Der Telefonbucheintrag
Morgens um halb neun klingelte das Telefon. »Das hat nichts Gutes zu bedeuten«, sagte Elke mit vollem Mund – obwohl sie sonst nie mit vollem Mund sprach.
Schmalenbach schaute auf die Küchenuhr. »Eigentlich bin ich um diese Zeit schon im Büro – es kann also nur für dich sein.«
Elke stellte die Kaffeetasse ab. »Du vergisst, dass ich seit Jahrzehnten vor dir aus dem Haus gehe, Schmalenbach. Nur heute bin ich später dran. Das kann der Anrufer aber nicht wissen.«
»Wahrscheinlich hat sich jemand verwählt.«
Es klingelte bereits zum fünften oder sechsten Mal.
»Soll ich noch mal Kaffee aufbrühen?«, fragte Elke, als wäre nichts gewesen.
»Man muss es sich einfach zur Gewohnheit machen: Jeden Abend den Anrufbeantworter einschalten und ihn erst wieder abschalten, wenn man für die Öffentlichkeit zu sprechen ist. Im Grunde ist das der letzte Rest an menschlicher Würde, die man sich in dieser totalen Kommunikationsgesellschaft bewahren kann …«
Schon wieder klingelte das Telefon. Immer fordernder.
»Und wenn es etwas Familiäres ist?«, fragte Elke bang.
»Ein Todesfall vielleicht? Oder dein Offenbacher Bruder sitzt wieder im Knast.«
»Der hat in diesen Dingen Routine«, entgegnete Schmalenbach gelassen. »Meine Sippe ist zäh. Aber vielleicht ist deiner Mutter was zugestoßen …«
»Meine arme Mutter ist vorletztes Jahr gestorben, Schmalenbach. Merk dir das endlich!!!«
Das Telefon klingelte schon wieder. Elke starrte den Apparat an. »Vielleicht ist es einer dieser Typen … du weißt schon … diese Kerle, die Frauen anrufen. Um ihnen schmutzige Dinge zu sagen. Sie suchen sich im Telefonbuch die Nummer einer Frau raus und legen los. Widerlich! Ich sage dem Schwein jetzt meine Meinung, der wird sich das nächstes Mal genau überlegen, bevor er eine Frau telefonisch belästigt …«
Sie stand auf. »Stopp!«, rief Schmalenbach.
Elke lächelte nachsichtig. »Du glaubst, es könnte mich verletzen, stimmt’s? Du glaubst, ich bin ein so zartes Wesen, dass ich diese Perversionen nicht verkrafte.« Sie streichelte ihm über den Kopf. »Du bist und bleibst ein großes Kind. Ich will dir was sagen: Solche Anrufe lassen mich kalt. Eine reife, lebenserfahrene Frau wie ich – die steht doch weit über diesen kranken Typen. Heute Abend scherzen wir über die Ungeheuerlichkeiten, die er mir gleich sagen wird.« Das Telefon läutete wieder – diesmal schon kraftloser. »Oder ist es … Eifersucht?«
»Eifersucht?«, rief Schmalenbach aus.
Elke musterte ihn, als hätte sie ihn seit Wochen nicht mehr gesehen. »Wir sind erwachsene Menschen, und wir wissen, dass diese Kerle nicht nur anrufen. Sie tun ja auch was, während sie mit den armen Frauen sprechen. Es ist für einen Mann nicht einfach hinzunehmen, dass seine Frau mit einem Wildfremdem in diese intime Situation kommt. Aber mach dir keine Gedanken: Ich sehe die Angelegenheit als eine Art Realitätsstudie an. Sachlich und unaufgeregt …«
Jetzt hatte Schmalenbach genug. »Du stehst gar nicht im Telefonbuch! Es steht da bloß Schmalenbach und unsere Nummer. Fertig. Du kommst bei den Perversen nicht mal in die Vorauswahl, Elke.«
»Ich stehe nicht im Telefonbuch?«, fragte Elke tonlos. Sie sprang auf, rannte in den Flur, holte das Frankfurter Telefonbuch und schlug nach. »Wirklich. Schmalenbach. Sonst nichts. Warum, bitte schön, erfahre ich das jetzt erst?«
»Du hast dich ja nie darum gekümmert.«
Das Telefon klingelte. Schwach und hoffnungslos.
Elke steckte sich vor Wut zitternd eine Zigarette an.
