Marx ist immer blau

 

Als Schmalenbach mit einer Tüte neuer Bücher nach Hause kam, sagte Elke: »Jetzt ist Schluss, wir platzen hier aus allen Nähten, und du schaffst immer noch Bücher an!«

Schmalenbach stellte die Neuerwerbungen in die letzte Lücke im Regal. Der Größe nach. Die Belletristik links, die Sachbücher rechts. Er begutachtete sein Werk und ward zufrieden.

»Wenn du sie wenigstens aus den verschweißten Hüllen nehmen würdest«, schimpfte Elke und wedelte mit dem Staublappen über die Regale. »Man muss sich richtig schämen, wenn Gäste kommen. Wie in der Tiefkühltheke bei ALDI.«

Schmalenbach musste noch mehr lesen, dann verschwanden auch die Klarsichthüllen schneller. Aber sie gleich nach dem Kauf abreißen – das wollte er auf keinen Fall. Es widerstrebte ihm, ein Buch zu behandeln wie ein Viertelpfund Aufschnitt oder wie eine Packung Süßigkeiten, die man noch hinter der Kasse des Supermarktes verschlang. Bücher mussten reifen. Bücher führten ein Eigenleben. Sie warteten auf den richtigen Zeitpunkt. Auf den Moment ihrer Entjungferung. Dass der Leser an seine Bücherregale trat und genau das Buch hervorzog, das er sich für diesen Tag aufgehoben hatte. Das war dann der Höhepunkt im Leben dieses Buches. Es gab sich ganz und gar in die sachten Hände seines Besitzers, ließ sich von ihm entkleiden und aufschlagen, ließ es zu, dass er die ersten zaghaften Wörter las, eine Einleitung vielleicht, die ihn darüber in Kenntnis setzte, wie er mit diesem einmaligen Werk umzugehen hatte.

Elke verstand von alledem nichts. Sie sah in Schmalenbachs heimlichem Harem ein Altpapierlager, das ihren Zimmerpflanzen die Luft und das Licht nahm und das verhinderte, dass endlich Platz frei wurde für die ersehnte IKEA-Anrichte. Sie musterte Schmalenbach, der stolz, die Hände auf dem Rücken gefaltet wie ein alter Bibliothekar, vor seiner Bücherwand stand. »Du musst dich von einigen Büchern trennen«, verkündete sie.

Schmalenbach fuhr herum »Niemals!«, schrie er. Sein Kopf war hochrot. Elke genoss es, wenn Schmalenbach sich so erregte, zeigte es ihr doch, dass sie immer noch Zugriff auf sein etwas spröde gewordenes Gefühlsleben hatte.

Schmalenbach riss sich den Kragen auf und schnappte nach Luft. »Weißt du, was mit den Menschen geschehen ist, deren Bücher in Antiquariaten stehen?«

Elke strahlte. »Natürlich. Diese Menschen leben in hellen Wohnungen, atmen eine staubfreie Luft, erfreuen sich an ihrer neuen IKEA-Anrichte und haben eine interessante neue Beziehung, weil sie den langweiligen Bücherwurm, der ihre Wohnung und ihren Hormonhaushalt verstopft hat, gleich mit dem Altpapier entsorgt haben.«

»Falsch. Sie haben Selbstmord begangen, haben ihr Gedächtnis verloren oder sind für Jahre ins Gefängnis gewandert.« Schmalenbach zog seinen Mantel über und rannte erzürnt davon.

Pfeifenberger ergriff sofort leidenschaftlich Partei. Allerdings gegen Schmalenbach. »Du nimmst eine völlig unzeitgemäße Haltung ein«, tönte er. »Wer im Zeitalter des elektronisch abrufbaren Wissens noch an seinem Bücherschrank hängt, ist wie einer, der sich eine Kuh im Wohnzimmer hält, damit er morgens Milch im Kaffee trinken kann.«

»Aber das Buch … das ist doch Kultur, das ist erworbenes Wissen, kollektives Gedächtnis … das letzte Bindeglied zur großen Tradition des menschlichen Geistes. Das Buch ist …«

»… ein Anachronismus«, höhnte Pfeifenberger. Und selbst Germersheimer, der neuerdings seine unlesbaren Texte ins Internet stellte, wo sie augenblicklich von allen Surfern gemieden wurden wie ein asiatischer Festplattenvirus, nickte: »Schmalenbach, du bist ein Fossil.«

Schmalenbach ging vorzeitig nach Hause. Er wollte allein sein. Allein mit seiner Bibliothek.

Elke war noch wach. Sie saß auf der Couch vor Schmalenbachs Bücherwand und zerdrückte ein feuchtes Tempotaschentuch. Ihr Gesicht war verheult. »Ich habe auf dich gewartet«, begann sie. »Den ganzen Abend ging mir unser Gespräch nicht aus dem Kopf. Ich glaube, ich habe mich unmöglich benommen. Ich weiß doch, dass die Bücher dein Leben sind …«

Schmalenbach nahm ihre Hand mit dem Tempotaschentuch. Er war gerührt, anders kann man es nicht sagen. »Ich will ja auch nicht stur erscheinen«, hauchte er.

