DIENSTAG, 12. JANUAR

1

Gillian hatte den Eindruck, dass sie seit dem Tag, da sie Thomas tot im Esszimmer gefunden hatte, nicht ein Mal stehen geblieben war. Fast buchstäblich, wenn man von den Nächten absah, in denen sie ein starkes Schlafmittel nahm, umfiel wie ein gefällter Baum und zum Glück ohne die geringste Erinnerung an bedrückende Träume am nächsten Morgen wie aus der Tiefe einer Narkose erwachte. Ihre Nächte waren dunkel, vollkommen schwarz und vollkommen leer. Wenn sie aufstand, kam sie sich vor wie ein Hamster, der in sein Laufrad springt und darin rennt bis zur völligen Erschöpfung. Das Tier im Käfig rannte vor der Langeweile und Einsamkeit seines Gefängnisses davon. Gillian lief vor dem Moment des endgültigen Begreifens fort.

Irgendwann würde sie nicht weiterkönnen.

Sie mistete das Haus aus. In zahllose Tüten verpackt, hatte sie Toms Kleidungsstücke zur Altkleidersammlung gebracht. Kinderklamotten von Becky aussortiert, eigene, lange nicht getragene Sachen beiseitegeräumt. Sie holte alte Zeitungen und leere Pappkartons vom Dachboden und füllte die Papiertonne, sie rief den Sperrmüll an und bestellte ihn für den Anfang der nächsten Woche. Im Keller standen noch Möbel aus der ersten Zeit ihrer Ehe, Erinnerungsstücke, die stets zu viele nostalgische Gefühle ausgelöst hatten, als dass Gillian sich von ihnen hätte trennen können. Jetzt kamen sie auf die Liste der Gegenstände, die sie würde abholen lassen.

Im Keller hatte sie sogar noch etliche zusammengefaltete Umzugskartons gefunden, die von ihrem und Toms Umzug in dieses Haus übrig geblieben waren. Sie schleppte sie nach oben, baute sie zusammen und begann mit ersten Packarbeiten. Bücher, Porzellan, gerahmte Fotografien, Kerzenständer.

Jetzt, am Dienstagmittag, sah das Haus bereits aus, als stehe der Umzug unmittelbar bevor.

Sie merkte, dass sie hungrig war, nahm eine Pizza aus dem Tiefkühlschrank und schob sie in den Backofen. Während sie auf ihr Essen wartete, fuhr sie ihren Computer hoch und fahndete über Google nach einem Makler in Southend oder London. Sie kannte niemanden aus der Branche und hätte im Grunde den Erstbesten nehmen können, aber dann fiel ihr Blick auf den Namen Luke Palm und ein Erinnerungsglöckchen schlug an. Der Name war in ein oder zwei Zeitungen genannt worden. Palm war der Mann, der die ermordete Anne Westley gefunden hatte. Sie überlegte, dass er für sie vielleicht die günstigste Möglichkeit wäre. Sie konnte ihm offen erzählen, weshalb sie das Haus verkaufen wollte, ohne dass er gleich in Ohnmacht fiele oder entweder verständnislos oder sensationsheischend reagierte. In gewisser Weise war er Teil der ganzen Geschichte. Gillian, die sich, seitdem brutalste Gewalt in ihr Leben eingedrungen war, manchmal wie auf einer Eisscholle treibend fühlte, losgelöst von der Normalität und von den Menschen, in deren Dasein derartige Übergriffe nicht stattfanden, stellte sich Luke Palm als einen Menschen vor, der ebenfalls auf einer Eisscholle saß. Er flößte ihr mehr Vertrauen ein als alle anderen.

Sie wählte die Nummer seines Büros und wurde von der Sekretärin sogleich durchgestellt.

»Palm.«

»Hier ist Gillian Ward.« Sie machte eine kurze Pause und wartete, ob eine Reaktion kam, aber offensichtlich war Palm der Name nicht präsent. Sicher hatte er in der Zeitung von Toms Ermordung gelesen, allerdings hatte nur ein Blatt dabei auch Toms vollen Namen genannt.

»Ich möchte mein Haus verkaufen«, fuhr sie fort. »Hier draußen in Southend, Stadtteil Thorpe Bay. Ich würde mich gern beraten lassen, wie hoch ich etwa den Preis ansetzen kann. Ich habe keine Ahnung, wie die Lage auf dem Markt im Augenblick ist.«

»Kein Problem. Ich kann mir Ihr Haus jederzeit anschauen. Wann hätten Sie Zeit?«

»Würde es bei Ihnen morgen passen? Morgen Nachmittag?«

»Ich habe morgen leider schon ein paar Termine. Wäre Ihnen halb sechs zu spät?«

»Nein, das wäre perfekt.«

Sie nannte ihm ihre Adresse und Telefonnummer. Als sie sich verabschiedet hatten, blieb sie noch ein paar Minuten am Esstisch sitzen, blickte hinaus in den tief verschneiten Garten. Voraussichtlich war das ihr letzter Winter hier.

Ich tue es, dachte sie, ich tue es wirklich. Ich breche alle Brücken hinter mir ab.

