruck korrigieren müssen. Joakim war sehr zurückhaltend, doch Agnes hatte bisher nicht herausgefunden, ob er nun schüchtern oder arrogant war. Er war auch nicht sonderlich großzügig, was Komplimente anging. Dass sie den Stoff geliefert und ihnen zu dem Exklusivinterview mit der Freundin des Mordopfers verholfen hatte, hatte er nicht einmal kommentiert. Er gehörte vermutlich zu denen, die am liebsten die Lorbeeren für die Arbeit anderer ernteten, wie das bei den karrieregeilen männlichen Kollegen oft der Fall war.
Das Stopp Pressen lag nicht weit von den Redaktionsräumen entfernt. Die Raucher hatten sich an den schmalen Stahltischen draußen vor der Bar zusammengerottet. In den Fenstern hingen Pressebilder. Drinnen war es nur halb voll. Die imposante Theke aus dunklem Holz dominierte das kleine Lokal.
»Agnes!«
Sie drehte sich um und sah ihren Chef. Sverre Ekker leitete das politische Ressort von Nyhetsavisen. Er saß mit mehreren Kollegen ganz hinten im Lokal und winkte sie zu sich. Agnes lächelte und ging zu ihm.
»Agnes, setz dich!«, insistierte Ekker und zeigte auf den Platz neben sich auf dem Sofa.
Er war ein gut aussehender Mann Anfang vierzig, mit schwarzen Haaren, die von silbernen Strähnen durchzogen waren, einem intensiven Blick und einem charmanten Lächeln. Während ihres Vorstellungsgesprächs hatten sie sich gut unterhalten, fast schon miteinander geflirtet. Sie zwängte sich auf das Sofa und setzte sich.
Die Stimmung war super. Agnes trank schnell und gierig, um die anderen einzuholen. Sie unterhielten sich über die bevorstehende Wahl, die neuen Parteivorsitzenden und darüber, welcher der Kandidaten im Wahlkampf siegen und wer wohl scheitern werde. Agnes war so engagiert, dass sie zunächst gar nicht wahrnahm, wie nahe Ekker an sie herangerückt war. Sie bemerkte es erst, als er ihr etwas ins Ohr flüsterte. Er raunte, dass ihr bei Nyhetsavisen womöglich eine große Zukunft bevorstehe. Sie habe Eindruck auf ihn gemacht. Vielleicht werde sie sogar einmal eine Führungsposition einnehmen?
Anfangs hatte er mit seinen Schmeicheleien Erfolg. Sie drehte sich zu ihm und lächelte. Sie war in Hochstimmung, begeistert, überwältigt. Doch dann fielen Agnes die Reaktionen der Kollegen auf. Skeptische Blicke, leichtes Augenrollen. Agnes begriff zunächst nicht, was los war, bis sie die Hand spürte, die unter dem Tisch ihren Oberschenkel hinaufwanderte. Freundlich, aber bestimmt schob sie sie weg und legte sie zurück in Ekkers Schoß. Er neigte den Kopf und warf ihr einen frotzelnden Blick zu, bevor seine Hand wieder unter ihren kurzen Jeansrock kroch. Ekker gab nicht auf und war zu betrunken, um sich um ihren Protest zu scheren. Er lachte heiser, lehnte sich gegen sie und ließ die Hand weiter ihren Schenkel hinaufwandern.
Sie spürte seine feuchte Stirn an ihrer Wange, die Hand, die sie zwischen den Beinen berührte. Als sie immer weiterkroch, sich unter den Rand ihres Slips schob, sah Agnes rot und warf Sverre Ekker das Bierglas an den Kopf, das sie in der rechten Hand hielt. Sie war auf der Stelle wieder nüchtern, als sie das Blut an seiner Stirn hinunterlaufen sah.
Am Tisch wurde es still. Auch vom Nachbartisch starrten alle zu ihnen herüber, und Sverre Ekker schrie wütend: »Mach, dass du fortkommst, du verdammte Hure! Du bist fertig bei der Zeitung, hörst du? Fertig!«
Agnes stand auf, griff nach ihrer Tasche und lief nach draußen.