»Auf die Gefahr hin, um Stunden zu spät zur Arbeit zu kommen und mir eine Abmahnung einzuhandeln: Kannst du mal erklären, wie du darauf kommst, unser beider Telefonanschluss als Schmalenbach einzutragen?!«
Schmalenbach spürte, dass sich dieses Detail zu einer Staatsaktion auswachsen konnte, und wollte beschwichtigen: »Immerhin: Von fiesen Anrufen sind wir bisher verschont geblieben.«
Elke zog nervös an ihrer Zigarette. »Alle meine Kolleginnen ereifern sich unentwegt wegen unsittlicher Anrufe – und ich sitze dabei wie ein Mauerblümchen …«
Das Telefon klingelte nicht mehr.
»Siehst du«, sagte Schmalenbach versöhnlich. »Jetzt hat er’s aufgegeben. Wahrscheinlich wieder so eine dümmliche Umfrage dieses Meinungsforschungsinstituts, das immer im ZDF-Politbarometer erwähnt wird. Die haben letzte Woche schon mal angerufen.« Er versuchte der Angelegenheit eine kabarettistische Note zu geben, indem er eine Fistelstimme nachahmte. »Wenn am nächsten Sonntag Bundestagswahlen wären, wen würden Sie dann wählen? SPD oder CDU? FDP oder Grüne? Oder gar PDS? Lächerlich!«
Elke drückte die halb gerauchte Zigarette in der Butter aus. »Soll das heißen, wir werden nach unserem Wählerverhalten gefragt, und ich erfahre nichts davon?«
Jetzt machte Schmalenbach – aus purer Unachtsamkeit – einen schweren Fehler: »Nicht wir. Ich. Ich wurde gefragt. Herr Schmalenbach.«
Elke wurde rot vor Wut: »Weil ich ja auch nicht im Telefonbuch stehe!«
Schmalenbach begann zu eiern. »Wenn ich gewusst hätte, dass du so einen großen Wert auf diesen Eintrag legst, dann hätte ich natürlich …«
Elke lief durch die Küche wie ein Panther durch seinen Käfig. »Ja, ich lege Wert darauf, als mündiger, erwachsener Mensch behandelt zu werden.«
Schmalenbach versuchte es in einem therapeutischen Ton. »Ist es wegen der sexuellen Anrufe? Fühlst du dich etwa deinen Kolleginnen gegenüber zurückgesetzt?«
»Ich bestimme selbst, ob ich erreichbar bin oder nicht, klar?« Elkes Hals schwoll an.
»Ich finde, diese Anrufe werden überschätzt«, behauptete Schmalenbach kleinlaut.
»Du und die weibliche Psyche – das ist wie ein Radfahrer, der über die Steuerung eines Airbusses spekuliert«, schimpfte sie.
Das Telefon klingelte wieder. »Ich geh jetzt ran«, sagte Schmalenbach und erhob sich.
Elke stellte sich ihm in den Weg. »Das tust du nicht!«
Ihre martialische Haltung reizte Schmalenbach zur Überheblichkeit. »Was soll das? Es ist ja sowieso für mich.«
Er wollte an ihr vorbei, doch sie hielt ihn fest. »Zuerst sagst du, was du bei dieser Umfrage geantwortet hast? Wen würdest du wählen, wenn am Sonntag Bundestagswahl wäre?«
Schmalenbach wusste nicht, wieso, aber er zierte sich.
»Warum ist das so wichtig?«
Elke schrie ihm ins Gesicht: »Weil du demoskopisch gesehen auch für mich geantwortet hast – allerdings ohne meine ausdrückliche Billigung. Ein Skandal!«
Das Telefon klingelte wieder.
»Ist doch egal, was bei so einer Umfrage geantwortet wird …«
Elke tobte. »Von wegen. Diese Umfrageergebnisse werden veröffentlicht, und ein Teil der Bevölkerung orientiert sich bei der Wahlentscheidung daran.«
»Ich wusste ja nicht, dass du dich so brennend für Politik interessierst.« Das Telefon klingelte wieder. »Sicher machen sie sich im Büro Sorgen, dass mir was passiert sein könnte.«
»Sag, welche Partei!«
»Nein. Es ist mein gutes Recht, meine politische Entscheidung für mich zu behalten.«
»Du hast in meinem Namen gestimmt. Ich gehe damit bis nach Kassel.«
»Was willst du damit in Kassel?«, fragte Schmalenbach.
»Zum Bundesverfassungsgericht. Das wird hohe Wellen schlagen …«
Das Telefon klingelte nicht mehr.
»Ich muss jetzt ins Büro«, sagte Schmalenbach und floh.
Als er auf die Straße trat, wusste er plötzlich nicht mehr, wo er am Vorabend seinen Wagen abgestellt hatte. Das kam öfter vor. Die Suche konnte Tage dauern.