Ein paar hungrige Vögel flatterten um das Vogelhäuschen herum, das gleich neben dem Kirschbaum stand. Sie drehten enttäuscht ab, als sie merkten, dass es leer war. Gillian konnte das Bild nicht abwehren, das vor ihrem inneren Auge entstand: Beckys Geburtstag zwei Jahre zuvor. Der 22. November. Sie hatte sich das Vogelhaus sehnlichst gewünscht und es auch bekommen. Gillian hatte am Fenster gestanden und zugeschaut, als sie und Tom es noch am Nachmittag draußen aufbauten. Beckys Wangen glühten vor Freude. Tom hatte es genossen, etwas mit seiner Tochter zusammen zu unternehmen. Die beiden hatten so glücklich gewirkt, so harmonisch. Das Zuschauen hatte Gillian mit Wärme erfüllt. Etwas von dieser Wärme konnte sie selbst jetzt noch spüren, und das war gefährlich. Viel zu gefährlich.

Sie verscheuchte das Bild.

Der Garten lag wieder leer vor ihr, vergraben unter einer Decke unberührten Schnees. Kein Mann mehr dort, der zusammen mit einem Kind lachte und redete. Nur die hungrigen Vögel.

Nachher muss ich Vogelfutter kaufen, dachte Gillian.

2

Samson verschloss sorgfältig die Tür des Wohnwagens hinter sich und verstaute den Schlüssel in seiner Anoraktasche. Er schauderte vor der Kälte, die ihn draußen empfing. Ein strahlend blauer Himmel, Sonne, hoher Schnee, dessen Oberfläche blitzte und funkelte. Mindestens zehn Grad unter dem Gefrierpunkt, schätzte Samson. Er konnte sich nicht erinnern, jemals einen so kalten, so schneereichen Winter erlebt zu haben. Im Gegenteil. In den letzten Jahren hatte fast immer nur trostloses Schmuddelwetter geherrscht, und niemand hätte mehr geglaubt, je wieder eine weiße Weihnacht in England zu feiern. Oder Kinder zu sehen, die Schlitten hinter sich herzogen und zu den nächsten Hügeln stapften, um dort Nachmittage lang zu rodeln. Aus seiner frühen Kindheit entsann sich Samson solcher Freuden.

Aber das war lange her.

Er hatte eine Tüte mit getrockneten Brotresten bei sich, wedelte nun den Schnee von einem halb fertigen Mauerstück und schüttete das Brot auf die Steine. Er wusste, kaum wäre er ein Stück weit gegangen, würden sich die Vögel in einer schwarzen Wolke auf der Mauer niederlassen. In den letzten Tagen hatte er sie regelmäßig gefüttert. Sie stellten seine einzige Gesellschaft in der Einöde dar, und ihre hungrigen Schreie brachen ihm fast das Herz.

»Von jetzt an müsst ihr alleine klarkommen«, sagte er leise, »ich schaffe es hier nicht mehr.«

Sein Plan war, sich über die Felder bis zu den ersten Ausläufern Londons durchzuschlagen, dort eine Telefonzelle oder ein Postamt zu suchen und entweder über ein Telefonbuch oder einen Anruf bei der Auskunft die Adresse von John Burton ausfindig zu machen. Er brauchte eine neue Unterkunft, und Burton war der Einzige, der ihm helfen konnte. Sollte es nicht möglich sein, ihn zu finden, bliebe nur Bartek, von dem er sich aber vorstellen konnte, dass er bei seinem Auftauchen in Ohnmacht fallen oder ihn gleich davonjagen würde. Gavin, sein Bruder, wäre die äußerste Alternative. Wegen Millie. Aber ehe er verhungerte oder erfror, würde er sich in die Höhle der Löwin begeben müssen. Letzten Endes würde er sowieso bei der Polizei und im Untersuchungsgefängnis landen, da machte er sich nichts vor. Es war nur die Frage, wie lange er diesen Moment würde hinauszögern können. Und er hatte längst den Punkt erreicht, an dem er den Aufenthalt in einer Gefängniszelle nicht mehr als das größte aller vorstellbaren Übel ansah. Das Alleinsein hatte ihn fast zerbrochen. Wenn er sich jetzt auf den Weg machte, John zu suchen, so geschah das, um sein Leben zu retten. Noch ein paar Tage in dem Wohnwagen auf der verlassenen Baustelle, und er würde zum Selbstmörder werden.

Es war halb zwei am Mittag. Schemenhaft konnte er am Horizont die ersten Häuser des Stadtrandes erkennen, ohne zu wissen, um welchen Teil der Stadt es sich handelte. Er schätzte, dass er gut eineinhalb Stunden Fußmarsch vor sich hatte, bis er eine bewohnte Gegend erreichte, aber das schreckte ihn nicht. Er war immer gern gelaufen, und er war warm angezogen, hatte sich vor seinem Aufbruch noch eine stärkende Mahlzeit aus einer Konservendose einverleibt. Zunächst konnte ihm nicht viel geschehen. Er brauchte nur dringend eine Unterkunft, ehe die Nacht anbrach. Das Thermometer fiel derzeit in den Nächten auf fast fünfzehn Grad unter den Gefrierpunkt.

Er ging los. Es war anstrengend zu laufen, weil er bei jedem Schritt tief im Schnee versank.

