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Vom Berg zum Meer

Die Stille der Morgendämmerung glich mehr einem tödlichen Schweigen als einem friedlichen Erwachen. Die letzten Nester des Widerstands waren erstickt und das Feuer unter Kontrolle gebracht. Eine unbehagliche Ruhe hatte sich über die Burg von Osaka gesenkt. Als die ersten Strahlen der Morgensonne durch den rauchgeschwängerten Himmel brachen, waren Kamakuras Soldaten in eine Art Erschöpfungszustand verfallen. Der Feind war vernichtet. Viele hatten die Waffen weggelegt und dösten inmitten der zertrümmerten Mauern, während sie auf weitere Befehle warteten. Das äußere Tor wurde allerdings noch von Roten Teufeln bewacht.

»An denen kommen wir nicht vorbei«, sagte Jack leise. Er führte Akiko auf dem Pferd die Hauptstraße entlang.

»Bei Sensei Kyuzo hat es auch geklappt«, flüsterte Akiko. »Geh einfach weiter.«

Jack rückte Helm und Gesichtsmaske zurecht. »Die Maske ist zu klein«, beklagte er sich. »Sie rutscht mir immer herunter.«

Er trug die mit blau-gelben Wappen verzierte Rüstung des toten ashigaru. Bewaffnet war er mit den Schwertern des Toten. Akiko hatte sich einen Bogen, einen mit Pfeilen gefüllten Köcher und die Rüstung eines hochrangigen, Daimyo Kamakura treu ergebenen Samurai beschafft. Der Helm, den ein Halbmond als Rangabzeichen schmückte, passte ihr wie angegossen. Der einfache Soldat, dem Akiko den Helm für Jack abgenommen hatte, musste dagegen einen sehr kleinen Kopf gehabt haben.

Die Sorge, ihre Verkleidung könnte durchschaut werden, schien unbegründet. Die wenigen Samurai, an denen sie vorbeikamen, hoben kaum die Köpfe. Da auch andere Soldaten Kamakuras am Burgtor ein- und ausgingen, fielen sie nicht weiter auf. Niemand schien auf den Verdacht zu kommen, zwei Gegner könnten frech durch das Haupttor nach draußen spazieren.

Als sie sich dem Tor näherten, wurde ein Roter Teufel auf sie aufmerksam. Akiko neigte grüßend den Kopf– tief genug, um ihren Respekt zu bekunden, aber nur kurz zum Zeichen ihres höheren Ranges. Der Rote Teufel senkte den Blick und verbeugte sich ebenfalls. Dann nahm er Jack in Augenschein. Jack verneigte sich tief. Der Rote Teufel erwiderte die Verbeugung und kniff die Augen zusammen.

Hinter ihm sah Jack die Tenno-ji-Ebene. Nur noch ein Tor, ein Fallgitter und eine Zugbrücke trennten sie von der Freiheit. Er konnte schon die Schritte zählen, die sie noch machen mussten.

Während sie an ihm vorbeigingen, starrte der Rote Teufel Jack mit wachsendem Misstrauen an.

»Blaue Augen?«, brummte der Samurai, als könnte er nicht glauben, was er gesehen hatte.

Jack beschleunigte seinen Schritt. Dabei verrutschte sein Helm und eine blonde Locke sah darunter hervor. Der Rote Teufel riss die Augen auf, packte Jack und zerrte ihm Helm und Gesichtsmaske herunter.

»Ein Gaijin!«, brüllte er entgeistert.

Ohne zu zögern, versetzte Jack ihm einen Vorwärtstritt gegen die Brust.

Akiko zog Jack auf das Pferd und trieb es an.

Doch der Rote Teufel hatte sich schon von dem Tritt erholt. »Halt!«, schrie er.

Vom unerwarteten Auftauchen eines blonden Samurai überrumpelt, rappelten sich einige Samurai benommen auf. Jack und Akiko ritten bereits durch das Tor.

»Ihnen nach!«, befahl der Rote Teufel wütend.

Akiko drehte sich zu Jack um. »Nimm die Zügel!«

Sie packte ihren Bogen, legte einen Pfeil ein, drehte sich um, zielte auf das Halteseil des Fallgitters und schoss, wie sie es beim Yabusame gelernt hatte.

Der Pfeil spaltete das Seil, das Seil riss unter dem Gewicht des Gitters und das Gitter fiel krachend nach unten.