»Es ist nur …«

Elke winkte ab, sie wirkte fast heroisch in ihrer Zerknirschung. »Mein Gott, du hast ja auch sonst nicht viel! Andere Männer treiben Sport oder gehen fremd. Oder sie ziehen prächtige Kinder groß. Du bist anders. Und jung bist du auch nicht mehr. Was bleibt ihm vom Leben, habe ich mich gefragt. Wenn man mal von mir absieht, eigentlich wenig.«

Schmalenbach wollte zaghaft protestieren, aber Elke wurde von einem bösartigen Hustenanfall geschüttelt. Sie rannte ins Bad. Schmalenbach kam sich ziemlich rücksichtslos vor. Und das voll geheulte Taschentuch brannte in seiner Hand.

Als sie aus dem Bad zurückkam, war ihre Stirn von knallroten Pusteln übersät. »Das ist nichts«, wiegelte sie Schmalenbachs Fürsorge ab. »Komm mir bloß nicht zu nahe, vielleicht kann man sich damit anstecken!«

»Ich rufe einen Arzt«, stammelte Schmalenbach.

Doch Elke winkte ab. »Lass! Das ist nicht das erste Mal. Eine einfache Hausstauballergie …« Sie machte ein leidendes Gesicht. »Selbst eine noch so fleißige Hausfrau kommt nicht gegen den Staub deiner Bücher an«, klagte sie und ging in einer Haltung zu Bett, die Schmalenbach an Marie-Antoinette erinnerte.

Es war tragisch: Gegen eine Hausstauballergie konnte man nicht auf der Literatur beharren. Die ganze Nacht verbrachte Schmalenbach mit seinen geliebten Büchern. Jedes nahm er noch einmal in die Hand, streichelte es, sagte ihm ein paar persönliche Worte, blätterte ein wenig darin – bis ihm unweigerlich die Tränen kamen. Gegen Morgen fällte er den schwersten Entschluss seines Lebens. Er musste ein Zeichen setzen.

Beim Frühstück verkündete Schmalenbach, bleich und übernächtigt wie eine Mutter, die ihren Lieblingssohn ins Feld schicken musste, dass er sich von einigen Büchern trennen würde. Er hatte sich – trotz grauenhafter Gewissensbisse – gegen die dreibändige Ausgabe von Marx’ Das Kapital entschieden.

Elke küsste ihn und sagte: »Der Große Brockhaus hätte mehr Platz freigemacht.«

»Ich bitte dich, Elke! Eine Enzyklopädie. Das Gedächtnis unserer Gattung.«

»Ins Kapital hast du seit fünfundzwanzig Jahren nicht mehr reingeguckt. Wie ich dich kenne, hast du nie da reingeguckt, sondern immer nur davon geredet …«

»Elke!«, mahnte er. »Jetzt überschreitest du eine magische Grenze.«

»Ich hätte mir gewünscht, dass du mir ein größeres Opfer bringen würdest«, erklärte Elke trotzig. Schmalenbach, dessen Buchopfer symbolisch gedacht war, floh, bevor sie konkreter werden konnte.

Im Antiquariat staunten sie nicht schlecht. Der Verkäufer rief einen Kollegen, sie begutachteten eingehend die Ware, nickten fachmännisch und gaben sie Schmalenbach mit Bedauern zurück. »Wir haben hinten noch zwei Zentner Kapital liegen. Im Übrigen: Mit der Widmung sind die Bücher unverkäuflich.«

Erst jetzt fiel Schmalenbach die etwas krakelige Schrift im ersten Band auf. Meinem dicken Hasen! Er konnte sich nicht mehr erinnern, von wem diese Widmung stammte.

So landete Schmalenbach beim Trödler Schimala. Der wog die Bücher und bot zwei Euro. Schmalenbach nahm den Judaslohn zähneknirschend in Empfang.

An diesem Abend betrank er sich allein. Nur die verbliebenen Bücher seiner Bibliothek durften ihm Gesellschaft leisten, und er schwor sich, nie, nie wieder ein Buch zu verkaufen. In der Nacht schlief er schlecht, er träumte davon, dass seine drei Bände Kapital von einem Möbelhaus erworben wurden, das sie dazu benutzte, seinen billigen Regalsystemen eine bildungsbürgerliche Aura zu verpassen.

Morgens ging es ihm elend. Er dachte zum ersten Mal daran, sich von Elke zu trennen.

