27
Kukai
Schnee bedeckte den Hof der Niten Ichi Ryu. Die frische weiße Fläche war mit Fußspuren übersät, die von der Halle der Löwen zur Halle der Schmetterlinge und weiter zur Halle des Falken führten. Auf den Stufendächern häufte sich der Schnee und an den Dachtraufen hingen dicke, glitzernde Eiszapfen. Auch die alte Kiefer im Südlichen Zen-Garten beugte sich unter der Last des Schnees und ihre Äste deuteten wie gefrorene kleine Wasserfälle auf den Boden.
Die in der Halle des Falken versammelten Schüler zitterten trotz ihrer dicken Winter-Kimonos. Ihr Atem bildete in der kalten Luft weiße Wolken. Sensei Nakamura saß zusammen mit ihrem Gast, dem berühmten Dichter Saigyo, auf dem Holzpodest, das am weitesten von der Tür entfernt war.
Saigyo war ein kleiner, bescheidener Mann mit schläfrigem Blick und großen, runden Ohren. Er trug einen einfachen, schüsselförmigen Hut. Neben ihm lag ein verwitterter Gehstock aus Bambus. Gerade bewunderte er in aller Ausführlichkeit das Deckengemälde des herabstoßenden Falken und wärmte sich die Hände an einem Kohlefeuer in einer Tonschale, das Sensei Nakamura für ihren Ehrengast angezündet hatte. Neidisch starrten die frierenden Schüler darauf.
»Kohlenglut
schmilzt das Eis–
Ah! Ich habe Hände.«
Ein heiteres Lächeln breitete sich auf dem Gesicht des Dichters aus. Seine Stimme klang zart und schwerelos und das Haiku schien in der Luft zu schweben.
Sensei Nakamura begann zu klatschen und die Schüler fielen rasch ein. Sie wollten gar nicht mehr damit aufhören, vor allem weil sie auf diese Weise ihre kältestarren Hände aufwärmen konnten.
»Beginnen wir mit dem kukai«, sagte Sensei Nakamura. »Wer meint, er habe ein gutes Haiku gedichtet, tritt bitte vor. Ihr werdet eure Gedichte nacheinander unserem verehrten Gast vorlesen. Saigyo-san wird darüber urteilen und zum Schluss den Gewinner bekannt geben.«
Einige Schüler standen auf und stellten sich entlang einer Seite der Halle an.
»Kommst du auch?«, fragte Saburo. Er hielt ein zerknittertes Blatt Papier in der Hand.
»Sehr witzig«, erwiderte Jack. »Du weißt, was Sensei Nakamura von meinen Versuchen hält.«
Saburo lachte. »Na, dann wünsch mir alles Gute. Ich glaube, mein Haiku wird dir gefallen!«
Er eilte zum Ende der Schlange. Auch Yori schlich an Jack vorbei.
»Viel Glück!«, flüsterte Jack.
»Danke!«, antwortete Yori nervös und stellte sich an.
»Der erste Dichter soll jetzt sein Haiku vorlesen«, sagte Saigyo und rieb sich erwartungsvoll die Hände. »Möge es ein Tautropfen in einem herbstlichen Teich sein.«
Sensei Nakamura bedeutete Akiko, vorzutreten. Akiko verbeugte sich tief und zog ihr Haiku aus der Ärmeltasche ihres Kimonos. Jack hatte das Gefühl, dass sie noch aufgeregter war als damals, als sie den Pfeil auf Sensei Kyuzo geschossen hatte.
»Ich habe mich vom Winter inspirieren lassen«, begann sie.
»Die violette
Iris
unter der weißen Decke schläft–
dort sprießt Hoffnung!«
Akiko verbeugte sich wieder und wartete auf das Urteil des Dichters. Saigyo holte tief Luft und blickte durch das Fenster auf die niederschwebenden Schneeflocken. Akiko sah mit besorgt gerunzelter Stirn in Jacks Richtung. Warum schwieg der Dichter? Jack lächelte zurück, um sie zu trösten, und merkte dann, dass sie an ihm vorbei zum Ende der Schlange blickte. Dort stand Takuan. Er nickte ernst mit dem Kopf und Akiko wirkte ein wenig beruhigt. Jack fühlte sich ausgeschlossen.
