DONNERSTAG, 14. JANUAR

1

Er hatte das dunkelrote Backsteingebäude der Hampstead-Tube-Station seit einer Stunde fest im Blick. Ebenso die Hampstead High Street und die Heathstreet, an deren Gabelung sich der Bahnhof befand. Trotz Kälte und Schnee herrschte reges Leben zwischen den Häusern mit ihren Geschäften, Pubs und Cafés. Es würde nicht einfach sein, zwischen all den hin und her eilenden Passanten den Menschen ausfindig zu machen, den er suchte: eine blonde Frau, die Ausschau nach ihrem Sohn hielt.

Natürlich war er darauf gefasst, dass sie sich tarnte. Wenn sie aus irgendeinem Grund unerkannt bleiben wollte, trug sie wahrscheinlich eine Perücke. Insofern war das Attribut blond nicht das, was er unbedingt erwartete. Auch eine schwarz- oder rothaarige Frau, die hier suchend herumstand, hätte sein Interesse geweckt. Aber er sah überhaupt keine Frau, die herumstand. Die Menschen, die aus dem Bahnhof strömten, und die, die sich die Straßen entlang bewegten, verharrten nicht. Es war kalt und feucht. Jeder blieb in Bewegung.

Wichtig war es nun, Finley auszumachen, wenn er aufkreuzte, und herauszufinden, in welchem Haus er schließlich verschwand. John würde bessere Chancen haben, wenn er nicht länger zwei belebte Straßen im Auge behalten musste, sondern sich auf ein einzelnes Gebäude und dessen Umgebung konzentrieren konnte.

Vielleicht hatte er Glück.

Seinem Logierbesuch, Samson, hatte er nicht erzählt, was er vorhatte. Er hatte ihm morgens erklärt, er werde den ganzen Tag über im Büro bleiben. Samson solle bitte die Wohnung nicht verlassen und niemandem öffnen. Samson hatte ihm das versprochen. Er hatte auf dem Sessel in dem leeren Wohnzimmer gesessen und hinter John hergeblickt.

Lange hält er das bei mir auch nicht aus, hatte John gedacht.

Er trat von einem Fuß auf den anderen, hauchte zwischendurch warmen Atem in seine kalten Hände. Er hatte seine Handschuhe vergessen. Die ganze Geschichte würde wahrscheinlich so ausgehen, dass er zwar Liza Stanford nicht fand, sich dafür aber eine Lungenentzündung zuzog.

Gegen halb fünf, als er bereits überzeugt war, nichts mehr zu entdecken, was ihn weiterbrachte, gewahrte er plötzlich Finley Stanford, der die High Street entlangkam. Er musste weiter vorne aus dem Bus gestiegen sein. Er trug einen Rucksack auf dem Rücken, in dem sich vermutlich die Klaviernoten befanden. Er bewegte sich gemächlich und schien es nicht ausgesprochen eilig zu haben. Das Klavierspielen gehörte ganz offensichtlich nicht gerade zu seinen Leidenschaften.

John war mit einem Schlag hellwach. Frustration, Müdigkeit, Kälte verflogen im Bruchteil einer Sekunde. Jetzt war der Moment gekommen. Wenn Liza Stanford einen Blick auf ihren Sohn werfen wollte, dann wäre es jetzt der günstigste Zeitpunkt. Innerhalb der nächsten ein oder zwei Minuten wäre er in dem Haus seiner Klavierlehrerin verschwunden, und dann bliebe nur noch der Augenblick, wenn er das Haus wieder verließ. Bis dahin würde es aber bereits dunkel sein.

Er sah sich um. Die Straße hoch, die Straße hinunter, hinter sich, über sich. Gab es irgendwo eine Gestalt, die ihm verdächtig vorkam?

Die Frau schien aus dem Nichts aufzutauchen. Das allein machte sie bereits auffällig. John hatte eine Sekunde zuvor genau dorthin geschaut, wo sie jetzt stand, und sie war nicht da gewesen, nicht einmal in der Nähe. Jetzt stand sie dort. Gut hundert Meter entfernt von ihm die Straße hinauf. Sie war dick vermummt, was allerdings bei den meisten Menschen an diesem Tag der Fall war. Etwas seltsam schien nur, dass nicht eine einzige Strähne ihrer Haare zu sehen war. Sie trug eine unförmig wirkende Strickmütze tief ins Gesicht und weit über die Ohren gezogen. Ihre Haare hatte sie vollkommen darunter versteckt.

Am merkwürdigsten aber erschien angesichts der herrschenden Witterung ihre riesige Sonnenbrille. Ein Ungetüm, das fast ihr ganzes Gesicht bedeckte. Dazu der hochgeschlagene Mantelkragen, der über das Kinn hinaufgezogene Schal … Eine Frau, die keinesfalls erkannt werden wollte.

Sie starrte ein Haus an, das auf der ihr gegenüberliegenden Straßenseite lag. Ein Haus mit einer blau gestrichenen Fassade, in dessen Erdgeschoss sich ein Antiquitätenladen befand. Es gab eine schmale Hofeinfahrt direkt neben der Ladentür, und genau in dieser Einfahrt verschwand soeben der kleine Finley Stanford.

Sie schien sich an seiner Gestalt förmlich festzusaugen.