Die Samurai mussten abrupt stehen bleiben und konnten nur noch zusehen, wie die beiden sich im Galopp über die Zugbrücke in Richtung Freiheit entfernten.

Jack und Akiko ritten auf die Ebene hinaus. Sie wollten so viel Entfernung wie möglich zwischen sich und ihre Gegner bringen. Doch ein schrecklicher Anblick brachte sie zum Stehen.

Tausende gefallener Samurai bedeckten den Boden, so weit das Auge reichte. Die Ebene war buchstäblich damit gepflastert. Im Burggraben hinter ihnen lagen so viele Leichen, dass man ihn trockenen Fußes überqueren konnte. Krähen hatten sich auf den toten Körpern niedergelassen und das Gestöhn der Sterbenden füllte die Luft.

Jack dachte an den armen Yori, dessen Leiche irgendwo auf diesem höllischen Friedhof liegen musste. Wie konnten so viele Leben dem Willen eines einzigen Mannes, Daimyo Kamakura, geopfert werden?

»Lass uns nach Osten reiten, nach Toba zu meiner Mutter«, schlug Akiko vor. Sie nahm ihren Helm ab und schnallte den Bogen an den Sattel. »In Kyoto sind wir nicht mehr sicher.«

Jack nickte und schluckte den Kummer hinunter. Wenigstens waren er und Akiko dem Gemetzel entkommen. Das war immerhin ein kleiner Anlass zur Freude. Sie hatten noch eine Zukunft.

Da zog Akiko abrupt an den Zügeln, kippte aus dem Sattel und blieb auf dem Boden liegen. In ihrer Seite steckte ein Pfeil.

»Akiko!«, schrie Jack und sprang vom Pferd.

Der Pfeil hatte die Rüstung durchschlagen und die Wunde blutete. Jack riss vom sashimono eines toten Samurai einen Streifen ab, um die Blutung zu stoppen. Akiko schrie auf, als er ihn auf die Wunde drückte.

Nein, das darf nicht sein, dachte er. Nicht jetzt, wo wir fliehen konnten.

»Der Pfeil galt eigentlich dir, Gaijin!«

Ein kalter Schauer überlief Jack, als er die Stimme des Samurai hörte.

Er hob den Kopf. Zwischen den Leibern der toten Samurai kam Kazuki auf ihn zu.

Sein alter Rivale trug die Rüstung eines Roten Teufels.

»Bogenschießen war nie meine Stärke, aber dass ich getroffen habe, ist nur die gerechte Strafe für Morikos Tod.« Kazuki warf den Bogen weg. »Jetzt wirst du leiden, wie ich es dir versprochen habe.«

»Moriko starb in dem Feuer, das du gelegt hast!«, erwiderte Jack.

»Nein, du bist für ihren Tod verantwortlich«, beharrte Kazuki. »Du und deinesgleichen, ihr seid ungebeten hierhergekommen. Davor war Japan ein reines Land. Die Gaijin werden vollkommen zu Recht verbannt.« Er grinste höhnisch. »Oder bestraft.«

Er zog seine beiden Schwerter. An der Klinge des Langschwerts klebte frisches Blut.

»Als treuer Gefolgsmann von Daimyo Kamakura und Gründer der Skorpionbande ist es meine Pflicht– und mein Vergnügen–, dir zu einem unehrenhaften Tod zu verhelfen, Gaijin.«

Jack überließ es Akiko, den Verband an die Wunde zu drücken, stand auf und zog seine Schwerter.

Kazuki griff sofort an. Jack lenkte den Schlag ab und erwiderte den Angriff mit seinem Langschwert. Kazuki blockte das Schwert ab und trieb Jack zurück. Er trat Jack in den Bauch und Jack stolperte über eine Leiche.

Sofort sprang er wieder auf und hob die Schwerter. Klirrend prallten die Klingen aneinander. Kazuki fuhr mit seinem Langschwert an Jacks Schwert entlang, stieß es zur Seite und schlug nach seinem Herzen.

Ein fehlerfreier Flint-und-Funken-Schlag.

Ein Samurai, der die Technik der beiden Himmel nicht beherrschte, wäre besiegt gewesen. Doch Jack kannte den Schlag und wich ihm seitlich aus. Kazukis Schwertspitze glitt von seinem Brustpanzer ab.

Kazuki fluchte und setzte mit der vollen Wucht beider Schwerter nach. Jack konterte mit gleicher Kraft. Wieder schlugen die Klingen aneinander.