Ich werde morgen einen ganz schönen Muskelkater haben, dachte er.

Einmal drehte er sich um. Die unfertigen Außenwände der Hochhäuser und die Kräne ragten hoch hinauf in den überirdisch blauen Himmel. Sein Wohnwagen sah klein und unscheinbar, fast verloren aus.

Die Vögel hingen über der Mauer und kämpften um das Brot.

3

Seit drei Uhr parkte John gegenüber der Schule und behielt alle Ausgänge scharf im Auge. Ein paar Schüler hatten das rote Backsteingebäude mit den weiß gerahmten Fenstern verlassen, andere waren hineingegangen, aber Finley war nicht dabei gewesen. An die Schule schlossen sich die Wiesen und Felder von Hampstead Heath an, darin eingebettet Tennisplätze, andere Sportanlagen und verschiedene Gebäude, die zur Schule gehörten. Selbst wenn Finley dort gerade Unterricht hatte, vermutete John, dass er auf seinem Heimweg irgendwann hier vorn herauskommen oder zumindest vorbeigehen müsste. In einiger Entfernung befand sich eine Bushaltestelle. Es war anzunehmen, dass Finley von dort aus seinen Heimweg antreten würde.

John war guter Hoffnung.

Weniger zuversichtlich war er, wenn er an seine Firma dachte. Die Recherchearbeit der letzten Tage wirkte sich ausgesprochen negativ auf seine Präsenz im Büro aus. Er hatte fähige Angestellte, aber es war wichtig, dass der Chef die Fäden in der Hand behielt, und daran mangelte es im Moment. Außerdem spürte er ein Schuldgefühl wegen Samson Segal. Er hätte sich längst wieder bei ihm blicken lassen müssen. Der arme Kerl war wirklich mutterseelenallein da draußen und vermutlich der Verzweiflung nahe. John fühlte sich für ihn verantwortlich, aber anstatt sich um ihn zu kümmern, spielte er mittlerweile die Rolle eines privaten Ermittlers, der sich auf die Fährte einer verschollenen Frau gesetzt hatte und nun stundenlang auf Gelegenheiten warten musste, die ihn weiterbringen würden. Der Unterschied war, dass ein richtiger privater Ermittler im Regelfall für seine Arbeit bezahlt wurde. Während er, John, die Arbeit, mit der er seinen Lebensunterhalt verdiente, gewaltig vernachlässigte.

Egal. Er hatte damit angefangen. Er würde es zu Ende bringen.

Um vier Uhr kam Bewegung auf. Erste Schüler kamen aus der Schule, bald drängten größere Mengen hinterher. Die ruhige, verschneite Straße war plötzlich kaum mehr wiederzuerkennen. Rufen, Lachen und Schreien erfüllte sie, es wimmelte von Kindern und Jugendlichen. John stieg aus seinem Auto und sah sich konzentriert um. Er hoffte, dass ihm Finley in dieser Menschenmenge nicht entwischen würde.

Zugleich behielt er die Straße und andere parkende Autos sehr genau im Blick. Nicht auszuschließen, dass Dr. Stanford persönlich aufkreuzen würde, um seinen Sohn abzuholen. John scheute nicht die Konfrontation mit ihm, aber ihm war bewusst, dass seine Chancen, Finley noch einmal allein zu erwischen, gegen null tendierten, sollte Stanford ihn hier vor der Schule ertappen. Vermutlich ließ er den Jungen dann keinen Moment mehr unbeaufsichtigt, und wenn er einen Bodyguard engagieren musste.

Allerdings konnte John ihn weit und breit nicht entdecken. Gut so. Irgendwann musste der Mann für sein vieles Geld ja auch einmal arbeiten.

Finley tauchte so plötzlich vor ihm auf, dass John fast erschrocken zusammengezuckt wäre. Er kam nicht wie die meisten anderen in einer großen, lärmenden Traube daher, sondern ging völlig alleine. Er erkannte John und trat auf ihn zu. Er sah ihn einfach nur an, aus ruhigen, sanften Augen.

»Hallo, Finley«, sagte John und überflog noch einmal rasch die Umgebung aus den Augenwinkeln. Immer noch kein Dr. Stanford in Sicht.

»Hallo, Mr. Burton«, sagte Finley. »Mein Vater hat gesagt, ich soll nicht mit Ihnen sprechen.«

»Ja, das habe ich vermutet. Und ich weiß, dass ich viel von dir verlange, wenn ich dich bitte, dich darüber hinwegzusetzen. Aber es ist wichtig. Es geht um deine Mutter.«

Finley wirkte hin- und hergerissen. Er wollte nicht tun, was sein Vater ausdrücklich verboten hatte, aber er war auch ein Kind, das sich nach seiner Mutter sehnte.

»Sie kennen meine Mutter aber nicht?«, fragte er.

»Nein«, gab John zu. »Ich kenne sie nicht. Aber es wäre wichtig, mit ihr zu reden. Es wäre wichtig für jemand anderen, den ich gut kenne.«

Finley hob beide Schultern. »Ich weiß nicht, wo sie ist.«

»Hast du ein Bild von ihr?«, fragte John.