John war sich sicher. Er war sich vollkommen sicher. Er hatte sie. Sein Plan war gut gewesen. Die Sehnsucht einer Mutter. Und die Klavierstunde. Die sicher eine ganz eigene Sache zwischen Mutter und Sohn gewesen war, Lizas Wunsch und Finleys Bereitwilligkeit, ihn ihr zu erfüllen. Die Donnerstagnachmittage hatten ihnen beiden gehört. Sie hatte ihn abgeliefert, hatte ein paar Einkäufe erledigt, war etwas früher zurückgekehrt, um die letzten zehn Minuten zuzuhören. War dann mit ihm vielleicht noch einen Kakao trinken gegangen, oder sie hatten im Sommer ein Eis zusammen gegessen.

John konnte das spüren. Er konnte das an der Haltung der Frau sehen und an der Trauer in ihrem Gesicht, die sich selbst hinter Brille, Schal und Mütze nicht vollständig verstecken ließ.

Er setzte sich in Bewegung.

Entweder war er zu hastig gewesen, zu abrupt, oder Liza Stanford hatte wie alle Fluchttiere einen sechsten Sinn für drohende Gefahren entwickelt. Sie schrak zusammen, schaute sich um und trat dann blitzartig den Rückzug an. Sie war so schnell verschwunden, dass es den Anschein hatte, als sei sie nie da gewesen.

John rannte jetzt. Er war zu unvorsichtig gewesen, zu ruckartig. Diese Frau lebte in der Angst, erkannt und entdeckt zu werden. Sie hielt tausend unsichtbare Antennen in jede Himmelsrichtung um sich herum aufgerichtet. Sie hatte sofort gewusst, dass jemand sie ins Visier genommen hatte.

Er blieb stehen, weil er sie nicht mehr sehen konnte. Es war zum Verrücktwerden. Sie war fast zum Greifen nahe gewesen. Hätte er es ein bisschen geschickter angestellt … Er unterdrückte einen Fluch und den Wunsch, mit dem Fuß gegen die nächste Hauswand zu treten. Er war wütend, vor allem auf sich. Sie war ihm entwischt, und was das Schlimmste daran war: Sie würde sich über Wochen nicht mehr in der Nähe ihres Sohnes blicken lassen. Und wenn sie fast starb vor Sehnsucht. Sie würde das Risiko so rasch nicht mehr eingehen.

Es half ihm nicht, wenn er sich seinem Ärger und seiner Enttäuschung hingab, er musste ruhig bleiben und überlegen. Es gab die Möglichkeit, dass sie mit dem Auto hierhergekommen war, und dann hatte sie es wahrscheinlich in einer der Seitenstraßen geparkt. Was bedeutete, dass sie auf die High Street hinausfahren musste, denn ringsum gab es fast nur Einbahnstraßen. Wenn er sie dabei erkannte, konnte er sich vielleicht an ihre Stoßstange heften.

Es war die einzige kleine Chance, die er noch hatte. Sie konnte genauso gut für einige Stunden in der Vielzahl von Läden und Cafés untertauchen und später von irgendeiner entfernt liegenden Bushaltestelle aus den Heimweg antreten. Falls sie nicht ohnehin zu Fuß ging.

Er lief zu seinem Auto zurück, das er ebenfalls in einer Seitenstraße und noch dazu im Parkverbot abgestellt hatte. Er stieg ein und fuhr, so weit er konnte, nach vorne, um die Straße vor sich genau überblicken zu können. Wenn Liza hier vorbeikam, würde er sofort aufschließen können. Er hoffte nur, dass nicht ausgerechnet jetzt ein anderes Fahrzeug hinter ihm auftauchen würde und abbiegen wollte, denn dann hätte er weiterfahren müssen und nicht länger warten können. Er erntete jede Menge empörter Blicke von Passanten, die die Straße entlangkamen und einen Bogen um ihn herum laufen mussten, was sie gefährlich weit auf die Fahrbahn zwang. Ein Mann schlug wütend auf die Kühlerhaube seines Autos. John zeigte ihm den Mittelfinger.

Angespannt schaute er jedem Auto entgegen, das sich ihm von der linken Seite näherte. Wenigstens schneite es nicht, ein fast schon seltener Moment in diesem Winter. Er lehnte sich weit nach vorn über das Lenkrad, kroch mit den Blicken fast hinein in jedes Auto. Es war die nachmittägliche Hauptverkehrszeit, ein Wagen klebte am anderen. Hektisches Hupen, Bremsen. John wusste, es konnte sich nur noch um Minuten handeln, bis er von seiner Position vertrieben wurde, und dann hatte er ein echtes Problem, weil es nicht möglich war, auf dieser Seite der Straße auch nur anzuhalten.

In diesem Moment sah er sie kommen. Ein kleiner blauer Fiesta, am Steuer die Frau mit der Sonnenbrille und der tief in die Stirn gezogenen Mütze. Sie wirkte völlig auf die Straße und den Verkehr konzentriert. Sehr dicht hinter ihr fuhr ein anderes Auto. Es würde ziemlich waghalsig sein, sich dazwischenzuschieben, und John konnte nur hoffen, dass er nun nicht auch noch einen Unfall verursachte, aber es blieb ihm nichts übrig, er musste alles riskieren. Als die Frau direkt auf seiner Höhe angelangt war, schob er sich bereits so weit nach vorne, dass er die halbe Fahrbahn blockierte, und kaum war das Auto knapp an ihm vorbei, schoss er hinaus. Der Fahrer des nachfolgenden Wagens trat mit aller Kraft in die Bremsen, sodass sein Fahrzeug heftig schlitterte und schleuderte. Der Fahrer hupte wie ein Verrückter, fuchtelte mit den Armen und schrie vermutlich eine ganze Kaskade übler Schimpfworte hinter ihm her. Aber John war auf der Straße, und es hatte keinen Zusammenstoß gegeben. Er konnte beobachten, dass Liza in den Rückspiegel schaute, aufgeschreckt von dem Hupen und den quietschenden Reifen hinter ihr. Er hoffte, dass sie ihn nicht als den Mann erkannte, der sich vorhin plötzlich auf sie zubewegt hatte. Allerdings hätte ihr das nicht viel genutzt, sie hätte kaum irgendwohin flüchten können, eingeklemmt in die sich zäh bewegende Kolonne von Autos im winterlichen Feierabendverkehr.