Einen Augenblick lang starrten sie sich wütend an. Der Kampf ging in ihren Köpfen weiter. Jack sah die erbarmungslose Wut, die Kazuki antrieb. Sie erinnerte ihn an Drachenauges Rachedurst und Hass. Kazuki würde nicht einlenken, bis Jack tot war.

Sein Gegner griff erneut an und schlug gleichzeitig je zweimal auf die Klingen von Jacks Schwertern. Jack glitten beide Schwerter aus den Händen.

Kazuki hatte ihn entwaffnet.

Mit einem doppelten Herbstlaubschlag.

Kazukis Kampfkunst verschlug Jack die Sprache.

»Ich sagte doch, ich könnte dich jederzeit besiegen«, rief Kazuki triumphierend.

Er warf den wehrlosen Jack mit einem Tritt zu Boden. Anschließend steckte er sein Kurzschwert ein und schickte sich an, Jack zu töten.

»Du verdienst es nicht, wie ein Samurai zu sterben«, höhnte er. »Aber du verdienst es auch nicht, am Leben zu bleiben.«

Jack sah verzweifelt zu Akiko hinüber. Sie mühte sich aufzustehen.

»Warte!«, rief Jack, um Zeit zu gewinnen. »Beantworte mir eine Frage. Was hast du eigentlich gegen mich?«

»Du bist ein Gaijin«, fauchte Kazuki. »Das ist schlimm genug.«

»Aber was habe ich dir getan?«

»Meine Mutter musste wegen eines Gaijin wie dir sterben!« Das Schwert in Kazukis Hand zitterte.

»Was hat das mit mir zu tun?«, fragte Jack.

Kazukis Augen sprühten Funken. »Sie hat aus Herzensgüte einen eurer ausländischen Priester bei sich aufgenommen. Er hat ihr zum Dank dafür seine Krankheit gegeben. Ihr seid eine Seuche, die Japan verpestet und ausgemerzt werden muss.«

»Das tut mir leid. Ich habe meine Mutter auch an eine Krankheit verloren und verstehe, wie dir zumute ist. Du bist wütend und gekränkt und fühlst dich betrogen.«

»Das ändert nichts«, zischte Kazuki hasserfüllt. »Knie nieder!«

Akiko hatte inzwischen ihren Bogen vom Sattel genommen und war damit beschäftigt, einen Pfeil einzulegen. Während Jack sich hinkniete, stieß er mit der Hand gegen die abgebrochene Stange eines sashimono. Er packte sie und holte damit aus, ehe Kazuki zuschlagen konnte. Er traf seinen Rivalen hart am Kinn, sodass dieser zu Boden ging.

Sofort sprang er auf und trat Kazukis Schwert mit dem Fuß weg. Er hob die Stange und setzte die stählerne Spitze auf Kazukis Brust.

»Vom Berg zum Meer«, keuchte er. Schließlich bestand darin das Ziel der Technik der beiden Himmel– zu siegen, egal mit welchen Mitteln und Waffen.

Kazukis Augen weiteten sich in Panik, als Jack zustieß. Er schrie gellend auf. Knirschend fuhr der Schaft durch die Rüstung und bohrte sich tief in die Erde darunter.

Kazukis Schrei ging in unkontrolliertes Schluchzen über.

»Ich habe für mein Leben genügend Tote gesehen«, sagte Jack und ließ den mit seiner Rüstung am Boden festgenagelten Kazuki liegen.

Er eilte zu Akiko. Im selben Moment hob Akiko zitternd ihren Bogen und schoss einen Pfeil ab. Dann sank sie vor Anstrengung wieder zu Boden.

Hinter Jack ertönte ein Schmerzensschrei. Der immer noch am Boden festgenagelte Kazuki ließ das Schwert fallen, das er nach Jack hatte werfen wollen, und starrte entsetzt auf den Pfeil, der seine Schwerthand durchbohrt hatte.

Akiko atmete noch, war aber geschwächt und bleich.

Jack sah, wie ein Trupp Roter Teufel die Burg verließ. »Wir müssen weg«, sagte er.

Keuchend hievte er Akiko auf das Pferd. Er musste jetzt schnell reiten, schneller als jemals zuvor, dachte er mit einem stummen Dank an Takuan.

Mit der verwundeten Akiko in den Armen trieb er das Pferd an. Hinter sich hörte er Kazuki schreien.

»Das wirst du mir büßen, Gaijin!«