Er war kaum im Büro, da klingelte das Telefon. Pfeifenberger. Unanständig gut gelaunt. »Kannst du mir heute Abend deinen Wagen leihen?«
»Ich weiß nicht mehr, wo ich ihn gestern Abend abgestellt habe. Aber das ist noch nicht alles«, sagte Schmalenbach und erzählte ihm von dem tiefen Zerwürfnis mit Elke. »Bis zur nächsten Ausgabe des Telefonbuches wird sie mich quälen.«
Pfeifenberger hatte eine patente Idee. »Du und ich, wir wissen doch, worum es geht: Elke gibt dir die Schuld dafür, dass sie noch nie telefonisch belästigt wurde. Die Sache ist ausgestanden, wenn es denn passiert. Also müssen wir es arrangieren. Ich bin eigentlich nicht der Typ für so was, aber dir zuliebe …«
»Ich bin mir nicht sicher, ob sie wirklich Wert darauf legt.«
»Natürlich legt sie keinen Wert darauf, keine vernünftige Frau tut das. Mein Anruf soll ihr nur zeigen, dass sie telefonisch durchaus eine eigenständige Existenz führt.«
Schmalenbach war die Sache trotzdem nicht geheuer.
»Elke ist anspruchsvoll, da reicht es nicht, anzurufen und ein paar Schweinereien ins Telefon zu hauchen.«
»Lass mich nur machen!«, sagte Pfeifenberger selbstbewusst und legte auf.
Auf dem Nachhauseweg kaufte Schmalenbach eine Flasche Prosecco. Für die Versöhnung.
Elke sprach an diesem Abend wenig, auf Schmalenbachs Konversationsversuche reagierte sie gereizt. Um zehn vor acht läutete das Telefon. Pfeifenberger, der Hasardeur!
»Dein Telefon läutet«, sagte Elke spitz, als Schmalenbach nicht ranging.
Schmalenbach konnte es nicht unterlassen, beschwingt zu flöten: »Sicher für dich.«
Doch Elke dachte nicht daran abzuheben. Glücklicherweise hatte Pfeifenberger den langen Atem, den ein solches Kommandounternehmen erforderte: Er ließ es klingeln.
»In Zukunft werde ich mich übrigens nicht mehr an der Telefonrechnung beteiligen. Offiziell bin ich ja gar kein Fernsprechteilnehmer«, erklärte Elke bitter.
Das Telefon klingelte. »Wahrscheinlich wieder dieses Meinungsforschungsinstitut«, seufzte Schmalenbach. »Du könntest jetzt deine Stimme für die Wahl am Sonntag abgeben.«
»Das politische System der BRD ist zutiefst undemokratisch«, sagte sie. »Das ist mir heute Morgen klar geworden. Keine Partei bekommt meine Stimme.«
Dem Läuten des Telefons merkte man an, dass es das letzte war. Schmalenbach sprang hin und hob ab. Ein schweres Stöhnen. Pfeifenberger machte seine Sache gut.
»Ich verstehe«, sagte Schmalenbach laut. »Sie wollen meine Frau.«
Er hielt Elke den Hörer hin. Missmutig nahm sie das Gespräch an. Aber das Eis war sofort gebrochen. Sie hörte gebannt zu. Pfeifenberger war eben ein Könner.
Elke lächelte versonnen. So einfach funktionierte die weibliche Psyche. Man brauchte nur die griffige Formel. Schmalenbach und Pfeifenberger – sie hatten diese Formel.
»Sagen Sie das noch mal!«, bettelte Elke. Hoffentlich übertrieb Pfeifenberger nicht, der Mann war genial, aber es fehlte ihm der Sinn für das richtige Maß.
»Vielen Dank«, hauchte Elke. »Und rufen Sie doch wieder an! Bei Gelegenheit.«
Sie war völlig aufgekratzt, als sie auflegte. Ein Segen, eine Frau zu haben, die so leicht zu handhaben ist, dachte Schmalenbach noch.
»Das war unser Hausmeister«, begann sie nach einer kleinen Ewigkeit. »Er hat heute Morgen fieberhaft versucht, dich telefonisch zu erreichen. Jemand wollte, dass du deinen Wagen vor seiner Einfahrt wegfährst. Aber du bist ja nicht rangegangen. Also wurde dein Wagen – abgeschleppt.« Sie brach in ein infernalisches Lachen aus: böse und schadenfroh.
Das würde teuer werden. Schmalenbach brauchte einen Schnaps. Wieder klingelte das Telefon. Diesmal ging sie selbstverständlich ran – wie immer. Sie meldete sich und gab wenig später Schmalenbach den Hörer. »Für dich.«
»Und jetzt hör mir gut zu, du arrogantes Biest: Ich bin völlig nackt, und ich stelle mir vor, du würdest …«, sagte Pfeifenberger mit verstellter Stimme. Er keuchte. »Du würdest …«
»Falsch verbunden«, sagte Schmalenbach und legte auf.