SAMSTAG, 9. JANUAR
1
Der Wohnwagen war knapp fünf Meter lang und drei Meter breit. Er wurde mit Propangas beheizt und war kuschelig warm, das musste Samson zugeben. Die Ausstattung war eher notdürftig, aber man konnte hier durchaus eine Zeit lang leben – wenn man seine Ansprüche entsprechend herunterschraubte. Es gab ein Sofa, das man zu einem Bett aufklappen konnte, einen Tisch, zwei Stühle. Eine Art Kochnische mit einem Gaskocher und einem Spülbecken, das seinen Wasservorrat aus einem Tank bezog. Es gab einen eingebauten Hängeschrank, in dem sich Plastikgeschirr und ein paar Lebensmittelvorräte befanden; Kaffeepulver und Tee, Trockenmilch, ein paar Pakete mit Nudeln und Gläser mit Tomatensoße. In einem winzigen Abteil befanden sich eine Dusche und eine Toilette. Samson hasste die Enge, die dort herrschte. So, wie er es hasste, den Auffangbehälter der Toilette zu reinigen. Den Tank nachzufüllen. Jeden Tag Spaghetti zu essen. In diesem kleinen Raum eingesperrt zu sein.
Aber er hatte keine Wahl, und er wusste, eigentlich musste er dem Schicksal dankbar sein. Eine Zelle in der Untersuchungshaft wäre noch schlimmer.
John Burton hatte ihn hierhergebracht. Ihn hasste Samson im Grunde auch, aber auch ihm musste er dankbar sein. Er war der Einzige, der sich um ihn kümmerte. Der vielleicht sogar von seiner Unschuld überzeugt war. Was er allerdings nie zum Ausdruck brachte. Samson hatte ihn immer wieder gefragt, und John hatte immer nur geantwortet: »Solange nichts erwiesen ist, glaube ich überhaupt nichts.«
Mehr, das begriff Samson, konnte er zum gegenwärtigen Zeitpunkt kaum erhoffen.
In Johns Firma grassierte die Grippe, deshalb gab es Probleme, alle notwendigen Einsätze zu organisieren. Der Wohnwagen, von dem aus die Baustelle bewacht werden sollte, stand leer.
»Sie können dorthin«, hatte John gesagt, »solange es so kalt bleibt und so viel schneit, passiert dort gar nichts, und es wird sich niemand blicken lassen. Auf jeden Fall ist es sicherer als dieses Bed & Breakfast in Southend.«
Samson war voller Erleichterung aus der Pension ausgezogen, deren Tristesse ihn langsam um den Verstand gebracht hatte, aber nun war er seit drei Tagen hier und hatte das Gefühl, vom Regen in die Traufe geraten zu sein. Das schäbige Zimmer am Bahnhof war trostlos gewesen, aber wenigstens hatte man dort aus dem Fenster das Leben und Treiben auf der Straße beobachten können und nicht das Gefühl gehabt, von der normalen Welt vollkommen ausgeschlossen zu sein. Genau dieses Gefühl nämlich bekam man hier. Ein Baugelände irgendwo im Süden von London, auf dem Wohnblocks hochgezogen wurden, wo es aber ansonsten weit und breit überhaupt nichts gab, nicht einmal Ansätze einer Infrastruktur. Wenn Samson die schmuddelige, gelblich verfärbte Gardine beiseiteschob, die sein Wohnwagenfenster verhüllte, so blickte er auf eine Ansammlung von Rohbauten, die ruinenartig in den grauen Winterhimmel ragten. Er sah ein paar Kräne und eine Unmenge fest verschlossener Bauwagen. Diese, genauer gesagt: der in ihnen gebunkerte Inhalt an Maschinenersatzteilen und Werkzeugen, stellten die Objekte der Bewachung dar.
Wenigstens hatte es erneut so ausgiebig geschneit, dass alles unter einer weißen Decke lag. Regnerisches Schmuddelwetter wäre noch schlimmer gewesen, hätte alles in Schlamm und Dreck und schmutzig brauner Farbe versinken lassen. Aber auch so waren Verlassenheit und Leere dieses Ortes niederschmetternd und trübselig. Manchmal schrien Vögel. Menschen hatte Samson noch nicht ein einziges Mal gesehen, und es verkörperte für ihn den ganzen Irrsinn seiner Situation, dass er sich einerseits nach dem Erscheinen von Menschen sehnte, zugleich aber wusste, dass er genau darüber zu Tode erschrocken wäre: In seiner Lage bedeuteten Menschen Gefahr. Er musste froh sein, hier am Ende der Welt sitzen und sich halbwegs in Sicherheit wiegen zu dürfen.
Aber wie lange?
Wie lange würde es dauern?
Wie lange konnte er das ertragen?
An diesem Tag war er immerhin zu einem Spaziergang aufgebrochen, hatte die ganze große Baustelle umrundet und trockenes Brot, das er gesammelt hatte, den Vögeln hingeworfen, hatte die frische, kalte Luft tief eingeatmet und erkannt, dass er nicht mehr allzu lange durchhalten würde. Er steckte in einer tiefen seelischen Krise, wahrscheinlich bereits inmitten einer schweren Depression, und mit jeder Stunde, die verstrich, geriet er tiefer hinein, begann zu fühlen, dass vielleicht nicht die Polizei sein größter Feind war, sondern dass die eigentliche Gefahr von ihm selbst ausging, von seiner Schwermut, seiner Verzweiflung, seiner Hoffnungslosigkeit. Kein Ende absehen zu können, das war das Schlimme. Ein paar Mal hatte er seit dem gestrigen Abend darüber nachgedacht, dass der Tod, bei allem Schrecken, der jedem Gedanken an ihn innewohnte, auch eine Erlösung darstellen konnte, und er verstand, dass in solchem Denken das Risiko lag: das Risiko, dass er irgendwann im Verlauf dieses kalten, schneereichen Januars oder eines folgenden ebenso kalten, ebenso dunklen und verschneiten Februars von der Decke seines Wohnwagens hängen würde, weil er die Schreie der Vögel in der Stille, weil er die Leere eines jeden Tages nicht mehr ertrug.
