Es war noch früh am Morgen. Die schlimmsten Dinge passieren immer am Morgen. Menschen, die eben erst aufgewacht und dem Bett entstiegen sind, können sich am wenigsten wehren. Sie sind noch benommen vom Schlaf, bewegen sich unsicher in einem Reich zwischen Wachsein und Träumen – und es fehlt ihnen noch der natürliche Schutz aus Raffinesse und Infamie, den sie erst nach ausgiebigem Genuss von schwarzem Kaffee erwerben.
Die Polizeibehörden wissen das – deshalb kommen sie, wenn sie Delinquenten übertölpeln oder belastende Materialien finden wollen, in der Frühe. Die meisten Herzinfarkte geschehen morgens zwischen sechs und acht Uhr. Und Mörder neigen dazu, ihre Bluttaten zu überschlafen, bevor sie tätig werden.
So wusste Schmalenbach erst gar nicht, wie ihm geschah, als Elke fahl und zitternd vor ihm stand. Elke – ja, Elke – suchte nach Worten: »Meine Zahnbürste ist nass!«
Schmalenbach nahm erst mal einen Schluck Kaffee. Er musste Zeit gewinnen. Die Lage sondieren. Die Gefahr erkennen.
Elke ließ sich auf einen Stuhl sinken. »Es ist unglaublich. Wirklich unglaublich.«
Schmalenbach hätte sich gerne nach der Ursache ihrer Erregung erkundigt, aber er wusste, dass Elke es hasste, ihre Wutanfälle auch noch erläutern zu müssen. Also übte er sich in Demut – die einzige Reaktion, die Elke als angemessen akzeptierte.
Sie zündete sich eine Zigarette an und blies den Rauch ins Nichts. Dann drückte sie die kurz angerauchte Zigarette auf Schmalenbachs Handrücken aus. Natürlich tat sie das nicht wirklich. Sie benutzte dazu den Unterteller ihrer Kaffeetasse. In ihrem Gesicht stand jedoch geschrieben, dass sie es eigentlich auf Schmalenbachs Handrücken tat.
»Warum hast du das getan?«, fragte sie.
»Was?«, entfuhr es Schmalenbach. Ein kapitaler Fehler.
»Das fragst du noch?«, schrie sie.
Wenn er schon alles vermasselt hatte, konnte Schmalenbach auch langsam zur Gegenwehr übergehen. Irgendwann würde er sowieso damit beginnen müssen, seine Haut zu retten – zumindest das, was davon übrig blieb, wenn Elke ihren Furor ausgetobt hatte. »Was habe ich damit zu tun, dass deine Zahnbürste nass ist? Ich bin doch nicht für alles verantwortlich. Ich bin doch auch nur ein Mensch. Ich tue doch auch nur das, was in meiner Macht steht. Wenn du mich stichst, dann blute ich. Wenn du …«
»Du hast sie benutzt, du schmuddeliger Kerl!«
Schmalenbach atmete auf. Kein wirklicher Alarm. Keine ernsthafte Bedrohung. Sie hatte nicht die Briefe der Bodybuilderin gefunden, die unter der Schreibtischauflage versteckt waren. Auch die Kontoauszüge des Geldmarktkontos, das Schmalenbach als eiserne Reserve und hinter Elkes Rücken bei einer unauffälligen Ökobank im Wetteraukreis unterhielt, waren ihr nicht in die Hände gefallen. Es handelte sich bloß um ihre Zahnbürste.
»Ich bitte dich, Elke, warum sollte ich deine Zahnbürste benutzen?«
»Weil du pervers bist!«, fuhr sie ihn an. »Weil du auf solche kaputten Sachen stehst. Das Normale – das liegt dir ja nicht. Das sagst du doch immer …«
»Ja, aber mehr in einem intellektuellen Zusammenhang. Weniger auf Zahnbürsten bezogen.«
Doch Elke schien seine wohlgesetzten Einwände gar nicht zu hören. »Und weil du ein Dreckspatz bist. Du wechselst ja auch nur alle paar Tage deine Unterwäsche.«
»Um dir die Arbeit mit der Wäsche einfacher zu machen.«
»Billige Ausreden! Schmatzt du etwa beim Essen, um meine Kochkünste zu loben?«
Wenn früher Frauen hysterisch wurden, waren ihre Partner dazu verpflichtet, ihnen rechts und links eine Ohrfeige zu versetzen. Schon hatten sie sich beruhigt. Das empfahlen Krankenkassen in ihren Mitgliederzeitschriften, das wurde sogar von Fernsehärzten angeraten. Wenn man heute auf dieses probate Heilmittel zurückgriff, hieß es gleich, man sei ein krimineller Charakter und gehöre ins Gefängnis. Heute blieb nur die verbale Ohrfeige, das rhetorische Kaltwasserbad, das Schmalenbach allerdings wie kaum ein anderer beherrschte.