Finley nickte. Er ließ seinen Schulranzen vom Rücken rutschen, stellte ihn vor sich in den Schnee und suchte darin herum. Aus einem Geldbeutel zog er schließlich ein Foto hervor. »Das ist sie.«

John betrachtete das Bild. Eine schöne Frau, wie er sogleich feststellte. Lange blonde Haare, auffallend große Augen. Ein fein geschnittenes Gesicht. Aber er gewahrte auch den gehetzten Ausdruck, die Angst in den Augen. Zeichen einer Depression? Oder gab es ganz konkrete Ängste, die das Leben von Liza Stanford vergifteten?

Er gab das Bild zurück. »Sie ist sehr schön«, sagte er.

Finley nickte. »Ja.«

»Dein Vater ist im Büro?«

»Ja. Er kommt erst heute Abend wieder.«

»Du würdest jetzt mit dem Bus heimfahren, oder?«

»Ja.«

»Wenn du möchtest, bringe ich dich nach Hause. Und wir könnten unterwegs ein bisschen reden.«

Finley schüttelte energisch den Kopf. »Ich steige nicht zu einem Fremden ins Auto.«

»Okay. Du hast absolut recht. Aber opferst du mir hier auf der Straße fünf Minuten? Für ein Gespräch?«

»Mein Bus geht erst in zehn Minuten«, sagte Finley.

»Gut. Finley, verstehst du, der Gedanke ist kaum nachvollziehbar, dass ein Mensch ohne Grund verschwindet. Schon gar nicht eine Mutter. Sie musste zurücklassen, was ihr mit Sicherheit das Liebste auf der Welt ist, nämlich dich. Das tut eine Frau nur, wenn sie unter sehr großem Druck steht.«

»Ja«, sagte Finley.

»Dein Vater hat der Polizei gesagt, deine Mutter habe immer unter Depressionen gelitten. Weißt du, was Depressionen sind?«

»Man ist dann immer sehr traurig.«

»Genau. Könnte man das über deine Mutter sagen? Dass sie immer sehr traurig ist?«

»Ja«, sagte Finley ernst.

John versuchte es von einer anderen Seite. »Bei depressiven Menschen ist der Grund für ihre Traurigkeit oft nicht zu erkennen. Sie selbst fühlen unter Umständen schon einen Grund, aber für uns von außen scheint es keinen zu geben. So als sei diese Traurigkeit einfach da, wie ein Schnupfen oder eine Halsentzündung. Eine Art Krankheit. Auch dann, wenn im Leben dieses Menschen eigentlich alles in Ordnung ist und man sich fragt: Warum bloß ist er oder sie immer so traurig? Ist das so bei deiner Mutter?«

Ein Ausdruck der Unsicherheit huschte über Finleys Gesicht.

»Sie meinen, dass man nicht weiß, warum sie traurig ist?«

»Ja, das meine ich.«

»So ist es eigentlich nicht«, sagte Finley leise. Er sah John jetzt nicht mehr an.

»Du kanntest also immer den Grund für ihre Traurigkeit?«, insistierte John.

Finley nickte.

»Und du weißt auch, warum sie weggegangen ist?«

Von Finley kam keine Reaktion. Er betrachtete eindringlich seine Stiefel. John konnte erkennen, dass die Adern unter der sehr weißen Haut an den Schläfen leicht zuckten.

»Willst du es mir sagen?«

Finley schüttelte den Kopf.

»Aber vielleicht würde es mir helfen, sie zu finden.«

Finleys Augen irrten nun umher. Er schien auf irgendeine Hilfe zu hoffen, von der er selbst nicht wusste, wie sie aussehen sollte.

»Gab es oft Streit zwischen deinen Eltern?«, fragte John.

Finley sah aus, als wollte er am liebsten weglaufen. John begriff, dass er den Jungen kaum noch eine Minute würde halten können.

Ihm war ein Gedanke gekommen, der Schatten einer Möglichkeit, wie er Liza würde finden können, und dafür brauchte er eine Information, die er nicht bekommen würde, wenn er weiter in den Jungen drang.

Abrupt wechselte er das Thema. »Machst du eigentlich noch etwas außerhalb der Schule?«, fragte er leichthin. »Nachmittags, meine ich. Hast du ein Hobby? Rugby? Ein Instrument vielleicht? Irgendetwas?«

Finley schien überrascht und auch erleichtert. »Am Mittwoch spiele ich Handball. Und am Donnerstag habe ich Klavierstunde.«

»Du spielst Handball? Das finde ich gut. In meiner Freizeit unterrichte ich selbst Kinder im Handball.«

»Echt?« Finley sah ihn bewundernd an.

»Ja. Echt. Bist du gut?«

»Es geht.«

»Ihr spielt hier in der Schule?«

»Ja.«

»Und der Klavierunterricht … findet der auch hier statt?«

»Nein. Bei einer Privatlehrerin. In der Nähe der Hampstead-Tube-Station.«

»Verstehe. Ich nehme an, dass dich früher deine Mutter dorthin gebracht hat, stimmt’s? Und jetzt gehst du allein?«

»Ja. Mein Vater hat wenig Zeit.«

»Alles klar. Finley – danke, dass du mit mir gesprochen hast. Ich hoffe, du erreichst deinen Bus noch.«

»Es ist noch Zeit«, sagte Finley. Er wandte sich zum Gehen.