Er hatte sie. Nach menschlichem Ermessen konnte es ihr nun nicht mehr gelingen, ihn abzuhängen. Dennoch notierte er, während sie an einer Ampel warteten, ihr Autokennzeichen in seinem Notizbuch. Damit hatte er in jedem Fall einen Anhaltspunkt, sollte doch etwas Unvorhergesehenes geschehen.

Er fühlte ein fast kindliches Glück über seinen Erfolg.

Und einen Jagdinstinkt, von dem er gar nicht gewusst hatte, dass es ihn noch in ihm gab.

2

Es schien so, als bemerke Liza Stanford tatsächlich nicht, dass sie verfolgt wurde. Jedenfalls unternahm sie nicht einen einzigen Versuch, Johns Wagen abzuhängen. Kein rasantes Brettern über eine fast schon rote Ampel, kein unvermutetes Abbiegen, ohne zu blinken. Sie schien völlig ruhig zu sein. John vermutete, dass sie ihn zuvor auf der Straße eher instinktiv als bewusst wahrgenommen hatte und dass sie sich inzwischen wegen ihrer überstürzten Flucht ärgerte. Wahrscheinlich fieberte sie den Donnerstagen und dem Blickkontakt mit ihrem Sohn die ganze Woche lang entgegen, und heute hatte sie den Aufenthalt in seiner Nähe radikal abgebrochen. Normalerweise hätte sie vermutlich gewartet, bis er wieder herauskam. Stattdessen befand sie sich auf dem Heimweg und fragte sich, ob das richtig gewesen war.

Sie bewegten sich in Richtung Londoner Süden. Damit in die völlig entgegengesetzte Richtung zu Hampstead, wo Liza Stanfords eigentliches Zuhause lag. Er fragte sich, ob sie wohl ihr Auto auf ihre frühere Adresse zugelassen hatte, vermutete fast, dass es so war. Ein schlauer Schachzug: Sollte sie wegen irgendetwas auffällig werden, das polizeiliche Ermittlungen nach sich zog, würde jeder Beamte wieder nur vor der Haustür ihres Ehemannes landen, der nichts anderes sagen konnte, als dass seine Frau spurlos verschwunden sei. Tatsächlich hatte es den Anschein, als habe sich Liza ein Leben in größtmöglicher Anonymität aufgebaut.

Warum nur? Warum tat eine verheiratete Frau und Mutter eines Kindes so etwas?

Sie erreichten Croydon im Südosten. Hier waren in den vergangenen zwanzig Jahren etliche Hochhaussiedlungen aus dem Boden geschossen, seelenlose Bauten, die natürlich optimale Möglichkeiten zum Verstecken boten. Liza kurvte zwischen einigen Wohnsilos herum, steuerte dann ihren Wagen in eine Parklücke am Straßenrand, die sich urplötzlich zwischen endlosen Reihen parkender Autos aufgetan hatte. John hatte es schwerer. Er musste noch ein ziemliches Stück fahren, ehe er eine Möglichkeit fand, sein Auto abzustellen. So schnell er konnte, hastete er zurück. Zum Glück traf er Liza noch an, als sie vor der gläsernen Eingangstür eines der Hochhäuser stand und in ihrer Handtasche nach dem Schlüssel suchte.

Er trat direkt neben sie.

»Liza Stanford?«

Sie erschrak so sehr, dass ihr die Tasche aus den Händen in den Schnee fiel. Entsetzt blickte sie John an. Er konnte ihre zitternden Lippen sehen und schwach ihre weit aufgerissenen Augen hinter den riesigen Gläsern ihrer Sonnenbrille erkennen.

Er bückte sich, hob die Tasche auf und reichte sie ihr.

»Sie sind doch Liza Stanford?«, fragte er, obwohl er längst wusste, dass sie vor ihm stand. Sie hatte zu deutlich auf den Namen reagiert.

»Wer sind Sie?«, fragte sie zurück. Ihre Stimme klang ein wenig heiser.

»John Burton.«

»Mein Mann hat Sie auf mich angesetzt?«

Er schüttelte den Kopf. »Nein. Mit Ihrem Mann hat das nichts zu tun.«

Sie wirkte verwirrt und verängstigt und vollkommen unschlüssig, was sie nun tun sollte.

»Ich muss mit Ihnen sprechen«, sagte John. »Es ist wichtig. Es liegt mir überhaupt nicht daran, Sie und Ihren Aufenthaltsort irgendjemandem preiszugeben. Aber ich brauche ein paar Informationen.«

Er konnte spüren, dass sie ihm nicht traute, dass sie aber Angst hatte, ihn einfach zum Teufel zu jagen, weil sie damit möglicherweise alles schlimmer gemacht hätte. Sie sah aus, als wolle sie am liebsten davonlaufen, aber sie schien sich der Sinnlosigkeit eines solchen Versuches bewusst zu sein.