Als er zum Wohnwagen zurückkehrte, hörte er ein Motorengeräusch und sah Scheinwerfer den unbefestigten Feldweg, der zu der Baustelle führte, entlangkommen. Nach einer kurzen Sekunde des Schreckens entspannte er sich. Er kannte den Motor.
Es war John, der dort kam.
Gestern hatte er sich nicht blicken lassen, und heute hatte Samson den ganzen, endlosen Tag über auf sein Erscheinen gehofft. Es war absurd; er konnte den Mann nicht leiden und er wusste, dass dieser mit der Frau schlief, von der er selbst träumte. Aber Burton war der einzige Mensch, auf den er in seiner völligen Isolation hoffen konnte. Der Einzige, der mit ihm sprach, der seinen letzten Kontakt zur Welt darstellte. Er hasste ihn und sehnte ihn zugleich herbei, und allein für diese Sehnsucht verabscheute er dann auch noch sich selbst.
Er blieb an den Stufen zum Wohnwagen stehen und wartete. Burton parkte und stieg aus, kam auf ihn zu. Groß und breitschultrig in seiner schwarzen Lederjacke, einen grauen Schal lässig um den Hals geschlungen.
Klar, dass Gillian auf ihn abfuhr.
Der würgende Kloß in Samsons Kehle verstärkte sich.
»Sie waren spazieren?«, fragte John. Er hielt einen Stapel Zeitungen und Zeitschriften unter dem Arm, den er Samson nun reichte. »Hier. Etwas zum Lesen. Sie langweilen sich zu Tode, stimmt’s?«
»Es ist sehr still hier«, bestätigte Samson.
John machte ein paar Schritte zu seinem Auto zurück, öffnete den Kofferraum, zog zwei große Tüten hervor. »Lebensmittel. Und ein paar Flaschen Bier. Alkohol löst keine Probleme, aber manchmal hilft er, sie zu ertragen.«
»Ich trinke eigentlich keinen Alkohol«, sagte Samson steif und hätte sich gleich darauf ohrfeigen können: John hatte es gut gemeint.
John zuckte mit den Schultern. »Ich lasse die Flaschen hier. Vielleicht ist Ihnen ja doch noch einmal danach.«
»Ja. Danke.« Samson hatte inzwischen die Tür zum Wohnwagen aufgeschlossen. »Möchten Sie nicht hereinkommen?«
»Keine Zeit. Ich habe noch eine Verabredung.«
»Mit Gillian?«, entfuhr es Samson.
John schüttelte den Kopf. »Nein.«
»Wie … wie geht es Gillian?«
»Ich würde sagen, den Umständen entsprechend«, sagte John. »Sie wirkt auf mich noch immer ziemlich traumatisiert, aber sie sitzt nicht herum, sondern versucht, erste Schritte in eine neue Zukunft zu unternehmen. Sie kümmert sich um die Auszahlung der Lebensversicherung, hat mit der Bank wegen der Hypotheken auf dem Haus gesprochen und war wieder in ihrem Büro. Ach ja, und sie hat ihre Tochter zu ihren Eltern nach Norwich geschickt.«
»Sie hat Becky weggeschickt?«
»Wegschicken kann man es nicht nennen. Sie und Becky haben sich ständig gestritten, und sie meinte, es sei gut, wenn sie sich für eine Weile aus dem Weg gehen. Die Schule fängt übermorgen wieder an, aber Becky ist ohnehin noch nicht in der Lage, bereits wieder am normalen Leben teilzunehmen. Gillian hat sie für den ganzen Januar beurlaubt – und in Norwich einen Therapeuten organisiert, zu dem Becky nun regelmäßig gehen wird. Das Kind braucht professionelle Hilfe. Ich glaube, Gillian hat insgesamt ganz richtig entschieden.«
Ja klar, dachte Samson feindselig, Tom ist tot und Becky ist bei den Großeltern, und nun hast du so richtig freie Bahn. Läuft alles nach Plan, wie?
Aber natürlich sprach er derlei Gedanken nicht aus.
Stattdessen fragte er: »Und in dem Fall? Gibt es da etwas Neues? Tut sich irgendetwas? Haben die eine Spur?«
»Leider nicht dass ich wüsste«, bedauerte John. »Die suchen nach Ihnen und tappen ansonsten ziemlich im Dunkeln. Soweit mir bekannt ist.«
»Sie haben doch Kontakte bei der Polizei…«
»Bislang keine neuen Informationen«, sagte John. Er blickte auf seine Armbanduhr. »Ich muss los. Tut mir leid, Samson. Ich weiß, es ist verdammt einsam hier und Sie fühlen sich hundeelend, aber im Moment kann ich nicht mehr für Sie tun, als hin und wieder nach Ihnen zu sehen und Sie mit dem Nötigsten zu versorgen.«
»Und das ist schon viel«, murmelte Samson. »Danke, John.«
Er sah John nach, der zu seinem Auto zurückging und einstieg. Er fuhr ins Leben zurück. Zu einer Verabredung, zu einem Abendessen, zu Stimmen, Gelächter, Lichtern und Geselligkeit.