»Ich schmatze nicht!«, sagte er. »Ich und schmatzen? Ich doch nicht!«
Das saß. Elke bebte zwar noch, aber sie schwieg.
»Willst du etwa leugnen, meine Zahnbürste benutzt zu haben?«, fragte sie nach einer Weile.
Schmalenbach fiel dazu nur ein klares »Ja« ein.
»Und warum ist sie dann nass?« Elkes Fingernägel trommelten auf der Tischplatte.
»Was weiß ich? Wahrscheinlich trocknet es schlecht in unserem Bad.«
»Deine ist trocken. Furztrocken.«
»Aha!« Schmalenbach fand, dass es Zeit war, zum Angriff überzugehen. »Du überprüfst die Feuchtigkeit unserer Zahnbürsten? Was überprüfst du denn sonst noch so? Meine Socken? Meine Kontoauszüge …«
»Nun lenk nicht ab! Du hast eindeutig heute Morgen meine Zahnbürste benutzt. Deine Bürste blieb unbenutzt, deshalb ist sie trocken. Hör auf, dich zu winden wie ein Ladendieb!«
»Mal ganz vernünftig, Elke, warum sollte ich so was tun?«
Elke fixierte ihn lange. »Um mich zu terrorisieren. Du weißt, wie penibel ich in diesen Dingen bin. Ich muss mir heute noch eine neue Zahnbürste besorgen. Ich will nicht deine Zahngeschwüre und deinen Karies haben. Meine Zähne sind gepflegt und in Ordnung. Mein Zahnarzt gratuliert mir jedes Mal. Kürzlich hat er gesagt, wenn alle so wie Sie wären, Elke …«
»Ich habe deine Zahnbürste nicht benutzt! Ich will dich auch nicht terrorisieren, Elke!«
Elkes Nasenflügel blähten sich rhythmisch auf. »Gut. Ganz von vorne und ohne illegale Druckmittel. Wir leben ja schließlich in einem Rechtsstaat, der solche Schmuddelkerle wie dich unter Naturschutz stellt, während die Frauen, die sie mit ihrem kaputten Sanitärverhalten in den Wahnsinn treiben, als hysterische Ziegen diffamiert werden. Mit welcher Zahnbürste hast du dir heute Morgen die Zähne geputzt, Schmalenbach?«
»Mit meiner natürlich. Wie immer.«
»Rekonstruieren wir die Ereignisse! Du hast dich ins Bad geschlichen …«
»Ich habe mir wie jeden Morgen mein Gesicht gründlich gewaschen und mir meine Zähne geputzt. Mit meiner Zahnbürste. Mit meiner orangenen Zahnbürste.«
Elkes Hände begannen zu zittern, Schweißtropfen traten auf ihre Stirn. »Deine ist die gelbe!«
Schmalenbach blieb ganz ruhig. »Du irrst dich. Meine Zahnbürste ist orange, deine ist gelb.«
»Nein, Schmalenbach, meine ist orange – und das schon seit Monaten.« Elkes Gesicht war verzerrt vor Wut und Schmerz. »Ich habe uns beiden vor einem halben Jahr zwei neue Zahnbürsten gekauft. Ich habe sie ausgepackt und in den Zahnbecher gestellt, und ich habe zu dir gesagt: Deine ist gelb, meine ist orange.«
Schmalenbach versuchte, sich genau zu erinnern. »Ich glaube, du täuschst dich.«
»Ich täusche mich nicht: Du putzt dir also seit Monaten mit der orangenen Zahnbürste die Zähne, weil du Vollidiot der Meinung bist, es sei deine?«
»Ich würde es etwas anders formulieren. Aber irgendwie trifft es den Kern der Sache.«
»Wir benutzen seit einem halben Jahr zusammen eine Zahnbürste – nämlich meine!«
Wahrscheinlich hatte sie Recht, aber zu ändern war das jetzt auch nicht mehr. »Mensch, Elke, was ist schon dabei? Wir haben alle möglichen Körpersäfte miteinander ausgetauscht. Was macht es da aus, wenn ich mir mit deiner Zahnbürste die Zähne putze – oder du dir mit meiner?«
Elke wurde panisch. Sie rannte hinaus, rumorte im Flur, war wenig später im Mantel und mit Schuhen zurück, ihr Haar hing ihr wirr in die Stirn. »Ich muss sofort los. Zum Zahnarzt.«
Schmalenbach wurde die Sache immer mulmiger. »Hör mal, Liebes …«
Sie brüllte ihn an: »Nenn mich bitte nie wieder Liebes!«
»Elke, es ist doch so …«
»Nenn mich auch nicht mehr Elke!« Jetzt kamen die Tränen. »Ich fühle mich so verdammt erniedrigt. Wenn ich mich wehren könnte: Aber so …« Sie rannte schluchzend davon.