»Auf Wiedersehen«, murmelte er unsicher.

»Auf Wiedersehen«, sagte John. Er schaute dem Jungen nach. Beim Laufen zog er die Schultern ein wenig nach vorne. Er sah aus wie jemand, der eine unsichtbare Last trägt.

Keinesfalls ein glückliches Kind. Ein gut versorgtes Kind zweifellos, gefördert und unterstützt, und daheim wartete wahrscheinlich ein riesiges, gut bestücktes Spielzimmer auf ihn. Aber er war ein trauriges Kind, das Verlassenheit ausstrahlte.

Es war ein winziger Strohhalm, aber es war die einzige Chance, die John sah: Wenn sich Liza Stanford noch irgendwo in der Nähe aufhielt, würde sie versuchen, wenigstens gelegentlich zu überprüfen, wie es ihrem Sohn ging. Oder sie würde ihn auch einfach nur sehen wollen, um selber die Trennung von ihm auf irgendeine Weise durchhalten zu können. Er hegte die kleine Hoffnung, dass Liza gelegentlich Orte aufsuchen würde, von denen sie wusste, dass Finley dort zu bestimmten Zeiten aufkreuzte, dass sie sich irgendwo dort herumtrieb, um einen Blick auf ihn zu erhaschen. Wenn er Glück hatte, gelang es ihm, sie zu erkennen. Sie entweder ansprechen oder ihr folgen zu können.

Es war eine Chance, mehr nicht. Und es bedeutete, dass er sich abermals ganze Nachmittage würde um die Ohren schlagen müssen. Er hatte Finley nicht nach den Uhrzeiten für seine Hobbys gefragt, um nicht zu auffällig zu werden. Das hieß, er musste jeweils ab dem frühen Nachmittag Stellung beziehen. Zeitraubend – und bei der Kälte alles andere als angenehm.

Er schaute auf seine Uhr. Er überlegte, ob es sich noch lohnte, ins Büro zu fahren und nach dem Rechten zu sehen, entschied dann aber, die Dinge telefonisch zu regeln. Und stattdessen Gillian zu besuchen.

4

Christy McMarrow saß in DI Fielders Büro. Sie hatte ihren Chef noch am Vortag über ihre Gespräche mit Nancy Cox und mit der Sprechstundenhilfe aus Anne Westleys einstiger Praxis informiert, und Fielder selbst hatte daraufhin versuchen wollen, Dr. Westleys Vertraute Phyllis Skinner zu erreichen.

Was ihm gelungen war.

»Ich habe mit Dr. Skinner telefoniert«, sagte er. »Ich hätte sie lieber direkt aufgesucht, aber sie liegt mit einer wirklich heftigen Grippe im Bett und kann niemanden empfangen. Sie erinnert sich an Liza Stanford. Sie beschreibt sie auf ähnliche Weise, wie es die Sprechstundenhilfe Ihnen gegenüber getan hat: protzig, arrogant. Völlig unnahbar. Sie sagt, Anne Westley habe zunächst nie Näheres über sie erzählt, jedoch kurz nach ihrer Pensionierung vor dreieinhalb Jahren einmal abends bei ihr, bei Dr. Skinner, angerufen und gesagt, sie habe ein Problem mit der Mutter eines Patienten. Eines ehemaligen Patienten, genau genommen, da Dr. Westley zu diesem Zeitpunkt bereits seit zwei oder drei Wochen nicht mehr arbeitete. Mit Liza Stanford.«

»Ach!«, sagte Christy und setzte sich aufrechter hin.

Fielder wiegelte mit einer Handbewegung ab. »Führt leider auch nicht sehr weit. Dr. Skinner war an jenem Abend dabei, für ihre Urlaubsreise am nächsten Tag zu packen, und hatte überhaupt keine Zeit. Sie wirkte offenbar so gehetzt, dass Anne Westley das merkte und, noch ehe sie etwaige Einzelheiten auch nur angedeutet hätte, meinte, man könne sich vielleicht nach Skinners Urlaub einmal deswegen treffen. Aber wenige Tage, nachdem Skinner aus dem Urlaub zurückkam, sollte die Einweihung des Hauses in Tunbridge stattfinden, das sich Westley und ihr Mann ausgebaut hatten. Einen Tag vor dem Fest fiel der Mann vom Dach, bekam dann im Krankenhaus die Lungenentzündung und starb. Kurzum: Was immer Anne Westley ihrer Kollegin anvertrauen wollte, es ging völlig unter in den sich überschlagenden und zudem tragischen Ereignissen. Keine der beiden Frauen dachte wohl mehr daran.«

»Das Gespräch wurde auch später nie geführt?«

»Nein. Leider.«

»Verdammter Mist«, sagte Christy inbrünstig.