Der gut aussehende John Burton. Der eine Tatsache förmlich ausstrahlte: dass er immer, sein Leben lang, irgendwie auf die Füße fallen würde. Ganz gleich, was das Schicksal bereithielt. Ganz gleich, welche Fallen entlang des Weges lauerten.
Während ich immer verliere. Immer. Und wahrscheinlich merkt man mir das auch an. Und es gibt weniges, was einen Mann so unattraktiv erscheinen lässt wie dieses Schild auf der Stirn: Ich bin ein Verlierer!
Er nahm die Einkaufstüten hoch, die John in den Schnee gestellt hatte, und betrat seine düstere Behausung.
Vielleicht würde er doch ein Bier trinken heute Abend.
2
Auf dem Weg zurück in die Stadt dachte John über Samson Segal nach. Der Mann war psychisch am Ende, das war deutlich zu spüren gewesen, und er würde vermutlich nicht mehr lange durchhalten. John war sicher, dass Segal bereits mit dem Gedanken spielte, sich freiwillig der Polizei zu stellen; was ihn zurückhielt, war die Gewissheit, dass eine Gefängniszelle seine Situation nicht wirklich verbessern würde. Vielleicht wäre er dort nicht mehr allein, aber genau dieser Umstand barg für einen Menschen wie Segal neue Schrecken: Er kannte es nicht anders, als dass er immer untergebuttert wurde und als Blitzableiter für die Aggressionen der anderen diente. Samson mochte ein Spinner sein, aber er war nicht dumm. Darin war sich John sicher. Segal verfügte über eine ziemlich klare Selbsteinschätzung wie auch eine ungeschönte Einschätzung der Situationen, in die er geriet. Ihm war klar, dass das Gefängnis gerade für ihn eine Hölle ungeahnten Ausmaßes darstellen würde.
Auch über seine eigenen Motive dachte John nach, während er sich in den Stadtverkehr einfädelte. Indem er Samson versteckte, machte er sich strafbar. Die Polizei musste nur noch einmal jenen angstschlotternden Polen vernehmen, der Segals einziger Freund auf dieser Welt zu sein schien, und schon konnten sie erfahren, dass er, John, vor wenigen Tagen ebenfalls dort gewesen war und Segals damaligen Aufenthaltsort in Erfahrung gebracht hatte. Ein Wissen, mit dem er sofort hätte zur Polizei gehen müssen. Fielder wartete nur darauf, ihn zu kriegen, und er würde sich diese Gelegenheit nicht entgehen lassen.
Detective Inspector Peter Fielder.
Der war wahrscheinlich mit ein Grund, weshalb sich John in die Geschichte einmischte und wieder einmal höchst riskant am Rande des Abgrundes entlangspazierte. Er hatte damals nicht allzu viel mit Fielder zu tun gehabt, aber es hatte ausgereicht, dass beide Männer einander aus tiefster Seele nicht ausstehen konnten. Ohne dass es je ein echtes Zerwürfnis, einen Zusammenstoß, einen größeren Streit zwischen ihnen gegeben hatte. Sie waren einander einfach vollkommen unsympathisch. John hielt DI Fielder für einen erzkonservativen Spießer, für einen mittelmäßig begabten Ermittler, der aber Karriere machte und zweifellos weiterhin machen würde, weil er sich überkorrekt an alle Vorschriften hielt, höchst zuverlässig war und sich nie im Leben mit den Menschen anlegen würde, die für ihn und sein Fortkommen wichtig waren. Johns unmittelbare Mitarbeiterin war damals Sergeant Christy McMarrow gewesen, die Frau, in die Fielder hoffnungslos verknallt war. Jeder wusste das, aber Fielder glaubte wahrscheinlich immer noch, dass er seine leidenschaftlichen Gefühle überaus geschickt verbarg. Dabei war es schon damals das absolut angesagte Klatschthema auf allen Fluren gewesen, und jeder hatte über den schmachtenden Polizisten gegrinst, bis schließlich auch den hoffnungsvollsten Romantikern und den wildesten Tratschtanten der Stoff ausgegangen war: Die Geschichte entwickelte sich nicht. Es blieb beim Anhimmeln. John hätte das von Anfang an prophezeien können. Fielder war viel zu bieder, viel zu konventionell für einen handfesten Ehebruch.
Und selbst als er Christy durch Johns Fortgang gewissermaßen geerbt hatte, war die Romanze nicht in Bewegung gekommen.
John wusste, dass Fielder ihn verachtete, weil es nur wenige bürgerliche Tugenden gab, die er sich zu eigen gemacht hatte, dass er ihn aber zugleich auch beneidete, weil er auslebte, was sich Fielder selbst versagte. So war es allerdings vielen seiner Kollegen ergangen. John war ziemlich unbeliebt bei anderen Männern: Weil er gut aussah, weil er skrupellos und vollkommen unabhängig war und weil er fast jede Frau haben konnte, die es ihm angetan hatte. Die meisten hatten es ihm von Herzen gegönnt, als ihn die Praktikantin seinerzeit in die Enge getrieben hatte, aber es war ihm gelungen, den Spieß umzudrehen. Er hatte freiwillig den Dienst quittiert und war frohen Mutes in die Selbstständigkeit gegangen, und er wusste, dass er den zurückbleibenden Kollegen das Gefühl gegeben hatte, die eigentlichen Verlierer zu sein.
Er sah eine Parklücke und stellte seinen Wagen ab. Es war noch ein gutes Stück bis zu dem Restaurant, in dem er verabredet war, aber in dieser Gegend waren Parkplätze so rar wie Wasserquellen in der Wüste. Umso knapper, als die Schneeberge, die die Räumungsdienste seit Tagen an den Straßenrändern aufhäuften, auch noch jede Menge Platz wegnahmen.
