NEUN
Als sie aus dem Wagen ausstiegen, blieb das Licht im Inneren aus. Hannah stieg nach Gray aus. Trockenes Gras knisterte unter ihren Füßen. Es war beinahe pechschwarz draußen, kalt und vollkommen still, kein Lüftchen regte sich. Ein Schauer von Vorahnung lief ihr über den Rücken, der feucht war von nervösem Schwitzen. „Nennt man das deshalb verdeckte Operation?“, fragte sie scherzend und mit leiser Stimme, da es unglaublich still war.
Sie wollte wirklich, wirklich, wirklich gern zu Hause sein, in ihrem Pyjama fernsehen und ihren Freitag-Abend-Löffel voll mit Ben & Jerry’s Chocolate Fudge Brownie essen. Sie wollte vergessen, in was Colton sie reingezogen hatte. Sie wollte, dass er wieder sicher im Büro des Versicherungsunternehmens wäre, wo er arbeitete. Wollte Grayson wieder-vergessen. Sie wollte, dass die Mütter zurück aus Asien nach Hause kamen, damit sie Provenance Inc. nicht mehr leiten brauchte.
Sie wollte sich außerdem nicht so scheiße fühlen, weil Probleme mit Unterzuckerung gerade wirklich nicht in den Plan passten.
Das war eine lange Liste mit tollen Wünschen. Aber sehr viel weiter kam Hannah nicht. Sie konnte nicht weiter voraus denken, als diese Tortur hier durchzustehen.
Der Hangar war etwa dreißig Meter weit weg und zeichnete sich wie ein riesiger, schwarzer Würfel vor dem Nachthimmel ab. Sie trottete schweigend zwischen Grayson und einem Mann, groß wie ein Berg, dahin. Zwei seiner Männer gingen vor ihr, ein männlicher und eine weibliche Agentin hinter ihr. Alle waren in Schwarz gekleidet und verschmolzen fast vollständig mit der Dunkelheit.
„Glaubst du, dass ich versuchen werde, auszubrechen und davonzulaufen? Über eine dunkle Fläche laufe, in einer fremden Stadt, ohne Geld und Papiere?“, fragte sie mit einem Hauch von Sarkasmus.
„Sprich leise“, sagte er so leise, dass sie ihn eigentlich nicht hätte hören dürfen. Doch trotz des leisen Wisperns, hörte sie jedes Wort. „Wir wissen nicht, ob Steinfisch noch mehr von seinen Leuten in der Gegend hat. Wir gehen kein Risiko ein.“
Fantastisch. Jetzt hatte sie das Gefühl, als hätte sie mitten auf dem Rücken eine Zielscheibe. Noch am Morgen kannte sie außer Bourne und Bond keinen einzigen Spion. Und nun war sie von den Originalen umgeben. Es schien unendlich lange her zu sein, und nicht nur ein paar Stunden, als sie mit Colton an Bord der Stone’s Throw gekommen war. Und seit dem hatte ihr Leben eine sonderbare, furchterregende Wendung genommen.
Von Grays Männern umgeben zu sein war, als würde sie zwischen den Wänden einer schwarzen Höhle gehen. Hannah war froh, als sie den Hangar durch eine Seitentür betraten. Sie blinzelte in die strahlend hellen Deckenlichter, die den weiten, leeren Raum ausstrahlten und war froh, als sich die Männer entfernten. Grayson blieb jedoch wie eine Klette an ihrer Seite.
Sie warf ihm einen Blick zu. Konzentriert und kämpferisch schritt er zur Mitte des großen Raumes und hielt sie stets in Reichweite seiner Hände, ohne sie jedoch zu berühren. Sie vergaß immer, wie groß er war, bis er direkt neben ihr stand. Ein Meter zweiundneunzig unbestreitbarer Männlichkeit, mit seinem mit dunklen Bartstoppeln bedeckten Kinn, dunklem, gefährlichem Blick und dem hautengen, schwarzen Outfit, das seinen hochgewachsenen, männlichen Körperbau perfekt präsentierte. Er sah höllisch zäh, einschüchternd und gefährlich aus. „Dir würde ich ja nicht in einer dunklen Gasse über den Weg laufen wollen“, sagte sie halblaut zu ihm und legte einen Schritt zu, um mit seinen langen Schritten mitzuhalten.