»Stimmt«, pflichtete Fielder bei. »Aber Jammern hilft uns jetzt nichts. Was sich durch mein Telefonat noch einmal deutlicher für uns darstellt, ist die Tatsache, dass Liza Stanford eine wesentliche Rolle inmitten der ganzen Geschichte zukommt. Die Frau kannte zwei der Mordopfer, und eines der Opfer hatte irgendein Problem mit ihr. Und jetzt ist sie verschwunden. Sie ist in die Fälle verstrickt. Wir wissen nicht genau, weshalb und wie, aber ich wette, sie ist der Schlüssel. Oder zumindest die entscheidende Etappe auf dem Weg, den Schlüssel in die Hände zu bekommen.«

»Das heißt, wir müssen sie unbedingt finden.«

»Ja.«

»Was tun wir? Ihren Mann noch einmal richtig in die Mangel nehmen?«

Fielder nickte langsam. »Der Kerl ist ein verdammt harter Brocken. Gibt sich freundlich und durchaus kooperativ, aber wenn er nichts sagen will, sagt er nichts. Zudem hat er beste Beziehungen.«

»Die er mit Sicherheit nutzen wird.«

»Mit absoluter Sicherheit. Wir müssen vorsichtig sein. Der kommt uns im Handumdrehen mit einer Dienstaufsichtsbeschwerde oder etwas in der Art, und zwar gleich auf höchster Ebene.«

»Trotzdem«, sagte Christy, »ist er im Moment unsere einzige Möglichkeit.«

»Zudem könnten wir nach Liza Stanford offiziell fahnden lassen.«

»Das wird er nicht unwidersprochen hinnehmen.«

»Wohl nicht«, räumte Fielder ein, »zumal wir ja nur ziemlich vage Mutmaßungen anstellen können. Die Grundlage, auf der wir uns bewegen, ist reichlich dünn. Seine Version lautet, dass sich seine Frau wegen ihrer Depressionen von aller Welt zurückgezogen hat, dass sie das öfter tut und dass kein Grund zur Beunruhigung besteht. Das rechtfertigt keine Fahndung.«

Beide schwiegen deprimiert. Schließlich sagte Fielder: »Was ist mit Samson Segal? Gibt es von ihm inzwischen eine Spur?«

»Der ist weiter untergetaucht«, sagte Christy. »Er war ja mein absoluter Lieblingsverdächtiger, aber mittlerweile schwanke ich. Vielleicht ist er wirklich nur ein harmloser Spinner, der im Moment von der Panik getrieben wird, ihm könnte etwas angehängt werden. Er ist ja sozusagen das leibhaftige Gegenstück zu einem Mann wie unserem geschätzten Dr. Stanford: einer, der sich im Zweifelsfall nie zu helfen weiß.«

»Interessant wäre es zu wissen, ob er die Stanford kannte.«

»Er erwähnt sie nicht in seinen Aufzeichnungen.«

»Man kann es dennoch nicht ausschließen. Auch ihn müssten wir dringend ausfindig machen.«

»Und John Burton?«

»Im Auge behalten«, sagte Fielder. Er fügte hinzu: »Ich habe die Ermittlungsakte von damals anfordern lassen.«

»Sir, es kam nicht zu einem Gerichtsverfahren«, wandte Christy ein. Sie hatte den Eindruck gewonnen, dass man ihrem Chef diese Tatsache nicht oft genug in Erinnerung rufen konnte. »Die Anschuldigung war unhaltbar!«

»Trotzdem. Ich will das noch mal durchgehen.«

»Und ich …«

»Und Sie versuchen Ihr Glück bei Stanford. Vielleicht sind Sie ja erfolgreicher bei ihm als ich«, sagte Fielder.

Sie verdrehte die Augen. Sie hatte geahnt, dass Fielder sie auf Stanford hetzen würde – auf den Typen, aus dem nichts herauszubringen war.

»Wird gemacht, Sir«, sagte sie resigniert.

5

Das Erste, was er sah, als er den Weg zum Haus entlangging, war die weit offen stehende Haustür. Angesichts all dessen, was in den letzten Wochen geschehen war, durchfuhr ihn sofort ein eisiges Erschrecken, witterte er eine schreckliche Gefahr und blieb kurz stehen, um sich darüber klar zu werden, wie er nun am besten reagieren sollte. Aber im selben Moment sah er Gillian um die Ecke aus dem nach hinten gelegenen Garten kommen. Sie war offensichtlich nur kurz draußen gewesen, denn sie trug weder Mantel noch Schal, hatte lediglich ihre gefütterten Stiefel übergezogen, um durch den hohen Schnee stapfen zu können. In der Hand hielt sie einen Plastikeimer. Sie zuckte zusammen, als sie den Besucher sah, entspannte sich aber sofort, als sie erkannte, wer er war.

Allerdings wirkte sie nicht besonders erfreut, wie John registrieren musste.

»Hallo, Gillian«, sagte er.

Sie lächelte, eher höflich als herzlich. »Hallo, John.«

Er trat auf sie zu und gab ihr einen Kuss, aber sie drehte den Kopf so, dass er mit seinen Lippen nur ihre Wange streifen konnte.

»Es ist wahrscheinlich unhöflich, einfach ohne Voranmeldung vorbeizukommen«, sagte er, »aber ich war gerade in der Nähe …«

Das stimmte nicht. Dienstags hatte er kein Training, und es hatte absolut keinen Grund gegeben, nach Thorpe Bay hinauszufahren. Keinen – außer den, Gillian zu sehen. Aber zum Glück hakte sie nicht nach.