»Bitte«, sagte John, »ich brauche wahrscheinlich gar nicht viel Zeit. Es ist wichtig.«

Sie schlug sich offensichtlich noch immer mit der Frage herum, wie er sie hatte finden können.

»Sie waren vorhin auf der Straße«, sagte sie. »Als ich …«

»Ja«, sagte John, »als Sie Ihren Sohn beobachteten. Ich habe mir gedacht, dass Sie kommen würden, deshalb habe ich dort gewartet.«

Sie war kreideweiß im Gesicht. »Haben Sie mit Finley gesprochen?«, fragte sie.

»Ja.«

»Wie geht es ihm?«

»Gut. Aber er vermisst Sie natürlich. Und irgendetwas bedrückt ihn – über die Tatsache hinaus, dass seine Mutter plötzlich verschwunden ist. Dennoch ist er gut versorgt.«

»Gut versorgt«, wiederholte sie. »Ja, das wusste ich. Dass er gut versorgt sein würde.«

Sie rang mit sich, das konnte John sehen. Sie hätte ihm am liebsten ein Loch in den Bauch gefragt, jede kleinste Information über ihren Sohn aus ihm herausgeholt. Aber das hieße, sich auf ihn einzulassen. Und noch immer war sie voller Argwohn, voller Furcht.

Er wagte einen direkten Angriff. »Kennen Sie Dr. Anne Westley? Und Carla Roberts?«

Zum zweiten Mal innerhalb weniger Minuten zuckte sie zusammen. Dann sagte sie: »Kommen Sie. Wir reden miteinander.«

Sie fand ihren Schlüssel und schloss die Haustür auf. Er folgte ihr zum Aufzug und fuhr mit ihr nach oben.

Die Wohnung war mit einfachen, hellen Holzmöbeln eingerichtet und sah ein wenig aus wie eine freundliche, saubere Studentenbehausung. Nichts Besonderes, aber ein Ort, an dem man sich nicht unwohl fühlte. Dennoch gab es Anzeichen dafür, dass die Frau, die hier wohnte, erst vor Kurzem eingezogen war: Der Krimskrams, der sich im Laufe der Zeit in einem Zuhause anzusammeln pflegt, fehlte völlig, und alle Gegenstände sahen zu neu, kaum benutzt oder gar abgewohnt aus. Eine persönliche Note bekam das Wohnzimmer nur durch etwa zwei Dutzend gerahmte Fotografien von Finley. Sie zierten Fensterbänke und Regale. Finley als Baby, Finley als kleiner Junge, Finley, wie er heute aussah. Am Strand, beim Skifahren, im Ruderboot, im Zoo, mit Freunden im Garten. Ganz normale Bilder einer ganz normalen Kindheit.

Und doch war irgendetwas in dieser Familie nicht normal. Ganz und gar nicht.

John wandte sich um, als Liza den Raum betrat. Sie trug ein Tablett mit zwei Kaffeetassen und einem Milchkännchen. Ihrer Maskierung hatte sie sich entledigt. Keine Sonnenbrille mehr, keine Mütze, die alle Haare unter sich verbarg. John sah die schöne Frau, die er von dem Bild in Finleys Geldbeutel her kannte. Große Augen, volle Lippen. Langes, blondes, gewelltes Haar. Sie war noch attraktiver, als er sie sich vorgestellt hatte. Und sie sah noch trauriger aus, als er geahnt hatte.

»Warum?«, fragte er und deutete auf eines der Bilder ihres Sohnes. »Warum tun Sie sich das an? Die Trennung von Ihrem Kind?«

Sie stellte das Tablett auf den hölzernen Esstisch.

»Sie hatten mich nach Anne Westley und Carla Roberts gefragt«, sagte sie. »Nach den beiden ermordeten Frauen. Um die geht es, oder?«

»Ja.«

»Sie sind aber nicht von der Polizei?«

»Nein. Ich bin eine Art … privater Ermittler. In meinem persönlichen Umfeld ist ein Verbrechen geschehen, das mit den Morden an Mrs. Westley und Mrs. Roberts zu tun haben könnte, und nur deshalb mische ich mich in diese ganze Geschichte ein.«

»Ich verstehe«, sagte Liza, obwohl sie eher verwirrt wirkte.

»Kennen Sie eine Familie Ward?«, fragte John. »Thomas und Gillian Ward?«

Sie überlegte. »Nein.«

»Thomas Ward wurde ebenfalls ermordet.«

»Das ist mir entgangen«, sagte sie. »Von Carla und von Dr. Westley habe ich in der Zeitung gelesen. «

»Anne Westley war die Kinderärztin Ihres Sohnes.«

»Ja.«

»Mochten Sie sie? Oder gab es Probleme?«

»Ich mochte sie. Fin mochte sie auch. Sie hatte eine sehr nette Art mit Kindern.«

Er beobachtete sie genau. »Wie war Ihr Verhältnis zu Carla Roberts?«

Sie setzte sich an den Tisch, zog eine der Tassen zu sich heran und bedeutete ihrem Gast mit einem Kopfnicken, ebenfalls Platz zu nehmen.