Es war beunruhigend zu reailsieren, dass sie diesen Grayson überhaupt nicht kannte.
„Glaub mir“, sagte er und musterte den weiten Raum und die umherlaufenden Menschen, als würde er nach Ninjas suchen, die aus allen Ecken springen könnten; was Hannah weiß Gott nicht im Geringsten überraschen würde. „Du würdest mich in der dunklen Gasse bei dir haben wollen.“
Sie rieb sich gegen die leichten, nervenden Kopfschmerzen mit zwei Fingern über ihre Schläfen. „Zum Glück bin ich nicht in so vielen dunklen Gassen unterwegs.“
Er warf ihr von schräg oben einen Blick zu und sein Ausdruck wurde weicher: „Ich weiß, dass dir all das totale Angst macht, aber halt durch, Tink. Bleib bei mir, bis wir wissen, wer wer ist, okay?“
Jetzt, wo die Gefahr vorüber war, merkte Hannah, dass es ihr nicht so prickelnd ging. Angst, Stress, ein schaukelndes Schiff. Niedriger Blutzucker. Mist. Sie zuckte mit den Achseln. „Ich habe gerade nichts Besseres vor.“
Der Hangar war alt und wurde wahrscheinlich nicht mehr genutzt. Rostende, geriffelte Wände, mit Ölflecken überzogener Zementboden und ein Haufen kaputter Kisten stapelten sich ungeordnet in der gegenüberliegenden Ecke. Die Hälfte der Deckenlampen war durchgebrannt oder hing an den Stromkabeln herab.
Sie war durstig und blendete das Gemurmel der verschiedenen Unterhaltungen aus. Sie blickte sich nach etwas Trinkbarem um.
Eine Limo würde ihr mit ihrem Blutzuckerspiegel helfen, bis sie etwas Richtiges zu Essen finden würde. Es schien keinen Getränkeautomaten zu geben. Aber auch wenn es einen gegeben hätte, wäre wohl angesichts des Zustands des Hangars alles bereits verdorben gewesen.
Abgesehen von den Menschen, die herumschwirrten, und von den Bergen von durch den Wind herein geblasenen Blättern und Abfällen in den Ecken, war der Raum leer. Nur ein paar große Fettflecken, wo einmal Flugzeuge gestanden hatten. Graysons Männer, die mit identischen, geschmeidigen, schwarzen Anzügen bekleidet waren, hatten ihre Hauben zurückgeschoben und begannen, die Schwärme von Menschen vom Schiff aufzuteilen.
Der Vorgang war laut und sie lernte ein paar neue Kraftausdrücke, als jeder seiner Meinung noch lauteren Ausdruck verlieh, als die Person neben ihm. Große Mengen Gereiztheit lagen in der Luft.
„Der Flieger wird bald hier sein“, teilte Grayson ihr mit und schenkte ihr einen kleinen Teil seiner Aufmerksamkeit.
Sie trat einen Schritt zurück: „Ich werde dir nicht im Weg stehen.“
Er schloss seine Hand um ihr Handgelenk: „Nein, häng dich an mich dran, wie eine Klette. Ich will dich jederzeit im Blick haben.“
Hannah war versucht, ihn daran zu erinnern, dass er in keiner ihr bekannten Form ihr Chef war, biss sich aber auf die Zunge und entzog sich seinem Griff. Die Wahrheit war, dass er der einzige Mann hier war, dem sie vertraute; sie traute ihm nur nicht mit seiner Berührung.
