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Der letzte Kampf

Jack und Akiko rannten unter den Bäumen hervor und durch den Teegarten zur Insel. Masamoto und Sensei Hosokawa verteidigten die Brücke auf der anderen Seite. Blitzend wie Sternschnuppen fuhren ihre Schwerter durch die Nacht und streckten jeden Roten Teufel nieder, der sich ihnen zu nähern wagte.

Auf der Insel stand Sensei Yosa und beschoss die gegnerischen Bogenschützen auf den Mauern, während die überlebenden Schüler der Niten Ichi Ryu über die diesseitige Brücke zum Teehaus eilten. Im Teehaus dirigierte Sensei Kano sie durch eine verborgene Falltür in einen unterirdischen Geheimgang.

Fast alle Schüler waren schon im Teehaus verschwunden, als Jack und Akiko die Brücke überquerten. Cho, die vor ihnen lief, legte gerade die letzten Meter zur Falltür zurück. Da warf ein Ninja von der Mauer eine faustgroße schwarze Kugel aus Eisen in das Teehaus. Sie schlug auf dem Boden auf, rollte ein Stück und blieb neben Cho liegen. Die Zündschnur des Geschosses knisterte und glühte im Dunkeln rot.

»Eine Bombe!«, schrie Cho mit panisch aufgerissenen Augen.

Sensei Kano packte sie, zog sie in den Gang und schlug die Falltür hinter ihr zu.

Im nächsten Augenblick explodierte der Brandsatz und sprengte das Teehaus in die Luft. Sensei Yosa wurde umgerissen, Holz- und Steintrümmer flogen durch die Luft. Jack und Akiko gingen eilends in Deckung.

Masamoto rannte zu ihnen. Seine Augen funkelten scharf. »Seid ihr verletzt?«

»Ich glaube nicht.« Jack stand auf und half auch Akiko aufzustehen.

»Wo ist Yamato-kun?«

Jack fand keine Worte und senkte nur stumm den Kopf. Er konnte seinen Vormund nicht ansehen.

»Nein!«, rief Masamoto gepresst und schüttelte den Kopf, als wollte er etwas ungeschehen machen. »Sag, dass es nicht wahr ist.«

»Yamato hat uns das Leben gerettet«, sagte Jack leise. »Er starb einen ehrenhaften Tod. Drachenauge hat er mit in den Tod genommen.«

Masamotos Narben waren tiefrot angelaufen und die Schwerter zitterten in seinen Händen.

»Ich soll Ihnen von Yamato sagen, er wisse, was es heißt, ein Masamoto zu sein. Man müsse Opfer bringen.«

»Nichts weiß er!«, rief Masamoto schroff. »Ich sollte mein Leben für ihn opfern– und für dich, wie dein Vater es getan hat.«

Tränen traten ihm in die Augen. »Mein Sohn… Yamato… mein tapferer Junge. Ich bin… sehr stolz auf dich.«

Er holte tief Luft und erschauerte.

»Sein Opfer darf nicht vergeblich sein.«

Er blickte auf das eingestürzte Teehaus. Hier war kein Entkommen mehr möglich. Sensei Yosa war zwar aufgestanden, doch in ihrem Bein steckte ein Eisensplitter. Hinkend trat sie zu ihnen. Sensei Hosokawa näherte sich im Laufschritt von der hinteren Brücke, im Rücken die erneut angreifenden Roten Teufel.

»Akiko«, sagte Masamoto und sah sie scharf an. »Gibt es noch einen anderen Weg nach draußen?«

Akiko schüttelte den Kopf.

»Denk nach! Hast du nichts gehört?«

»Die Ninjas sprachen einmal von einem Tunnel zu einem Brunnen.« Akiko versuchte sich mit gerunzelter Stirn an Einzelheiten zu erinnern. »Aber sie haben ihn nicht benutzt.«

Jack fiel ein, was Yori ihnen erzählt hatte. »Der Brunnen des goldenen Wassers«, platzte er heraus. »Er ist durch einen Tunnel mit dem inneren Burggraben verbunden.«

»Das ist die Lösung«, rief Masamoto. »Auf zum Brunnenhaus!«

Zu dritt rannten sie über die Brücke und durch den Garten, dicht gefolgt von Sensei Yosa und Sensei Hosokawa. Die Roten Teufel griffen erneut an. Pfeile schwirrten an Jack, Akiko und Masamoto vorbei. Jemand schrie auf. Jack blickte zurück und sah, dass Sensei Yosa zu Boden gegangen war. In ihrer Seite steckte ein Pfeil. Die Roten Teufel hatten sie schon fast eingeholt.