»Es war kein besonders enges Verhältnis. Ich kann nicht mal sagen, dass wir wirklich befreundet waren. Wir lernten uns in dieser Frauengruppe kennen, über die Sie vermutlich Bescheid wissen?«

Er nickte, setzte sich nun ebenfalls, nahm einen Schluck Kaffee. »Ja.«

»Wir waren beide so etwas wie Außenseiter. Die anderen Frauen plapperten, was das Zeug hielt, redeten über ihre gescheiterten Beziehungen, ihre Zukunft, ihre Pläne, Hoffnungen, Ängste … was weiß ich. Ich bin nicht so ein Mensch. Ich kann nicht gut aus mir herausgehen. Und Carla war ähnlich. Wir saßen eher schweigsam herum.«

»Ist das nicht etwas widersprüchlich? Geht man nicht in solche Gruppen, gerade weil man sich mitteilen möchte?«

»Vielleicht. Ich ging jedenfalls hin, weil ich Hilfe suchte, und dann merkte ich, dass ich sie dort eigentlich nicht finde. Es war einfach ein Versuch. Die meisten Treffen habe ich sowieso ausfallen lassen. Deswegen war man dort etwas ärgerlich. Aber das war mir ziemlich egal.«

»Die Polizei sucht nach Ihnen«, sagte John unvermittelt.

»Die werden mich nicht finden. Es sei denn, Sie verpfeifen mich.«

»Ich habe Sie gefunden. Die könnten auf denselben Gedanken kommen: sich an Ihren Sohn zu heften.«

»Ich werde ihn lange Zeit nicht mehr sehen. Ich bin jetzt gewarnt.«

»Liza«, sagte John eindringlich, »die Polizei ermittelt unter Hochdruck in mittlerweile drei Mordfällen, die mit einer ziemlich hohen Wahrscheinlichkeit demselben Täter zugeordnet werden können. Das größte Problem bestand die ganze Zeit über darin, dass es zwischen allen drei Opfern absolut keine Verbindung zu geben schien. Das führt zu einer völligen Unklarheit über das Motiv des Killers. Sie nun sind der erste Lichtblick seit Wochen: Zwei der Opfer waren mit Ihnen bekannt. Die Polizei wird nicht ruhen, bis sie Sie hat.«

Sie sah ihn ernst an. »Ich habe niemanden umgebracht. Weder Carla Roberts noch Dr. Westley noch sonst jemanden. Ich hatte überhaupt keinen Grund, das zu tun.«

»Die Polizei könnte das anders sehen. Sie kennen zwei Frauen, die auf wirklich grausame Weise umgebracht wurden, persönlich und sind wie vom Erdboden verschluckt. Ihr Mann erzählt etwas von Depressionen, deretwegen Sie angeblich öfters untertauchen. Das nimmt ihm keiner ab. Man hat das Gefühl, dass irgendetwas mit Ihnen nicht stimmt, und das rückt Sie im Zusammenhang mit einer Mordermittlung doch sehr ins Zwielicht.«

»Kann sein. Ich habe trotzdem niemandem ein Haar gekrümmt. Dr. Westley habe ich vier- oder fünfmal gesehen, als ich mit meinem Sohn in der Praxis war. Ich kenne sie überhaupt nicht näher. Und Carla Roberts war eine total neurotische ältere Frau, die einem auf die Nerven gehen konnte, aber das war auch alles. Ich bringe niemanden um, weil er mich nervt, Mr. Burton.«

»Weswegen bringen Sie dann jemanden um?«

»Überhaupt nicht.«

»Weshalb ging Ihnen Carla Roberts auf die Nerven?«

»Ach, sie lamentierte immer so viel wegen ihrer Vergangenheit herum. Ihr Mann hat sie über Jahre betrogen und außerdem die Familie in den wirtschaftlichen Ruin geführt. Sie hatte wohl die Anzeichen dafür nicht bemerkt und erklärte nun ständig, sie könne ihrer eigenen Wahrnehmung nicht mehr trauen. Das war zu einer richtig fixen Idee bei ihr geworden.«

»Mit dem Mann hatte sie aber überhaupt keinen Kontakt mehr?«

»Nein. Der hatte sich komplett abgeseilt. War irgendwo im Ausland untergetaucht. Soweit ich weiß, kann er keinesfalls nach England zurückkommen, weil dann seine Gläubiger über ihn herfallen würden.«

»Carla Roberts hat aber nie erwähnt, dass sie selbst von seinen Gläubigern bedroht wurde?«

»Nein. Bei ihr wäre ja auch wirklich nichts zu holen gewesen.«

John seufzte. Er hatte Liza Stanford gefunden, the missing link, wie er geglaubt hatte. Und nun schien er bereits wieder vor einer Wand zu stehen. Am Ende des Weges, der sich als Sackgasse entpuppte.

»Und Sie selbst? Sie hegten absolut keinen Groll gegen die beiden Frauen? Gegen Westley und Roberts? Aus irgendwelchen Gründen?«

»Nein«, sagte Liza, aber es lag ein winziger, kaum spürbarer Hauch von Unsicherheit für eine Sekunde in ihrem Gesicht und in ihrer Stimme.

John hatte ihn bemerkt.

Da ist etwas. Verdammt, irgendetwas ist da!