»Dein Haiku ist frisch und klar wie der Frühling und sehr vielversprechend«, sagte Saigyo schließlich zu Akikos großer Erleichterung. »Doch wird es die schönste Blüte des Tages sein? Wir werden sehen.«
Er klatschte höflich in die Hände und winkte den nächsten Teilnehmer heran. Akiko setzte sich und Emi trat vor den Dichter. Saigyo hörte ihr aufmerksam zu und gab wieder ein tiefsinniges Urteil ab. Zwei weitere Haikus wurden vorgelesen. Dann war Saburo an der Reihe.
»Mein Haiku handelt von der Liebe«, erklärte er.
»›Sie hat vielleicht nur
ein Auge,
dafür aber ein sehr schönes‹,
sagt der Vermittler.«[9]
Die Schüler lachten. Auch Jack musste über die witzigen Verse des Freundes schmunzeln, während Akiko peinlich berührt die Augen verdrehte. Sensei Nakamura sorgte mit einem ungnädigen Blick für Ruhe.
»Das war ein unwürdiger Beitrag«, schimpfte sie. Das Lächeln auf Saburos Gesicht erlosch.
»Sensei«, fiel Saigyo ihr freundlich ins Wort, »die Verse sind vielleicht etwas grob, dafür ist unser junger Dichter hier gewiss originell. Sein Gedicht erheiterte mich. Wie eine Pflanze Sonne und Regen braucht, so braucht ein Dichter Lachen genauso wie Tränen.«
Sensei Nakamura neigte den Kopf. Saburo kehrte an seinen Platz neben Jack zurück.
»Das wirst du mindestens zweitausendmal abschreiben!«, zischte Akiko über die Schulter.
Saburo grinste, als kümmere ihn das nicht.
Jack zwinkerte ihm zu. »Ich fand es toll.«
Die nächsten Beiträge waren weniger originell und einmal glaubte Jack schon, der alte Dichter sei eingenickt. Dann trat Yori vor ihn. Nervös strich er das Blatt in seinen Händen glatt und las so leise, dass sogar Saigyo sich vorbeugen musste, um ihn zu verstehen:
»Am Fuß des Baumes
sitzend
betrachtet ein alter Frosch die Gesichter,
die in den Wolken versteckt sind.«
Die Miene des Dichters hellte sich schlagartig auf, als sei die Morgendämmerung angebrochen, und seine schläfrigen Augen blickten auf einmal hellwach. »Es hat sich wirklich gelohnt, auf dieses Haiku zu warten! Ich dichte am liebsten über Frösche!«
Yori verbeugte sich. »Ich habe immer Ihr Haiku über den Frosch bewundert, der in den alten Teich hüpft«, murmelte er verschämt. »Ich wollte auch so ein Haiku schreiben.«
»Das ist dir gelungen.« Saigyo strahlte ihn an. »Du hast Witz, kleiner Dichter, und dein Haiku hat ihn auch.«
Sichtbar erleichtert kehrte Yori an seinen Platz neben Jack zurück.
»Bravo«, sagte Jack leise und klopfte ihm auf den Rücken. »Du hast gewonnen.«
Emi beugte sich vor und zischte: »Zuerst muss Takuan noch sein Haiku lesen!«
Takuan verbeugte sich vor Saigyo und las laut und selbstbewusst vor:
»Tempelglocke
eine Wolke von Kirschblüten
Himmel? Hanami?«[10]
Emi klatschte laut und die anderen Schüler fielen ein.
Saigyo nickte anerkennend und ein zufriedenes Lächeln breitete sich auf seinem Gesicht aus. »Du schreibst so rein wie weiße Jade. Du kommst ohne Schnörkel und schmückendes Beiwerk geradewegs auf den Kern der Sache zu sprechen. Das ist ein Haiku im besten Sinn.«
Takuan verbeugte sich dankbar und kehrte an seinen Platz neben Emi zurück. Sensei Nakamuras Trauermiene hellte sich für einen kurzen Augenblick auf und leuchtete vor Stolz.
Saigyo besprach sich leise mit ihr und unter den Schülern wuchs die Spannung. Kurz darauf wandte Sensei Nakamura sich an die Klasse.
»Saigyo-san sagt…«