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Der Giftpfeil

Dass Jack nicht durchbohrt wurde, verdankte er seiner Ausbildung zum Samurai.

Während er zur Seite auswich, fuhr der Stachel um Haaresbreite an ihm vorbei. Blitzschnell schlug Jack mit der Kante der rechten Hand gegen den Hals des Angreifers.

Orochi bekam keine Luft mehr und taumelte zurück. Jack folgte ihm, um ihn zu überwältigen, doch Orochi stach wieder mit seinem Stachel zu und trieb Jack in ein dichtes Bambusgehölz. Siegessicher zielte Orochi mit seiner Waffe auf die Stelle zwischen Jacks Augen.

Auf beiden Seiten eingezwängt, blieb Jack keine andere Wahl, als nach unten auszuweichen. Er fiel auf die Knie. Mit einem hässlichen Knirschen fuhr die Metallspitze dort, wo eben noch sein Kopf gewesen war, in einen Bambusstamm.

Orochi fluchte. Die Waffe steckte im Stamm fest. Jack schlug ihm die Faust in den Magen. Orochi grunzte, ließ aber nicht los. Jack packte ihn am Knöchel, stieß ihm die Schulter in den Bauch und riss ihn zu Boden.

Gerade wollte er Orochi mit einem Armhebel außer Gefecht setzen, doch Orochi hatte wider Erwarten seine Waffe aus dem Stamm gerissen. Jetzt richtete er sie auf Jacks Rippen. Jack drückte die Waffe zur Seite, wurde dabei aber von Orochi abgeworfen. Im nächsten Augenblick saß sein Gegner auf ihm.

»Diesmal entkommst du mir nicht, Gaijin!«, fauchte er und holte zum tödlichen Stoß aus.

Jack versuchte der Metallspitze auszuweichen. Dabei bekam er mit den Fingern ein loses Stück Bambus zu fassen. Er hielt es sich schützend vor das Gesicht.

Die Spitze durchbohrte den Stängel und kam unmittelbar vor seinem rechten Auge zum Stehen.

Orochi schrie wütend auf und drückte den Stachel nach unten. Jack stemmte ihn von sich weg. Seine Arme zitterten vor Anstrengung. Orochi lehnte sich mit seinem ganzen Gewicht gegen ihn, doch Jack war stärker. Er konnte sich seitlich unter der Waffe herauswinden und sie Orochi aus der Hand drehen. Orochi fiel mit dem Gesicht voraus auf den Boden.

Jack warf die Spitze in das Dickicht und stürzte sich auf Orochi, bevor dieser sich aufrappeln konnte. Er rammte ihm das Knie in die Schulter und bog ihm den Arm auf den Rücken. Orochi war auf dem Boden festgenagelt.

Er versuchte sich zu befreien, doch Jack drückte auf sein Ellbogengelenk. Orochi schrie vor Schmerzen auf und bewegte sich nicht mehr.

»Aufhören, bitte!«, flehte er. »Du brichst mir den Arm!« Er spuckte Erde aus.

»Dann hör auf, dich zu wehren!«, sagte Jack scharf. Er rief nach Yamato. Aus dem Blätterdach über ihm flog wieder ein unsichtbarer Vogel auf.

»Willst du mich umbringen?«, stöhnte Orochi.

»Nein«, sagte Jack, »ich will nur wissen, wo Drachenauge ist. Dann kannst du gehen.«

»Diese Information ist mehr wert als mein Leben.« Orochi sah ängstlich nach rechts und links, als erwarte er, dass der Ninja bei der bloßen Erwähnung seines Namens auftauchte.

»Soweit ich es beurteilen kann, ist dein Leben nicht viel wert«, entgegnete Jack. »Die Perle, die du gestohlen hast, wiegt deine Mühe sowieso auf. Am besten gibst du sie mir wieder, bis du mir sagst, was ich wissen muss.«

Er verstärkte seinen Hebelgriff. Orochi schrie auf und zu Jacks Überraschung fiel die kleine weiße Perle aus seinem Mund.