»Weiterlaufen!«, befahl Masamoto.

»Aber was geschieht mit Sensei Yosa?«, rief Akiko und wollte umkehren.

Masamoto hielt sie fest. »Sensei Hosokawa wird ihr helfen. Er weiß, was er zu tun hat.«

Sensei Hosokawa erwiderte Masamotos Blick und verbeugte sich respektvoll.

Masamoto verbeugte sich ebenfalls förmlich.

Jack spürte, dass in diesem stummen Moment mehr gesagt wurde, als in einem ganzen Leben durch Worte ausgedrückt werden konnte.

Es war das letzte Lebewohl des Schwertmeisters.

Sensei Hosokawa rannte zurück, um Sensei Yosa zu retten. Schreiend zog er seine beiden Schwerter und schnitt eine Schneise durch die Roten Teufel, die sich anschickten, Sensei Yosa zu umzingeln. Unablässig wirbelten seine Schwerter durch die Luft, während er einen Krieger nach dem anderen niederschlug.

Ein Pfeil traf ihn in die Schulter, doch er hielt sich trotz seiner Schmerzen aufrecht. Noch zwei Rote Teufel gingen unter seinen Schlägen zu Boden, dann wurde er durch einen zweiten Pfeil niedergestreckt.

Sofort sprang er wieder auf und durchbohrte den nächsten Samurai. Weitere Pfeile wurden auf ihn abgeschossen, doch er wollte nicht zu Boden gehen.

Bis zum letzten Atemzug verteidigte er Sensei Yosa und hielt die Roten Teufel so lange auf, dass Jack, Akiko und Masamoto das Brunnenhaus erreichen konnten.

»In einem anderen Leben kämpfen wir unser Duell zu Ende, mein Freund!«, sagte Masamoto leise. Er schob Jack und Akiko in das Brunnenhaus. Auch seine beiden letzten Schüler sollten gerettet werden.

»Seid ihr euch sicher?«, fragte Masamoto und spähte in das schwarze Brunnenloch hinunter.

»Nein«, erwiderte Akiko. »Aber wir haben keine andere Wahl.«

Sie stieg über den Brunnenrand und ließ sich an dem Seil, an dem der Eimer hing, hinab.

Das Geschrei der Roten Teufel kam näher.

»Jetzt du, Jack-kun«, drängte Masamoto.

Jack stieg über den Rand und ließ sich vorsichtig in die Tiefe, bis er mit den Zehen an der schlüpfrigen Wand des Schachts Halt fand.

»Sie sind hier!«, rief eine barsche Stimme draußen.

Masamoto zog seine Schwerter und ging zum Eingang.

»Sie kommen nicht mit?«, fragte Jack ungläubig.

»Nein, Jack-kun. Ich kämpfe hier meinen letzten Kampf.«

»Aber wir können fliehen!«

Masamoto nickte. »Ihr ja. Mein Platz ist hier.«

»Aber warum?«, protestierte Jack. Die Angst, zum zweiten Mal einen Vater zu verlieren, drohte ihn plötzlich zu überwältigen. Sein Vormund hatte ihm so vieles gegeben und so wenig dafür genommen. Wie konnte er ihm je seine Liebe und Dankbarkeit bezeugen? »Ich sollte hierbleiben und mein Leben für Sie opfern.«

»Sorge dich nicht um mich. Ich habe mein Leben gelebt und fürchte den Tod nicht. Du dagegen hast dein Leben noch vor dir.«

»Aber…«

»Ich habe dich alles gelehrt, was du dafür brauchst, Jack-kun.« Masamoto lächelte mit väterlichem Stolz. »Das ist mehr, als ein Lehrer oder Vater hoffen darf. Du bist jetzt volljährig, mein Sohn.«

Er verbeugte sich vor Jack und verschwand in der Nacht.

»Da ist er!«, schrie jemand im Garten.

Man hörte trampelnde Schritte näher kommen.

»Lang lebe die Niten Ichi Ryu!«

Jack brachte es nicht fertig, den Brunnenrand loszulassen. Er musste wissen, was aus seinem Vormund wurde.

Er hörte Schwerter aneinanderschlagen. Jemand fiel zu Boden.

Doch der Kampf ging weiter.

In das Singen der stählernen Klingen mischten sich die Schreie sterbender Samurai.

»Halt!«, befahl eine Stimme barsch. »Er wird alle eure Männer töten, ohne selbst einen Kratzer abzubekommen.«

Jack kannte die Stimme. Sie gehörte Daimyo Kamakura.

»Überlasst Masamoto-sama mir!«, befahl der Daimyo. »Sucht weiter nach den christlichen Verrätern und tötet sie!«