»Komm doch rein.« Sie trat vor ihm ins Haus und stellte den Eimer neben die Tür. »Ich habe die Vögel gefüttert.«

»Aha.« Er sah sich um. An den Wänden entlang des Flurs stapelten sich Kisten. Zudem waren offenbar Bilder im Eingangsbereich abgehängt worden, denn an den Wänden zeichneten sich deutlich die Ränder ab.

»Was ist denn hier los?«, fragte er.

»Ich habe schon ein paar Sachen verpackt«, sagte Gillian. Sie verschwand in der Küche. »Möchtest du einen Kaffee?«

»Gerne.« Er sah sich noch immer kopfschüttelnd um. Die Anzeichen waren kaum verkennbar: Gillian bereitete ihren Auszug vor.

Er trat in die Küche. Draußen war es schon fast dunkel, trotzdem konnte er durch die Scheibe der Gartentür gerade noch das auf einer hohen Stange befestigte Vogelhäuschen erkennen. Er wandte sich an Gillian, die gerade mit der Kaffeemaschine hantierte. »Warum gehst du nicht zur Küche hinaus, wenn du in den Garten willst?«

Sie hielt inne. »Keine Ahnung«, erwiderte sie, aber dann fügte sie hinzu: »Ich habe ein Problem, die Gartentür offen zu lassen. Selbst wenn es nur ein paar Momente sind … Dort ist der … Mörder hineingekommen. Es ist einfach … es geht einfach nicht.«

»Die Haustür solltest du dann aber auch nicht offen stehen lassen. Das ist etwas irrational!«

Sie schaltete die Kaffeemaschine ein. »Etwas? Alles in meinem Leben ist seit einiger Zeit völlig irrational.«

John trat näher an sie heran. »Gillian! Was ist los? Was bedeutet das … du packst hier alles? Willst du ausziehen?«

»Ja. Ich verkaufe das Haus. Morgen kommt ein Makler.«

»Ist das nicht ein bisschen überstürzt?«

»Soll ich in einem Haus leben und mein Kind großziehen, in dem mein Mann ermordet wurde?«

»Wo willst du denn hinziehen? Wirst du eine Wohnung hier irgendwo mieten?«

»Ich bleibe nicht hier. Ich gehe nach Norwich zurück.«

Völlig entsetzt sah er sie an. »Nach Norwich? Wieso das denn?«

»Dort komme ich her. Dort leben meine Eltern. Als alleinerziehende Mutter, die arbeiten muss, werde ich leider meine Tochter häufig in die Obhut anderer geben müssen. Da sind mir ihre Großeltern lieber als Fremde. Ich brauche in dieser Situation meine Angehörigen, und die sind nun einmal nicht hier.«

»Aber dein Haus ist hier. Becky geht hier zur Schule. Sie hat hier ihre Freunde. Du hast in London eine Firma, von der ihr lebt. Das ist alles hier

»Die Firma werde ich verkaufen. Sie steht gut da, also wird das nicht zu schwierig werden. Zusammen mit dem Geld aus dem Hausverkauf habe ich ein gutes Startkapital. Das gibt mir Zeit, eine Arbeit für mich zu finden. Wird schon irgendwie funktionieren.«

»Du hast alles bereits perfekt geplant«, sagte John fassungslos.

Der Kaffee strömte zischend in die beiden Tassen, die Gillian in der Maschine platziert hatte. Sie füllte sie mit geschäumter Milch auf und stellte sie auf den Tisch. Vorsichtig nahm John den ersten Schluck. Er verbrannte sich trotzdem die Lippen, merkte es aber kaum. Er betrachtete Gillian, die ihm gegenüberlehnte und ihre Tasse musterte, als berge der Cappuccino darin ein faszinierendes Geheimnis. Er hätte geschworen, dass sie noch immer unter Schock stand und dass dies der Grund war für ihre fast geisterhaft bleiche Gesichtsfarbe, die etwas mechanische Art zu sprechen, die unnatürliche Ruhe, die von ihr ausging. Sie hatte ihre Haare nicht gekämmt und wirkte wie jemand, der gerade erst aus dem Bett gekommen war. Völlig ungeschminkt sah sie jünger aus als sonst. Und so verletzlich, dass er sie am liebsten in die Arme genommen und festgehalten hätte, aber er spürte, dass dies das Letzte war, was sie wollte.

»Es muss ja weitergehen«, sagte sie.

»Ja, aber musst du alle Weichen umstellen? Und musst du das vor allem in einer Zeit entscheiden, in der du das kaum mit klarem Kopf tun kannst? Gillian, es sind erst zwei Wochen vergangen, seit du deinen Mann hier gefunden hast. Zwei Wochen! Du kannst das noch nicht verarbeitet haben, du kannst nicht einmal ansatzweise damit begonnen haben. Und schon wirfst du dein ganzes Leben um!«

»Es ist meine Art, mit der Verarbeitung zu beginnen.«

Er kannte sie so nicht. So starr und spröde. Er fühlte sich zunehmend verzweifelt, weil er plötzlich merkte, dass er sie nicht wirklich erreichte. Er konnte sagen, was er wollte, er würde Gillian im Innersten nicht berühren.