Als sie das vertraute, sandblond schimmernde Haar in der Menge sah, deutete sie mit ihrem Kinn auf seinen Bruder. „Dort drüben ist Colton. Gott. Er sieht völlig verängstigt aus.“
„Gut“, sagte Gray ohne Mitleid. „Ich will dich nicht bei ihm sehen, bis er verhört wurde.“
„Komm schon, Grayson. Du weißt, dass er nicht wusste, mit wem er es zu tun hatte.“
„Niemand mit nur einem verfluchten Funken von Verstand macht Geschäfte mit jemand, bevor er nicht alles über seine Partner weiß. Oder lass es mich anders formulieren. Würde man seiner Mutter mehrere Millionen Dollar stehlen? Nein. Dafür wäre man verdammt noch mal zu gut.“
Hannah hatte noch nie zuvor die unterdrückte Brutalität in seiner Stimme gehört, während er aussprach, was sie dachte. „Würde man dich am anderen Ende der Welt an Bord eines Schiffes bringen, nur um dich verdammt noch mal zu beeindrucken, dich dabei aber in Wirklichkeit in den Schoß nicht nur eines Terroristen, sondern einer Gruppe von Terroristen zu werfen, deren Anführer die Nummer eins auf der verfluchten Fahndungsliste von einem halben Dutzend Ländern ist!“
„Hör auf, Gray. Er wusste nicht, dass das Terroristen waren.“ Mann, sie war so nicht in der Stimmung, sich jetzt mit Grayson auseinanderzusetzen. Sie pfiff bereits so schon aus allen Löchern, um mit ihm Schritt zu halten.
Sie hatte keine Möglichkeit, ihren Blutzuckerspiegel zu messen, da sich alles, was sie besaß, auf dem Grund des Südpazifiks befand. Aber wenn ihre verschwommene Sicht und andere Symptome ein Hinweis waren, dann war er niedrig.
„Er ist ein Krimineller, Hannah. Er hat die Lebensersparnisse der Mütter und mehr gestohlen. Der Anteil für Investoren war zehn Mille pro Person – Was? Du wusstest nicht, wie hoch die Gesamtsumme war?“
„Du musst dich irren. Provenance Inc. läuft ganz gut, richtig gut, aber sie hatten nicht so viel Geld. Ich hatte geschätzt, dass er irgendetwas um die fünf Millionen genommen hatte.“
„Tja, dann hat er den Rest von jemand anderem gestohlen“, sagte Grayson grimmig. „Wir werden es wissen, nachdem er verhört worden ist. Und mach dir nichts vor, er wird strafrechtlich verfolgt werden, und die Chancen stehen verdammt gut, dass er einige prägende Jahre hinter Gittern verbringen wird. Zumindest wird ihm das Respekt lehren und dass er verflucht noch mal nicht stehlen soll, besonders nicht von seiner eigenen Familie.“
„Dieser Zug ist schon vor ganz langer Zeit abgefahren“, sagte Hannah trocken. Sie wollte sich wirklich gern hinsetzen. Colton musste bestraft werden, aber sie wollte einfach nur die nächsten paar Stunden überstehen, bevor ihr die Realität bewusst wurde, dass ihr Freund es nicht nur verdiente, ins Gefängnis zu kommen, sondern dass sie diejenige sein würde, die die Anzeige erstattete.
Gray hielt an, um mit einem kleinen, muskulösen Rotschopf zu sprechen. Sie erkannte die meisten der Männer, die sie an Bord von Stone’s Throw gesehen hatte. Zwei der Männer, die die beeindruckende Präsentation über den Hotelkomplex gegeben hatten, Elijah Sorenson und William Deeks, wurden beide fünfzehn Meter voneinander entfernt von schwarz gekleideten T-FLAC Männern befragt. Beide trugen Handschellen hinter dem Rücken und eine Art Kette um die Fußgelenke. Ihre identischen Gesichtsausdrücke verrieten, dass sie eindeutig angepisst und nicht kooperativ waren.