Als er sich zwei Tage später wieder ins »Promi« traute, traf er dort einen völlig aufgekratzten Pfeifenberger. »Wo warst du die ganze Zeit? Mann, ich stecke vielleicht in der Bredouille. Du musst mir unbedingt meine Bücher zurückgeben, Schmalenbach.«

»Welche Bücher?«

»Die, die ich dir vor kurzem ausgeliehen habe. 1976 oder 77. Die drei Bände. Das Kapital.«

»Aber das ist doch längst verjährt, Pfeifenberger. Mach dich nicht lächerlich!«

»Ich muss die Bände wiederhaben. Das war mein Hochzeitsgeschenk von Carola. Und ausgerechnet jetzt wird sie nostalgisch und will eine Widmung sehen, die sie angeblich da reingekritzelt hat.«

»Das ist ein Vierteljahrhundert her«, lachte Schmalenbach.

»Du kennst doch die Frauen. Bei denen ist alles so schrecklich gefühlsbeladen. Also …«

»Ich habe sie nicht mehr.«

»Wie kannst du Bücher weggeben? Bücher sind der letzte Garant unserer Kultur … ein …«

»… ein Anachronismus«, konterte Schmalenbach. »Hast du selbst gesagt.«

Pfeifenberger wurde nachdrücklich. »Die Bücher gehören immer noch mir. Ich verlange von dir, dass du mir mein Eigentum zurückgibst. Das ist eine Frage der Ehre, mein Lieber.«

Also ging Schmalenbach zu Schimala. Er kannte den alten Fuchs und wusste, dass der Trödler ihm die drei Bände nicht mehr für zwei Euro zurückgeben würde. Er würde mindestens zehn Euro verlangen. 400% Gewinn in wenigen Tagen. Schmalenbach ärgerte sich jetzt schon über die Beutelschneiderei.

Doch als er auf die drei Bände Kapital zeigte, die zwischen Und Jimmy ging zum Regenbogen und einem von der Bundeszentrale für politische Bildung herausgegebenen Sexualatlas standen, wurden Schimalas Augen feucht.

»Nein! Niemals! Marx ist unverkäuflich. Damit bin ich groß geworden.«

Schmalenbach biss auf die Zähne und bot erst fünf, dann zehn Euro.

Doch Schimala blieb eisern: »Ich bin ja ein Freund des Kapitalismus, aber irgendwo muss der Profit vor den großen Gefühlen zurückstehen.«

Schmalenbach rannte zu dem Antiquariat. Die Herren konnten sich plötzlich nicht mehr an die zwei Zentner günstiger Restbestände erinnern. Sie zauberten aber eine abgegriffene Ausgabe hervor, die sie als Liebhaberexemplar deklarierten, angeblich stammte sie aus dem Besitz von Joschka Fischer, der sie gegen einen Jahrgang Schöner Wohnen bei Jürgen Habermas eingetauscht hatte. Schmalenbach glaubte den beiden kein Wort – aber er löhnte zähneknirschend die 50 Euro. Die beiden lächelten zufrieden. Einer sagte: »Ein schönes Gefühl, auf einen Menschen zu treffen, der seinen Glauben an die Revolution noch nicht dem Kommerz geopfert hat.«

Zu Hause saß Schmalenbach Stunden über dem Fälschen von Carolas Widmung. Als er Pfeifenberger dann die drei Bände auf den Tisch knallte, behauptete der dreist: »Die drei Bände, die ich dir ausgeliehen habe, waren nicht blau.«

»Marx ist immer blau«, fuhr Schmalenbach ihn an.

»Der Spaß hat mich 50 Euro gekostet.«

Pfeifenberger blätterte. »Das ist auch nicht Carolas Schrift. Sie hätte mich niemals mein dicker Hase genannt. Ihre Widmung lautete: Dem Mann, der mich glücklich machen wird. Der Autor war auch nicht Marx, sondern …«

Er grübelte. »Mabuse. Genau: Dr. Mabuse.«

Schmalenbach packte seine Bücher und lief nach Hause. Elke war gerade dabei, den Platz für die Anrichte auszumessen. Schmalenbach presste Das Kapital wieder in die frei gewordene Lücke. Elke bekam einen Wutanfall. Sie griff nach dem erstbesten Buch, um es aus dem Fenster zu schleudern. Schmalenbach versuchte, ihr das gute Stück zu entwinden: Es war Marcuses Der eindimensionale Mensch. Es fiel zu Boden und klappte auf. Eine Widmung. Dem, der mich glücklich machen wird. Beide verharrten andächtig.

»Wie konnte ich nur!«, schluchzte Elke. »Unser Buch aus dem Fenster werfen zu wollen! Mit meiner Widmung. Verzeihst du mir?«

Schmalenbach tat es großmütig. Zusammen räumten sie die Bücher wieder ein. Danach las Schmalenbach ihr aus Marcuse vor. »Was meinst du?«, fragte Elke irgendwann. »Welche Buchstaben aus dem Großen Brockhaus brauchst du am allerwenigsten? X? Y? Z? Oder E?«