»Reiner Zufall das alles? Dass die beiden Frauen ermordet werden und Sie gleichzeitig untertauchen? Ihren Mann verlassen? Ihr Kind alleinlassen? Aber gerade nur bis an das andere Ende von London ziehen? Rein räumlich gesehen waren die Opfer noch durchaus in Ihrer Reichweite.«

Liza bekam schmale Augen. »Fantasieren Sie immer so wild?«

»Von Carla Roberts weiß die Polizei, dass sie ihrem Mörder offenbar arglos auf sein Klingeln hin geöffnet hat. Eine alleinstehende Frau, die im völlig verlassenen oberen Stockwerk eines Hochhauses lebt, reißt sicher nicht für jeden bereitwillig die Tür auf. Aber wenn eine gute Bekannte davor steht, ist das natürlich etwas anderes.«

Liza erhob sich. Sie setzte an, etwas zu sagen, schluckte die Worte aber im letzten Moment hinunter. John wusste trotzdem, was sie hatte sagen wollen: Sie hatte ihn auffordern wollen, sofort zu verschwinden. Und hatte sich gerade noch besonnen. Sie konnte es sich nicht leisten, ihn zu verärgern, er hatte sie in der Hand.

Er konnte die Wut in ihrem Gesicht sehen.

Er stand ebenfalls auf. Ein paar Sekunden lang musterten sie einander schweigend. Dann sagte er: »Warum werfen Sie mich nicht hinaus? Warum haben Sie so entsetzliche Angst, dass ich dann sofort zur Polizei marschiere und Ihr Versteck verrate? Warum, zum Teufel, wenn Sie nichts verbrochen haben, fürchten Sie nichts so sehr wie eine mögliche Entdeckung? Was ist los, Liza? Was ist mit Ihrem Leben los?«

Sie antwortete nicht.

Er versuchte es erneut. »Sie nahmen an einer Selbsthilfegruppe teil, zu der sich alleinstehende Frauen zusammengeschlossen hatten. Frauen, die plötzlich verlassen wurden oder geschieden waren und versuchten, mit der neuen Situation irgendwie umzugehen. Sie haben dort erklärt, zwar noch verheiratet zu sein, sich aber mit Trennungsabsichten zu tragen. Weshalb, Liza? Weshalb wollen Sie so dringend und so unbedingt von Ihrem Mann fort, dass Sie sich jetzt sogar verstecken und offenbar völlig inkognito in einer winzigen Wohnung hier in Croydon hausen?«

Sie schwieg wieder, und er dachte schon, sie werde ihm überhaupt nicht mehr antworten und er müsse gehen, ohne noch ein einziges Wort von ihr gehört zu haben.

Doch gerade als er aufgeben, seinen Autoschlüssel nehmen und sich anschicken wollte, die Wohnung zu verlassen, begann sie zu reden.

»Sie wollen es wirklich wissen? Was mit meinem Leben los ist?« Sie schloss für einen Moment die Augen. »Ich fasse es nicht! Nach all den Jahren will es wirklich jemand wissen

3

Die Villa lag völlig im Dunkeln.

Nicht einmal am Tor brannte eine Lampe oder an dem gewundenen Weg, der zum Haus hinführte. Nur der Schnee machte den Abend ein wenig heller. Die Zweige der Bäume bogen sich unter der Last.

Christy schaute auf ihre Armbanduhr. Es war sechs Uhr. Sie hatte gehofft, entweder Dr. Stanford selbst oder zumindest seinen Sohn daheim anzutreffen, aber niemand hatte auf ihr Läuten reagiert. Die Dunkelheit hinter den Bäumen, die das Haus so hermetisch zur Straße hin abschirmten, wies ebenfalls darauf hin, dass niemand zu Hause war.

Christy überlegte, ob sie zu Stanford in die Kanzlei fahren sollte. Sie fürchtete jedoch, ihn genau damit zu verfehlen.

Aber hier warten? Bei der fürchterlichen Kälte?

Wo war der Junge?

Sie überquerte langsam und unschlüssig die stille, verschneite Straße zu ihrem Auto hin. Als sie gerade aufschließen wollte, wurde sie plötzlich angesprochen.

»Wollten Sie zu den Stanfords?«

Christy drehte sich um. Am Gartentor des Hauses, das dem der Stanfords schräg gegenüberlag, stand eine Frau. Christy schätzte sie auf Anfang siebzig. Sie hatte sich einen Mantel um die Schultern geworfen, den sie an der Brust mit beiden Händen zusammenhielt. Christy trat auf sie zu.

»Ja. Ich müsste dringend mit einem von ihnen sprechen – mit Dr. Stanford oder mit seiner Frau. Aber es scheint niemand da zu sein.«

Die Frau sprach mit gesenkter Stimme. »Mrs. Stanford hat seit vielen Wochen niemand mehr gesehen.«

»Ach nein?« Christy tat überrascht. Vielleicht gewann sie ein paar Informationen. Sie behielt den Umstand, dass sie Polizistin war, für sich, um ihr Gegenüber nicht zu verschrecken. »Seit Wochen, sagen Sie?«

»Seit … warten Sie … Mitte November, würde ich meinen. Da habe ich sie zuletzt gesehen. Sie hat ihren Sohn von der Schule abgeholt. Sie verließ nicht oft das Haus, wissen Sie, aber sie fuhr den Sohn mal dahin und dorthin. Ich habe das von meinem Wohnzimmer aus beobachtet.«

»Vielleicht ist Mrs. Stanford krank und liegt im Bett?«, mutmaßte Christy rasch.

»Ich bitte Sie – krank! Zwei Monate lang? Und ohne dass ein Mal ein Arzt auftaucht und sie besucht? Nein, das glaube ich nicht. Das glaubt auch hier von den Nachbarn niemand.«

»Was glauben Sie denn? Und was glauben die Nachbarn?«, fragte Christy.

Die Frau sprach nun noch etwas leiser. »Das ist ein Drama da drüben!«, zischte sie.