Ein Dutzend Besatzungsmitglieder, bekleidet mit kurzen Hosen und weißen Hemden, das Emblem der Stone’s Throw auf der Brusttasche, waren ebenso an den Füßen gefesselt. Sie sahen alle unglücklich und verängstigt aus, als sie einzeln in verschiedenen Bereichen des Hangars befragt wurden.
Hannah zitterte und rieb sich kräftig ihre Oberarme gegen die Kälte. Sie wollte Grays Arme um sich haben. Oder eine große, kuschelige Decke. Keine Decke in Sicht, und natürlich rührte er sie nicht an. Vielleicht war es auch besser so.
„Verstanden. Sag ihm, er muss allein mit diesem Fiasko klarkommen. Kyatta und Bren Edde zu mir. Aus“, sagte er mit kaum unterdrückter Wut zu dem, wer auch immer in seinem Ohrstück mit ihm sprach. „Colton fragt nach dir“, sagte er zu ihr, die Wut noch immer ein dunkler Unterton in seiner Stimme.
„Ich habe nicht den geringsten Wunsch, ihn zu sehen. Nie wieder, genaugenommen. Das wird wahrscheinlich unsere Thanksgiving Dinner ruinieren“, fügte sie trocken hinzu, als er bereits weiterging und erwartete, dass sie aufholte, „aber damit kann ich leben.“ Sie musste praktisch joggen, um mit Grays langen Schritten mitzuhalten.
Hannah wusste, dass ihn jederzeit einer seiner Männer wegen irgendetwas brauchen würde und er dann vergessen würde, dass sie da war. „Was werdet ihr mit all diesen Menschen machen?“
„Wir verhören sie hier und bringen sie dann nach Montana.“
„Montana?“
„T-FLAC Hauptquartier.“
Sie wusste ziemlich sicher, dass sie keinen Umweg über Chicago machen würden, um sie dort abzusetzen. Es ging ihr nicht so prickelnd. Sie wollte nur noch so weit wie möglich von dem weg sein, was hier passierte, essen und schlafen. Sie musste etwas essen. Bald. Das Adrenalin hatte sich abgebaut und sie fühlte sich zittrig und schwach.
Gray hielt unvermittelt inne, drehte sich um und musterte ihr Gesicht. Dann legte er ihr die Hand an die Wange und zog die Augenbrauen zusammen: „Du fühlst dich kalt und klamm an.“
Sie legte ihren Kopf etwas zur Seite, so dass ihre Wange wie ein schläfriges Kätzchen in seiner warmen Handfläche lag. „Das hörte sich wie ein Vorwurf an.“
„Scheiße. Du hast dich gespritzt kurz bevor ich dich gefunden habe und dann nichts gegessen. Dein Blutzuckerspiegel fällt, nicht wahr?“
Sie hatte ihre Dosis kurz vor dem Abendessen gesetzt. Aber das Abendessen hatte niemals stattgefunden. Sie hatte keine Möglichkeit, ihre Blutzuckerwerte zu prüfen, aber sie wusste, dass sie viel zu niedrig waren. Sie hätte vor Stunden essen müssen.
So sehr sie ihr Gesicht für ein paar Stunden wie ein Haustier in seiner Hand ruhen lassen wollte, trat Hannah ein paar Schritte zurück. „Wir waren etwas beschäftigt. Aber es wäre ganz gut, wenn ich bald etwas zu essen bekommen könnte.“
„Hat irgendjemand Bonbons?“, sagte er in sein Komm und erntete ein paar überraschte Blicke von seinen Agenten. „Wir haben eine Diabetikerin hier. Sie braucht etwas. Durchsucht nochmal jeden. Süßigkeiten. Kaugummi. Irgendetwas.“
„Danke“, sagte sie leise.
„Geht’s dir sehr schlecht?“
„Besorg mir die Bonbons“, sagte sie ruhig und rieb sich ihre schmerzenden Schläfen mit zitternden Fingern.
Er berührte sein Komm, als Kyatta und Bren Edde auf ihn zukamen. „Besorgt mir den verfluchten Süßkram, Leute!“