Er versuchte es trotzdem. »Ich verstehe, dass du in diesem Haus nicht mehr wohnen möchtest. Da hast du absolut recht. Es birgt zu schlimme Erinnerungen für dich. Aber du kannst doch innerhalb dieser Stadt umziehen. Such dir eine hübsche Wohnung für Becky und dich, aber entwurzel euch beide doch nicht gleich vollständig!«

Sie wirkte plötzlich müde. »John – bitte. Ich möchte nicht diskutieren. Es steht alles fest.«

Er hätte sie am liebsten an den Schultern gepackt und geschüttelt. Es wunderte ihn, dass er sich auf einmal mit so starken Emotionen konfrontiert sah, mit seinen eigenen starken Emotionen. Er kannte das nicht an sich. Er kannte die ganze Situation nicht. Er hatte es kaum je erlebt, dass sich ihm eine Frau entzog, höchstens dann, wenn sie von ihm und vom Verlauf ihrer beider Beziehung enttäuscht war. In diesen Fällen war aber er selbst innerlich bereits auf Abstand gegangen und hatte damit überhaupt erst die Voraussetzung für die Frustration seiner Partnerin geschaffen. Diesmal war es anders. Diesmal hätte er betteln mögen, dass sie nicht fortging.

»Und wenn du zu mir ziehst«, platzte er heraus und verbesserte sich sofort: »Wenn ihr zu mir zieht? Du und Becky? Und natürlich euer Kater?«

Sie blickte überrascht auf. Zumindest das hatte er erreicht – sie war erstaunt.

»Zu dir?«

»Warum nicht? Es ist eine andere Stadt, eine andere Umgebung, also das, wonach du suchst. Und du hättest Unterstützung in der Betreuung von Becky.«

Sie lachte fast. »John! Du bringst es nicht einmal fertig, Möbel in deine Wohnung zu stellen, solche Angst hast du vor jeder Art der Festlegung. Glaubst du im Ernst, du kommst damit zurecht, dass eine Frau, ein Kind und ein Kater bei dir einziehen?«

Er wusste, dass ihre Frage berechtigt war. Und doch wusste er auch, dass seine Antwort vollkommen der Wahrheit entsprach. »Ja. Ich komme mit allem zurecht, wenn du bei mir einziehst.«

Sie schüttelte den Kopf. »John …«

»Bitte. Überleg es dir.«

»Wir kennen einander kaum. Wir sind einmal miteinander ins Bett gegangen. Mehr war nicht.«

Er sah sie geradezu verzweifelt an. Er wusste, dass er mit seinem Vorschlag, sie könne zu ihm ziehen, viel zu schnell, zu überfallartig gewesen war. Ihr Mann war ermordet worden. Gillian konnte das noch kaum richtig begriffen haben. Und er schmiedete gemeinsame Zukunftspläne! Er benahm sich wie ein Trampel, aber er hatte plötzlich Angst … furchtbare Angst, er könnte sie für immer verlieren.

»Wenn du es so siehst«, sagte er, »dann ja – mehr war nicht. Aber seitdem liebe ich dich, Gillian.«

Sie wirkte völlig überfordert. »John, es geht einfach nicht. Versteh das bitte. Als ich Tom mit dir betrogen habe, da habe ich mich doch in Wahrheit einfach nur benommen wie ein kleines Kind. Ein Kind, das um Aufmerksamkeit und Zuwendung und Geborgenheit bettelt, weil es glaubt, anders nicht leben zu können. Und damit habe ich eine furchtbare Tragödie angerichtet. Ich kann doch jetzt nicht einfach weitermachen, als ob nichts geschehen wäre. Verstehst du?«

»Ja. Es ist furchtbar, was mit deinem Mann passiert ist, und ich kann verstehen, dass du dich mit den schrecklichsten Schuldgefühlen herumschlägst. Dass du deine Motive, die dich zu mir geführt haben, analysierst. Vielleicht ziehst du auch durchaus die richtigen Schlüsse, aber … ich glaube trotzdem, dass wir zusammengehören. Und ich weiß, dass ich dich liebe.«

»Ich kann nicht …«, setzte sie an, aber er unterbrach sie:

»Es ist das erste Mal, dass ich das zu einer Frau sage. Es ist das erste Mal, dass ich das für eine Frau empfinde. Bitte, egal was dir jetzt durch den Kopf geht, schlag mir meine Gefühle nicht einfach um die Ohren.«

Sie sahen einander an.

Nach einer Weile sagte Gillian: »Ich will dir nicht wehtun. Aber ich gehe nach Norwich. Zu meiner Familie. Zu dem Rest meiner Familie.«

Scheiße. Verdammt. Okay. Er würde nicht vor ihr auf den Knien herumrutschen.

Überwältigt und völlig frappiert von dem Schmerz, der plötzlich in ihm anschwoll und sich anfühlte, als wolle er sich zur Unerträglichkeit steigern, fragte er dennoch noch einmal: »Gibt es irgendetwas, womit ich dich für mich gewinnen kann?«

Sie wandte den Blick von ihm ab.

»Nein«, sagte sie.