»Tatsächlich?«

»Sie sagen nicht, dass Sie das von mir haben, ja? Ich habe nämlich Angst vor ihm. Alle haben sie hier Angst vor ihm!«

»Sie sprechen von Dr. Stanford?«

»Dem würden Sie ja nichts anmerken. Sehr korrekt, sehr höflich. Sehr ruhig. Man könnte sich im Grunde absolut nicht über ihn beschweren, aber …«

»Ja?«

»Als Nachbar sieht und beobachtet man manches. Niemand hier ist neugierig, aber man kann ja auch nicht immer wegschauen, oder?«

»Natürlich nicht«, stimmte Christy zu.

»Also, Liza Stanford, die war manchmal grauenhaft zugerichtet. Sie trug ja praktisch immer eine riesige Sonnenbrille, auch bei Regen und Dunkelheit, aber ich habe sie manchmal auch gesehen, wenn sie ohne Brille rasch ans Tor kam, um die Post aus dem Briefkasten zu holen. Die hatte oft ein ganz zerschlagenes Gesicht. Zugeschwollene Augen, geplatzte Lippe, blaue Flecken. Aber auch Blutergüsse am Hals oder eine blutverschmierte Nase. Sie sah aus wie nach einem Boxkampf. Und zwar einem, den sie verloren hat.«

Christy hielt den Atem an. »Und Sie meinen …?«

»Ich will über niemanden böse Gerüchte in die Welt setzen«, sagte die Frau. »Aber man kann schließlich eins und eins zusammenzählen, oder? Wer sollte wohl diese Frau regelmäßig so furchtbar zurichten? Es wohnen nur drei Menschen in dieser unheimlichen, dunklen Villa dort drüben: Liza, ihr Sohn und ihr Mann.«

»Ich verstehe«, sagte Christy. »Es sieht tatsächlich so aus, als ob … Aber ich frage mich, weshalb sie dann nie zur Polizei gegangen ist.«

Sie stellte diese Frage mit absichtlich vorgeschobener Naivität. Sie war schon lange in ihrem Job. Sie wusste, dass es tausend Gründe gab, weshalb Frauen in der Situation von Liza Stanford nicht zur Polizei gingen. Oder zu einer Beratungsstelle. Es war sogar so, dass die wenigsten das taten.

»Er hat viel Einfluss, ihr Mann«, sagte die Frau. »Viel Geld, großes Ansehen. Duzt sich mit den meisten wichtigen Politikern hier im Land. Kennt Gott und die Welt. Ist wahrscheinlich auch ein enger Kumpel vom Polizeichef, zumindest würde mich das nicht wundern. Vielleicht sieht Liza ohnehin keine Chance für sich. Und fürchtet, dass sie damit alles noch schlimmer macht.«

»Als Sie sie zuletzt gesehen haben«, sagte Christy, »war sie da auch verletzt?«

Die Frau schüttelte den Kopf. »Zumindest konnte ich es nicht erkennen. Diese Sonnenbrille … die bedeckte ja fast das ganze Gesicht.«

Die riesige Sonnenbrille von Gucci … Christy musste an ihr Gespräch mit der Arzthelferin aus Anne Westleys Praxis denken. Die dunkle Brille, die Liza offenbar auch in geschlossenen Räumen aufbehielt, hatte sie so besonders unnahbar und arrogant erscheinen lassen und ihr die Abneigung anderer Menschen eingebracht. Dabei hatte sie nicht anders gekonnt. An den meisten Tagen ihrer Ehe mit dem hoch angesehenen Dr. Stanford hatte sie ihr Gesicht wahrscheinlich so gut es ging verstecken müssen.

»Und Sie sagen, alle hier haben Angst vor Dr. Stanford?«, vergewisserte sie sich.

Die Frau nickte. »Ist ja kein Wunder. Wirklich, Sie hätten die Frau manchmal sehen müssen. Ein Mann, der so etwas tut, der kann nicht ganz normal sein. Der ist gefährlich. Ich meine, das waren nicht einfach ein paar Ohrfeigen, verstehen Sie? Er muss voller Hass und Brutalität auf sie losgegangen sein. Bei dem Mann stimmt etwas nicht. Er hat auch so starre Augen. Auf mich wirkt er eiskalt, und ich konnte ihn nie leiden, obwohl er mich immer sehr höflich gegrüßt hat.«

»Aber niemand aus der Nachbarschaft hat je versucht, einzugreifen?«

»Wie denn? Sie hätte alles abgestritten, wenn man sie gefragt hätte. Sie hat die Spuren ja immer zu verbergen versucht. Und die Polizei rufen … den Mut hatte niemand. Man hat auch die Situation selbst nie direkt mitbekommen. Das Haus liegt weit zurück, hat den riesigen Garten, ist völlig umstellt von Bäumen. Man hat nichts gehört und gesehen. Wären da Schreie gewesen, Hilferufe, dann hätte man gewusst, die Polizei ertappt ihn jetzt auf frischer Tat. Aber so … Am Schluss hätten sie gar nichts gegen ihn machen können, aber er hätte bestimmt herausgefunden, wer ihn angezeigt hat, und dann …«

»Und dann …?«, fragte Christy, als die Frau nicht weitersprach.