»Für mich wäre das ein Trennungsgrund«, sagte Germersheimer düster, als Schmalenbach ihm am Abend von dem Zerwürfnis berichtete.
»Ich kann mich nicht von Elke trennen, nur weil sie eigen ist, wenn es um Zahnpflege geht.«
Germersheimer musterte Schmalenbach mit unverhohlener Abscheu. »Ich meinte nicht, ein Trennungsgrund für dich, sondern einer für Elke!«
Wieder einmal war bewiesen, dass schwache Charaktere in Konfliktsituationen zum Verrat an den engsten Freunden neigen.
»Ich würde auf getrennte Badezimmer bestehen«, sagte Elvira, die Kellnerin. Und Dieter, der Wirt, dem das Gesundheitsamt wegen seiner schlechten Zähne die Schankgenehmigung hatte entziehen lassen wollen, behauptete sogar, im Fernsehen wäre in Zusammenhang mit MKS vor der Benutzung fremder Zahnbürsten gewarnt worden.
Nur Pfeifenberger bewies mal wieder Souveränität.
»Was soll die Aufregung? Ich komme aus einer Großfamilie. Da gab es nicht für jeden eine eigene Zahnbürste. Die Menschen heutzutage sind völlig verweichlicht. Der natürliche und unverkrampfte Umgang mit ihrem Körper ist ihnen nicht mehr möglich. Deshalb werden sie auch sofort krank, wenn mal ein Virus in ihre Nähe kommt«, erklärte er und trank aus Schmalenbachs Bierglas.
»Du hast gerade aus meinem Glas getrunken!«, sagte dieser.
»Ja, habe ich das? Das war pure Unachtsamkeit.«
»Ich möchte das nicht. Verstehst du?!«
Pfeifenberger breitete die Arme aus. »Sind wir Freunde oder nicht?«
»Das hat damit nichts zu tun. Jeder hat sein eigenes Glas. Es ist eine Kulturleistung, dass wir Menschen nicht mehr aus dem gleichen Trog saufen.«
Pfeifenberger schob ihm sein Glas hin. »Bitte schön. Dann sind wir quitt.«
Als Schmalenbach wegschaute, nahm Pfeifenberger einen kräftigen Schluck und sagte: »Du bist ja noch schlimmer als Elke.« Das genügte. Schmalenbach bezahlte und ging nach Hause.
Elke hatte sich eine neue Zahnbürste gekauft. Sie war signalgrün und trug ein Namensschild: Elke’s. »Du weißt, dass das eine Unsitte ist – dieser falsche Genitiv?«, fragte Schmalenbach – nicht mal unfreundlich.
»Hauptsache, du vergreifst dich nicht an meiner Zahnbürste, du Schmutzfink!«, giftete Elke.
Es war beim besten Willen nicht mehr mit ihr zu reden. Sie drückte sich ein Kissen auf den Bauch und zog die Beine an. Wenn Schmalenbach sich näherte, grunzte sie aggressiv.
»Ich sehe ja ein, dass es ein Fehler war«, gestand Schmalenbach schließlich. »Aber ich hab’s nicht absichtlich getan. Und irgendwann muss man auch mal vergessen können.«
»Nicht so was!«, sagte Elke hart und trank einen großen Schluck giftig rotes Kukident.
Schmalenbach hatte verstanden: Er war verdammt. Auf immer und ewig.
Traurig und müde ging er zu Bett. Als er aufwachte, schlief Elke noch tief. Er betrachtete lange ihr Profil. Unvermittelt kamen ihm die Tränen. Warum hatte er das bloß getan? Warum hatte er sie so verletzt?
Schmalenbach stand leise auf und ging ins Bad. Das Licht über dem Spiegel blendete ihn. Als er seine Fratze sah, wurde ihm die ganze Erbärmlichkeit seiner Situation bewusst. Er hatte alles kaputtgemacht.
Er wusch sich mit eiskaltem Wasser. Dann putzte er die Zähne. Die noch nie benutzte gelbe Zahnbürste wütete in seinem Mund wie ein Schlagbohrer. Die Borsten waren stahlhart und trocken wie Reisig. Schmalenbach hielt den Schmerz nicht aus. Er berührte Elkes neue Zahnbürste. Sie war samtweich, sie passte sich der menschlichen Anatomie an wie ein Maßanzug. Sie sagte: »Tu es! Nimm mich!«
Es war wunderbar, ein beglückendes Gefühl von perfekter Mundhygiene. Diese neue Zahnbürste liebkoste sein Zahnfleisch und verwöhnte die Zähne. Schmalenbach hatte das Gefühl, ein neuer Mensch zu sein. Ein neuer Mensch mit dem jungfräulichen Gebiss eines kräftigen Kleinkindes.
Dann sah er es im Spiegel: der Rachegott, die Maske der Unversöhnlichkeit. Elke stand in der Badezimmertür.