Das italienische Restaurant empfing ihn mit Wärme, mit Kerzenschein, mit dem Duft nach Pasta und Kräutern, mit Stimmengewirr und Gläserklingen. Samstagabend. Es war ziemlich voll, aber John erkannte schon von der Tür aus, dass seine Verabredung bereits da war. Sie saß ziemlich weit hinten, an einem etwas abseits stehenden Tisch.
Kluges Mädchen.
Perfekt für das, was sie vorhatten.
Sie hatte ihn ebenfalls entdeckt und winkte ihm zu. Als er sich ihr durch die Tischreihen näherte, sah er, dass sie geradezu glühte vor Erwartungsfreude. Sie hatte etwas für ihn. Sie fieberte seiner Überraschung entgegen und dem Lob, das sie bekommen würde.
Detective Constable Kate Linville. Fünfunddreißig Jahre alt. Sah aber aus wie mindestens zweiundvierzig. Hellbraune Haare, blasses Gesicht. Züge, die man sich nur schwer merken konnte. Ihre kleinen Augen wirkten immer etwas verquollen, so als hätte sie die jeweils vergangene Nacht kräftig durchgesoffen und wenig geschlafen, was definitiv nicht der Fall war. Ihre Augen hatten einfach diese unglückliche Form. Kate wurde von Männern beharrlich übersehen, und auch ihre Karriere bei der Polizei kam nicht recht in Gang. Weshalb sie überhaupt unbedingt diesen Beruf hatte ergreifen müssen, war schon zu Johns Zeiten jedem in der Abteilung ein Rätsel gewesen.
Sie gehörte damals zu den Frauen im Yard, die in John Burton verliebt gewesen waren. Er hatte das jedoch lange Zeit nicht gewusst und nicht im Traum vermutet. Aber eines Tages, er stand am Kopierer, war sie neben ihn getreten, ebenfalls mit einer Akte in der Hand, die sie kopieren wollte, und hatte eine Weile schweigend gewartet, bevor sie plötzlich fragte: »Hätten Sie Lust, am Wochenende mal mit mir ins Kino zu gehen?«
Ihre Stimme hatte gezittert, und ihre Lippen waren bleich gewesen, und John, der sie überrascht angesehen hatte, begriff, dass sie auf eine Gelegenheit wie diese monatelang hingefiebert, dass sie diesen einen Satz bis zum Umfallen geübt haben musste. Und noch etwas hatte er erkannt, als er ihre Augen sah: dass sie sich verzehrte nach ihm, dass er der Held ihrer Tagträume war, dass in ihren Gedanken eine Welt existierte, in der er und sie die wunderbarsten Dinge zusammen erlebten. Er hatte die Monotonie ihres Lebens erkannt, die stillen Abende und die leeren Wochenenden. Er hatte die Verzweiflung gesehen, die in ihr den Mut hatte reifen lassen, ihm diese Frage zu stellen.
Hätten Sie Lust, am Wochenende mit mir ins Kino zu gehen?
Er hatte das mit dem Kino freundlich abgewimmelt, und erwartungsgemäß hatte sie nie wieder gewagt, mit irgendeiner Frage oder Bitte in dieser Art an ihn heranzutreten.
Aber als er nun, viele Jahre später, überlegt hatte, wen er um Informationen bitten konnte, war sie ihm eingefallen. Sie war keineswegs wagemutig, und sie riskierte eine Menge bei dem, was sie tat, ihren Job und ein Disziplinarverfahren, aber er hatte richtig kalkuliert: Sie war so mutterseelenallein, dass sie der Versuchung, auf diese Weise eine Verabredung zu bekommen, nicht würde widerstehen können. Am Ende ein zweites oder drittes Date. Noch dazu mit dem Mann, den sie jahrelang angeschmachtet hatte. Ihre Verzweiflung war größer als ihre Vorsicht, darauf hatte John jedenfalls spekuliert, und er hatte sich nicht getäuscht. Sie waren heute zum zweiten Mal verabredet. Und sie saß vermutlich schon seit mindestens einer halben Stunde hier und wartete auf ihn.
»Hallo, Kate«, sagte er, als er den Tisch erreicht hatte.
»Hallo, John«, erwiderte sie.
»Tut mir leid, wenn ich etwas zu spät bin. Ich musste in ziemlicher Entfernung parken. Ist ja nicht so leicht hier. Bist du mit dem Wagen da?«
Sie schüttelte den Kopf. »Mit der Bahn. Ich wollte einen Wein trinken können.«
Er seufzte, aber nur innerlich. Er wäre auch zu ihr hinaus nach Bexley gekommen, wo sie seit Ewigkeiten wohnte, aber sie hatte unter dem Hinweis, sowieso ein paar dringende Einkäufe erledigen zu müssen, auf der Innenstadt bestanden. Wenn es spät wurde – und er wusste vom letzten Mal, dass sie die Treffen mit ihm ins Unendliche auszudehnen versuchte –, konnte er sie nicht guten Gewissens mit der Bahn fahren lassen. Hoffte sie darauf? Dass er sie bringen würde? Oder dass er ihr gar anbot, bei ihm zu übernachten?