Jack steckte sie in seinen Obi. »Du bekommst sie wieder, wenn du mir verrätst, wo ich Drachenauge finde.«

»Und wenn nicht?«

»Dann töten wir dich.«

»Aber du hast doch gesagt…«

»Ich habe nur gesagt, dass ich dich nicht töten werde. Für meine japanischen Freunde kann ich das nicht versprechen. Als echte Samurai sehen sie es als ihre Pflicht an, die Welt von Gesindel wie dir zu befreien.«

Orochi schluckte. Er wusste, dass Samurai für Recht und Ordnung sorgten und dass er als überführter Dieb und Lügner nicht mit Gnade rechnen konnte.

»Also gut.« Er nickte zögernd. »Lass mich los und ich sage es dir. Aber du schaufelst dir dein eigenes Grab.«

Jack ließ ihn los. Gott sei Dank hatte seine Drohung gewirkt. In Wahrheit waren weder Yamato noch Akiko befugt, jemanden wegen eines so geringen Vergehens zu töten.

Orochi setzte sich auf und rieb sich den Arm. »Wo hast du kämpfen gelernt wie ein Samurai?«

»In der Niten Ichi Ryu in Kyoto.«

»Dann bist du ein Schüler von Masamoto Takeshi!«, rief Orochi erstaunt. »Ich habe Gerüchte gehört, dass er einen Gaijin adoptiert hat, aber ich hätte nie gedacht, dass der große Masamoto den Gaijin auch noch zum Samurai ausbilden würde.«

»Verschwende nicht meine Zeit! Wo ist Drachenauge?«

»Offenbar willst du unbedingt sterben, wenn du diesen Teufel suchst!«, flüsterte Orochi mit einem ungläubigen Kopfschütteln. »Als ich das letzte Mal von ihm hörte, hatte sich sein Ninja-Clan auf der Westseite des Iga-Gebirges in der Nähe des Dorfes Shindo niedergelassen. Suche dort den Drachentempel auf und frage nach…«

Orochi brach ab. Er öffnete und schloss den Mund wie ein Fisch auf dem Trockenen, aber kein Ton kam heraus. Sein Blick ging ins Leere, seine Augen wurden glasig. Er fiel zur Seite, zuckte noch zweimal und blieb dann bewegungslos liegen.

»Ich warne dich, Orochi!«, sagte Jack und machte vorsichtig einen Schritt auf ihn zu. »Keine weiteren Tricks.«

Er hob ein Stück Bambus auf und stieß Orochi mit der Spitze an. Orochi rührte sich nicht. Da sah Jack den kleinen Pfeil in seinem Hals.

Ein in tödliches Gift getauchter Blaspfeil.

Das konnte nur bedeuten… Jack fuhr herum und hob den Bambusstock, um sich zu verteidigen.

Doch er sah keinen Ninja.

Was allerdings nicht hieß, dass auch keiner da war. Ninjas waren darin geübt, sich unsichtbar zu machen. In diesem Dickicht konnten sich hundert Ninjas verstecken.

Jack packte seinen Stock fester. Wie er sich wünschte, Masamoto hätte ihm seine Samuraischwerter gelassen, als er ihn von der Schule verwiesen hatte! Jetzt hätte er sie dringender gebraucht als jemals zuvor.

Angestrengt lauschte er auf das leiseste Geräusch näher kommender Schritte, doch er hörte nur das Rauschen der Blätter und das Knarren der Bambusstämme. Er zog sich tiefer in das Dickicht zurück. Da hörte er ein leises »Plop«. Im Stamm direkt vor seinem Gesicht steckte ein Pfeil.

Jack duckte sich noch tiefer und sah sich nach dem Schützen um. Doch der hatte sich gut versteckt.

Wieder flog über ihm ein Vogel auf. Er blickte nach oben. Diesmal sah er hoch über sich zwei Gestalten, Ninjas in grünen Gewändern, die mit ihrer Umgebung förmlich verschmolzen. Katzengleich schwangen sie sich von Stamm zu Stamm, auf der Suche nach einer Stelle, von der sie besser auf Jack zielen konnten.

Wieder umklammerten sie den Bambus mit den Beinen, hoben ihre Blasrohre und schossen.