Er setzte sich, nahm die Karte entgegen, die der Kellner ihm reichte. Kate wartete, bis er sich etwas ausgesucht und sie beide bestellt hatten, dann neigte sie sich vor und flüsterte: »Es gibt Neuigkeiten!«
Er lächelte sie an. »Erzähl!«
»Also, wir haben etwas herausgefunden aus dem Leben von Carla Roberts. Und zwar war sie Mitglied so einer Art Selbsthilfegruppe. Allein lebende Frauen. Geschieden, verwitwet und so. Trafen sich einmal die Woche und versuchten … na ja, irgendwie gemeinsam mit der Situation zurechtzukommen. Die Gruppe gibt es seit einem Dreivierteljahr nicht mehr, aber die Initiatorin hat sich gemeldet und DI Fielder davon erzählt. In der Gruppe gab es eine Frau, mit der war Carla Roberts … nun, befreundet kann man wohl nicht sagen, aber näher bekannt. Liza Stanford. Nicht allein lebend, übrigens. Aber wohl nicht besonders glücklich verheiratet.«
»Verstehe«, sagte John. Im Geist notierte er sich den Namen. »Wie viele Mitglieder hatte die Gruppe?«
»Es waren sechs Frauen. Fielder hat alle Namen. Anne Westley gehört leider nicht dazu, das wäre auch zu schön gewesen. Aber die Stanford … das war ein Volltreffer!«
»Inwiefern?«
»Also, Christy hatte gestern die Idee. Unsere schlaue Christy McMarrow«, sagte Kate mit einiger Verbitterung in der Stimme. Sie hatte Christy noch nie leiden können. Christy lebte ebenfalls ohne feste Beziehung, aber freudig und aus Überzeugung, und hatte nie ein Problem, eine Verabredung für das Wochenende zu finden. Abgesehen davon, dass der Chef sie anhimmelte. »Also, Christy ging mit der Namensliste aus dieser Frauengruppe in die Praxis, in der Dr. Anne Westley gearbeitet hatte, und verglich sie mit Westleys Patientenkartei. Und welchen Namen entdeckte sie da?«
»Liza Stanford«, sagte John. »Da du ja von einem Volltreffer gesprochen hast.«
»Genau«, bestätigte Kate.
Sie schwieg einen Moment, weil der Kellner mit einer Weinkaraffe und einer Flasche Wasser an den Tisch getreten war. Er schenkte ihnen ein, entfernte sich dann wieder.
»Liza Stanford hat einen Sohn«, berichtete Kate. »Finley Stanford. Mit ihm war sie vier- oder fünfmal bei Dr. Westley. Der Chef ist natürlich absolut euphorisch. Denn er hat ja schon die ganze Zeit über verzweifelt nach einem Schnittpunkt zwischen Carla Roberts und Anne Westley gesucht. Er geht davon aus, dass es kein Zufall ist, dass sie beide diese Liza Stanford kannten.«
»Ist es vermutlich auch nicht«, sagte John. Er versuchte, die vielen verschiedenen Fragen und Gedanken zu sortieren, die ihm sofort durch den Kopf schossen.
»Gab es irgendetwas mit dem Sohn?«, fragte er. »In medizinischer Hinsicht, meine ich. Ein Problem, irgendetwas Ernstes?«
Kate verneinte. »Es ging bei dem Jungen nur um Kleinigkeiten. Eine Halsentzündung. Die Masern. Eine Sportverletzung. Nichts Spektakuläres. Nichts, woraus sich unter Umständen ein Tatmotiv gegenüber Westley ableiten ließe.«
»Wie steht es mit Gillian Ward? Kennt sie diese Frau auch?«
Kate verzog bedauernd das Gesicht. »Wurde natürlich auch sofort überprüft. Das hätte die Sache richtig rund gemacht. Nein. Sie hat den Namen nie gehört. Fielder versucht nun herauszufinden, ob ihr Mann vielleicht Kontakt zu ihr hatte. Eventuell beruflich oder über seinen Sport. Aber das ist naturgemäß viel schwieriger.«
»Habt ihr Liza Stanford aufgesucht?«, fragte John.
Kate sah aus, als habe sie auf diese Frage nur gewartet. »Jetzt kommt das Beste«, sagte sie, »Fielder hat sie natürlich sofort aufgesucht. Gestern am späten Nachmittag noch. Das heißt, er hat es versucht. Und erfahren, dass sie verschwunden ist. Seit fast zwei Monaten!«
»Verschwunden?«
»Er hat ihren Mann angetroffen. Und rate, wer das ist? Stanford. Dr. Logan Stanford!«
»Ach«, sagte John überrascht. »Charity-Stanford?«
»Genau. Dieser sagenhaft reiche Rechtsanwalt mit der Protzvilla in Hampstead und den freundschaftlichen Kontakten bis hin zum Premierminister, zur Queen, was weiß ich. Der ununterbrochen mit seinen Wohltätigkeitsveranstaltungen in der Regenbogenpresse steht. Genau der ist es. Und er hat Fielder erklärt, dass seine Frau seit Mitte November verschwunden ist.«
»Aha. Und das findet Stanford normal? Oder hat er irgendetwas in dieser Sache unternommen?«
»Soweit ich weiß, ist das alles schon etwas mysteriös«, sagte Kate. Ihrer Formulierung entnahm John, dass sie in diesem Punkt nicht zu hundert Prozent auf dem Laufenden war. »Stanford hat nichts unternommen, weil es offenbar nicht völlig ungewöhnlich für seine Frau ist. Gelegentlich unterzutauchen, meine ich. Er hat wohl Fielder gegenüber eingeräumt, dass seine Ehe nicht besonders glücklich ist. Das entspricht dem, was wir aus der Frauengruppe wissen. Liza Stanford trug sich mit Trennungsabsichten. Es ergibt sich das Bild einer zumindest zeitweise ziemlich depressiven, nervösen Frau, die sich immer wieder Auszeiten nimmt, um herauszufinden, wie ihre Zukunft aussehen soll. In diesen Zeiten hat sie keinerlei Kontakt zu ihrer Familie.«
»Worin genau bestehen die Probleme in dieser Ehe? Hat Fielder das erfragen können?«
»Das weiß ich leider nicht«, bekannte Kate. »Du weißt ja, wirklich intensiv bespricht er sich immer nur mit seiner Christy. Ich erfahre nur, was in den Gesamtkonferenzen abgeklärt wird, und zu dieser Entwicklung gab es nur ein ganz kurzes Gespräch gestern am späten Abend.«
»Der Sohn. Was ist mit ihm? War der zu Hause?«
»Ja. Finley ist zwölf Jahre alt und saß am Computer, als Fielder aufkreuzte. Er scheint nicht sehr gesprächig gewesen zu sein, aber das sind Jungs in dem Alter ja nie. Aber es schien wohl so weit alles in Ordnung mit ihm. Er kam Fielder nicht verstört vor. Auch eher so, als sei die Situation nicht ungewöhnlich für ihn.«
»Hm.« John überlegte. »Was meinst du?«, fragte er dann. »Wie siehst du die Sache?«
»Ich?«, fragte Kate überrascht. Sie schien es absolut nicht erwartet zu haben, von John ernsthaft um ihre Meinung gebeten zu werden. »Ja, also, ehrlich gesagt, ich kann das nicht so richtig einordnen. Eine Ehefrau und Mutter taucht wochenlang unter, und ihr Mann und ihr Sohn leben weiter, als sei nichts geschehen. Ich meine, gerade wenn sie depressiv ist, macht man sich doch eigentlich Sorgen, oder? Selbst wenn sie bislang immer wieder zurückgekehrt ist, würde ich mir doch vorstellen, dass der Moment kommen kann, an dem sie etwas Dummes tut. Sie könnte sich umgebracht haben, und ihre Familie wüsste es überhaupt nicht!«
»Hinzu kommt, dass sie Kontakt zu zwei Frauen hatte, die beide in kurzem zeitlichem Abstand voneinander ermordet wurden. Wie auch Fielder das offenbar sieht: Ein Zufall kann das eigentlich nicht sein«, meinte John nachdenklich.
Er spielte mit seinem Weinglas, zog dann die Hände zurück, als der Kellner an den Tisch trat und jedem einen großen Teller dampfende Pasta hinstellte. Einige Minuten lang aßen sie beide schweigend, was John sehr recht war; so konnte er seinen Gedanken nachhängen.
Ob Stanford glaubwürdig war, konnte er nicht beurteilen, dazu hätte er selbst mit ihm sprechen müssen. Seltsam mutete die Geschichte in jedem Fall an.
Wenn ich weiterhin mitmischen möchte, dachte er, muss ich mit ihm reden.
Als könne sie seine Gedanken lesen, blickte Kate in diesem Moment von ihren Nudeln auf und fragte: »John, ich weiß, das geht mich eigentlich nichts an, aber … warum? Warum willst du das alles wissen? Warum lässt du Fielder nicht einfach seine Arbeit machen? Warum willst du auf eigene Faust Ermittlungen anstellen?«
Er hatte ihr zu Anfang gesagt, dass er Gillian Ward kannte, deren Mann ermordet worden war, und dass daher sein Interesse rührte. Er hatte unerwähnt gelassen, dass er ein Verhältnis mit ihr hatte – oder gehabt hatte? Genau wusste er das derzeit selbst nicht. Er hatte lediglich berichtet, dass er Gillians Tochter im Handball trainierte. Sein Instinkt sagte ihm, dass Kate sich sonst verschlossen hätte wie eine Auster. Sie redete nur, weil sie sich Hoffnungen machte.
»Es macht mir Spaß«, sagte er. Zu seinem Erstaunen erkannte er gleichzeitig, dass diese Antwort absolut der Wahrheit entsprach. Neben allem anderen machte es ihm einfach Spaß. Die Verbindung zu Gillian hatte die Initialzündung dargestellt, aber inzwischen war auch sein Jagdinstinkt erwacht. Er war darin ausgebildet, das zu tun, was er gerade tat, und er merkte, dass ihm seine Arbeit tatsächlich gefehlt hatte. Nicht die Hierarchie der Beamtenlaufbahn, nicht die Intrigen, nicht das Lauern auf Beförderungen. Aber die Arbeit. Die einfache Arbeit an sich.
»Und du weißt«, fügte er hinzu, »ich kenne die Familie Ward. Ich mag die Tochter sehr gern. Das Mädchen ist völlig traumatisiert. Vielleicht steigert das meinen Zorn auf denjenigen, der das alles getan hat.«
Er sah Kate an, dass er sie überzeugt hatte.
»Zwei Dinge hatte ich noch nicht erwähnt«, sagte sie. »Sie wurden auch bislang aus der Presse herausgehalten. Wir wissen, dass sich Carla Roberts in den letzten beiden Wochen vor ihrem Tod auf eine sehr diffuse Weise bedroht fühlte. Sie hat das ihrer Tochter erzählt. Sie lebte ja im obersten Stockwerk eines Hochhauses, und ihr war aufgefallen, dass der Fahrstuhl immerzu hochgefahren kam. Ungewöhnlich oft. Und ohne dass jemand ausstieg. Sie hatte Angst deswegen.«
»Ich nehme an«, sagte John, »das Aufzugsystem wurde untersucht? Eine rein technische Störung ist ausgeschlossen?«
»So ist es. Und jetzt hatte Fielder die Idee, dass auch Anne Westley vielleicht bedroht wurde. Was dazu passen würde, dass sie plötzlich kurz vor Weihnachten ihr Haus verkaufen und so bald wie möglich in die Stadt ziehen wollte – nachdem sie es ja zunächst jahrelang dort ausgehalten hatte.«
»Auf welche Art, meint Fielder, wurde sie bedroht?«
»Also, er hat in ihrem Haus ein Bild gefunden. Anne Westley hatte ein Atelier unter dem Dach. Sie war Hobbymalerin. Aquarelle. Ihre bevorzugten Motive waren Blumen und Bäume, sonnige Landschaften. Positive, farbenfrohe Bilder. Aber eines war darunter, das passte überhaupt nicht.«
»Inwiefern?«
»Ich habe es selbst nicht gesehen, aber Fielder hat es beschrieben. Tiefschwarze Nacht. Zwei glühende Punkte darin. Autoscheinwerfer, so würde er es interpretieren. Er überlegt, ob sie die gesehen hat in der Zeit vor ihrer Ermordung. Die Lichter eines Autos, die dort draußen in der Abgeschiedenheit ihres Hauses auftauchten. Immer wieder. Ohne dass eine Person aufgekreuzt wäre. Einfach nur das Auto, das kam und verschwand. Wie der Fahrstuhl in Carla Roberts’ Hochhaus.«
»Nicht schlecht kombiniert«, sagte John. Eine ziemlich kreative Gedankenführung für den fantasielosen Fielder, wie er zugeben musste. »Beiden Frauen wurde gezielt Angst eingejagt. Bei Carla Roberts ist auch ungefähr klar, seit wann. Wenn der Terror etwa zwei Wochen vor ihrem Tod begann, dann …«
»… deckt sich das zeitlich zumindest grob mit dem Verschwinden von Liza Stanford«, vollendete Kate den Satz.
Die geheimnisvolle, nicht auffindbare Frau. Aber auch ein anderer Name sprang John in diesem Zusammenhang an, ganz unwillkürlich: Samson Segal. Der diversen Menschen hinterherspioniert hatte. War er mit dem Fahrstuhl immer wieder nach oben gefahren? Hatte er sich nachts in der Einöde um das Haus der alten Frau herumgetrieben?
»Beide Frauen wurden unter Umständen belästigt«, sagte John. »Aber du sprachst von zwei Dingen, die du noch nicht erwähnt hast?«
Sie lächelte plötzlich kokett. »Später«, sagte sie.
Nach zwei Gabeln mit Nudeln meinte sie: »Fielder hat das nie so konkret ausgesprochen, jedenfalls nicht in der Konferenz, aber die Dinge sickern ja durch: Du weißt schon, dass er auch mit dem Gedanken spielt, du … könntest irgendwie in die Sache verstrickt sein?«
»Ich weiß. Aber das ist absurd. Und meiner Ansicht nach kann er da beim besten Willen nichts konstruieren. Ich kenne die Wards. Aber nicht die beiden toten Frauen. Wie er es dreht und wendet, er wird kein Motiv finden«, sagte John.
»Ich riskiere ganz schön viel«, meinte Kate.
»Ich weiß.«
»Na ja, ich tu es gerne!«
Er schenkte ihr ein verhaltenes Lächeln. Er durfte ihr bloß nicht zu viel Hoffnung machen. Inzwischen war ihm sonnenklar, dass sie absichtlich nicht mit dem Auto gekommen war. Sie wollte in sein Auto. Und am liebsten in seine Wohnung.
»Manche würden auch dumm finden, was ich hier tue«, fuhr Kate fort.
»Ich finde es nicht dumm. Und du kannst dich absolut auf mich verlassen. Niemand wird je von unseren Treffen und Gesprächen erfahren«, versicherte John.
Mit einigem Geschick lenkte er auf ein neutrales Thema um. Er sah Kates Strategie: Indem sie betonte, wie weit sie sich in der ganzen Geschichte aus dem Fenster lehnte, hoffte sie, seine Bewunderung und Anerkennung zu finden. Zumindest aber seine Dankbarkeit. Er sollte sich ihr verpflichtet fühlen, und dieses Gefühl würde sie dann zu nutzen versuchen.
Er erzählte von der Firma, die er aufgebaut hatte, von den Objekten, die sie bewachten, Baustellen, Supermärkte, Tankstellen, manchmal auch Privathäuser.
»Außerdem habe ich vier Mitarbeiter für den Personenschutz. Sie sind dermaßen gefragt, dass ich eigentlich in dieser Richtung expandieren müsste, aber ich bin noch nicht ganz entschlossen.«
»Warum?«, fragte Kate.
»Ich lege mich so ungern fest«, sagte John. »Als ich die Firma gegründet habe, war das eher eine Übergangslösung. Die ich jederzeit wieder aufgeben kann. Je größer sie wird, umso unbeweglicher fühle ich mich.«
»Bist du deshalb auch noch alleine? Ich meine, ohne Frau und Kinder? Weil du dich auch darin nicht festlegen kannst?«
»Möglich«, sagte er vage. Unauffällig schielte er auf seine Uhr. Kate durfte keinesfalls die letzte Bahn verpassen.
»Ich hätte das gerne. Eine Familie«, sagte Kate verträumt.
»Nicht ganz einfach bei deinem Beruf.«
Sie zuckte mit den Schultern. »Andere schaffen das auch.«
»Sicher.« Irgendwie waren sie auf gefährliches Terrain abgeglitten. Er winkte dem Kellner, deutete an, dass er zahlen wollte. Ihm wurde der Hals eng, wenn er Kates begehrlichen Blick auf sich ruhen fühlte. Sie hatte ihm all die Informationen natürlich nicht umsonst geliefert, aber zum Glück hatten sie nie eine Gegenleistung vereinbart. Wenn sie nun nicht bekam, was sie sich erhofft hatte, so war das nicht seine Schuld.
Als er gezahlt hatte und sie beide in der Dunkelheit auf der Straße standen, sagte er: »Ich begleite dich noch zur Haltestelle.«
»Danke.« Sie klang frustriert.
Schweigend gingen sie nebeneinanderher. Schließlich sagte sie verzweifelt: »Ich muss nicht unbedingt nach Hause, John.«
Er blieb stehen. »Kate …«
»Morgen ist Sonntag. Ich habe keinen Dienst. Wir könnten zusammen frühstücken …«
»Es tut mir leid, Kate. Das geht nicht.«
»Warum nicht? Gibt es … hast du eine Freundin?«
»Nein. Aber im Moment passt keine Frau in mein Leben.«
»Ich will dich auf nichts festlegen, John. Man kann doch sehen, was sich entwickelt. Und wenn sich nichts entwickelt … dann ist es eben so.«
Leere Worte, dachte er. Wenn er auf eines gewettet hätte, dann darauf, dass er eine Frau wie Kate nie mehr loswerden würde, wenn er auch nur das mindeste Entgegenkommen signalisierte. Geschweige denn eine Nacht mit ihr verbrachte. Kate war eine Frau, die sich zur Stalkerin entwickeln konnte, wenn sie abgewiesen wurde.
»Es geht einfach nicht, Kate. Das hat nichts mit dir zu tun. Nur mit mir.«
»Ich dachte …«
»Was?«
»Ach, nichts.« Was hätte sie sagen sollen? Dass sie geglaubt hatte, sein Interesse an ihr gehe über das bloße Erlangen geheimer Informationen hinaus? Er konnte ihr förmlich ansehen, wie sie sich in diesem Moment fühlte: wie eine Idiotin.
Trotzdem riskierte er die Frage: »Du sagtest, du hättest noch etwas für mich?«
Sie blickte ihn aus stumpfen Augen an. Überlegte. Schließlich ging ihr wohl auf, dass es sich mit ihrer Selbstachtung noch weniger vereinbaren ließe, wenn sie nun, da sie klar zurückgewiesen worden war, herumzickte. Dann wurde vollends deutlich, worauf sie gelauert hatte und wie enttäuscht sie sich fühlte.
»Ja. Da ist noch etwas. Was die Morde an den beiden Frauen angeht, wurde ein wesentliches Detail nicht an die Medien gegeben. Auf welche Weise nämlich genau die Opfer getötet wurden.«
»Sie wurden also nicht erschossen?« Er hatte sich das schon gedacht, weil immer von besonders grausamen Taten die Rede gewesen war.
»Im Fall Westley hat der Täter ein Türschloss zerschossen, um in einen Raum einzudringen. Ansonsten diente die Waffe wohl nur dazu, sie gefügig zu machen. Der Täter konnte sie jedenfalls mit Paketklebeband an Händen und Füßen fesseln, ohne dass sie sich offenbar zur Wehr setzten.«
»Und dann?«
»Er stopfte ihnen ein Geschirrtuch in den Mund. Schob es ihnen ziemlich tief in den Rachen. Bei Carla Roberts bewirkte das, dass sie sich erbrechen musste. Sie ist daran erstickt.«
»Und Anne Westley?«
»Da musste er nachhelfen. Sie starb einfach nicht. Er hat ihr schließlich die Nase komplett mit Paketband zugeklebt. Daran erstickte dann auch sie.«
»Oh verdammt«, sagte John.
Hass, dachte er, ein unglaublicher, wahnsinniger Hass. Es ging nicht einfach darum, die Frauen zu töten. Sie sollten qualvoll sterben.
»Thomas Ward wurde jedoch erschossen?«, vergewisserte er sich. Obwohl er im Grunde sicher war, dass ihm Gillian, die ihren Mann ja gefunden hatte, erzählt hätte, wenn es anders gewesen wäre.
»Ja. Und das untermauert Fielders Theorie, dass Thomas Ward gar nicht gemeint war. Der Täter hatte eine Frau erwartet. Stand aber plötzlich einem Mann gegenüber. Und zwar nicht irgendeinem. Thomas Ward war sehr groß. Sehr sportlich. Ungeheuer trainiert. Ward hätte sich bestimmt ganz anders gewehrt als die beiden älteren Frauen, wenn ihn der Täter nicht sofort erschossen hätte.«
»Und die Frauen wurden tatsächlich mit Geschirrtüchern erstickt?«
»Ja.«
»Gehörten sie den Opfern? Also waren sie einfach das Nächste, was der Täter greifen konnte? Oder hatte er sie mitgebracht?«
»Sie gehörten den Opfern. Bei Carla Roberts hat deren Tochter das Tuch identifiziert. Und im Fall Westley hat man identische Tücher in einer Schublade gefunden. Der Täter scheint sie sich also erst am Tatort zu besorgen.«
Sie kamen am Bahnhof von Charing Cross an, als die Bahn gerade einlief.
»Also dann«, sagte Kate. Ihre Gesichtsfarbe wirkte noch fahler als sonst.
»Komm gut nach Hause«, sagte John, »und – danke!«
Sie war verletzt und drehte sich nicht mehr um, während sie einstieg. Sie wählte einen Sitzplatz auf der gegenüberliegenden Seite.
Er vermutete, dass sie weinte.