Die andere schien zu fürchten, sich lächerlich zu machen oder überspannt zu wirken. »Sie kennen ihn nicht. Ich hatte einfach Angst.«

»Dem Sohn war nichts anzumerken?«

»Ein stilles und sehr blasses Kind. Zu still und zu blass, meiner Ansicht nach. Ganz sicher kein glückliches Kind.«

»Aber es gab keine Anzeichen dafür, dass er auch misshandelt wurde?«

»Nein. Nie. Irgendwie glaube ich, dass Stanford kein Problem mit Kindern hat. Er hat ein Problem mit Frauen.«

»Auch mit anderen Frauen als mit seiner eigenen?«

»Es ist nur so ein Gefühl … ja. Aber ich kann das nicht begründen.«

Christy dankte für das Gespräch und verabschiedete sich, prägte sich aber den Namen der Frau, der auf einem Klingelschild am Tor stand, und die Hausnummer ein. Vielleicht würden sie noch einmal auf sie zurückkommen müssen.

»Von mir wissen Sie nichts!«, rief die andere ihr noch nach.

Christy stieg ins Auto, wendete und fuhr zurück Richtung Innenstadt. Über die Freisprechanlage rief sie Inspector Fielder an. Wie sie erwartet hatte, saß er noch im Büro.

Sie schilderte ihm ihren vergeblichen Besuch bei der Familie Stanford und das Gespräch mit der Nachbarin.

Von Fielder kam zunächst entgeistertes Schweigen.

»Das ist ja ein Ding«, sagte er schließlich und fügte dann hinzu: »Erschien Ihnen die Nachbarin glaubwürdig? Oder kann es sein, dass sie einfach ziemlich heftig herumspekulierte?«

»So kam sie mir nicht vor. Sie scheint zudem wirklich Angst vor ihm zu haben. Und es passt ja auch irgendwie zusammen. Uns war klar, dass mit dieser Familie etwas nicht stimmt, und die Geschichte mit Lizas Depressionen und ihrem routinemäßigen Untertauchen erschien uns mehr als suspekt. Das Ganze gewinnt plötzlich Konturen.«

»Ja«, sagte Fielder. Er klang besorgt. »Sie meinen …«

»Ich meine, dass sich Liza Stanford entweder vor ihrem Mann irgendwo versteckt hält, weil sie sich in echter Lebensgefahr fühlt. Oder dass sie schon gar nicht mehr lebt. Dass er es ist, der sie hat verschwinden lassen.«

»Wissen Sie, was Sie da sagen?«

»Natürlich weiß ich das. Sir, die Sache stinkt zum Himmel. Ich habe ein Scheißgefühl. Stanford ist ein Mann, den seine ganze Nachbarschaft fürchtet. Der seine Frau regelmäßig übel zurichtet. Die Nachbarin beschrieb im Grunde einen Psychopathen, und sie kam mir keineswegs wie eine Spinnerin vor.«

»Trotzdem sind das alles nur Vermutungen, Christy. Und auch die Behauptung, dass er seine Frau misshandelt, können Sie nur durch das Gespräch mit einer Nachbarin am Gartenzaun stützen. Das ist bislang recht dünn.«

»Was ist daran dünn? Liza ist verschwunden. Zwei Frauen, die sie kannte, sind von einem offensichtlichen Psychopathen ermordet worden!«

»Sie meinen, Stanford … Charity-Stanford, der Mann, der regelmäßig Hunderttausende Pfund für die Ärmsten dieser Erde sammelt … dieser Mann ist dafür verantwortlich?«

»Ich würde das nicht ausschließen. Der Mann tickt nicht richtig. Der hat ein Machtproblem, deswegen peinigt er seine Frau immer wieder auf brutale Weise. Vielleicht hat er in Carla Roberts eine Gefahr gewittert. Vielleicht hat Liza Carla das Desaster ihrer Ehe anvertraut und Carla hat sie bearbeitet: Geh zur Polizei! Zeig ihn an! Wenn du es nicht tust, dann tu ich es! In der Art. Ihm ist das zu Ohren gekommen, und er ist durchgedreht. So, wie er bei seiner Frau offenbar auch regelmäßig durchdreht!«

»Und Dr. Westley?«

»Dr. Westley hat, wie wir wissen, den Versuch unternommen, mit einer Kollegin über Liza Stanford zu sprechen. Weil es ein Problem gab, wie sie es ausdrückte. Sie mag Spuren der Misshandlungen entdeckt haben. Sie war Ärztin, sie hatte einen Blick für so etwas. Oder Liza hat ihr gegenüber etwas angedeutet. Anne Westley wusste nicht genau, was sie tun sollte, und wollte deshalb mit jemandem reden. Der Tod ihres Mannes hat dann alles verdrängt.«

»Aber das war vor über drei Jahren. Sie wurde jetzt erst umgebracht.«

»Weil Stanford vielleicht erst jetzt davon erfahren hat. Liza mag es ihm im Streit an den Kopf geworfen haben. Meine Freundin weiß Bescheid! Und die ehemalige Kinderärztin unseres Sohnes auch! Sie hatte Angst. Er sollte wissen, dass es Menschen gab, denen das Drama bekannt war und die Nachforschungen anstellen würden, wenn ihr etwas Ernsthaftes zustieße. Sie hat sich in dem Moment nicht klargemacht, in welche Gefahr sie die beiden Frauen bringt.«

»Und wie bringen wir Thomas Ward in dieser Theorie unter? Oder Gillian Ward, falls sie gemeint war?«

»Das weiß ich nicht«, musste Christy zugeben, »aber ich bin fast sicher, dass es eine Verbindung gibt. Nur kennen wir sie noch nicht.«

»Wir müssen Liza Stanford finden, es hilft alles nichts«, sagte Fielder nach ein paar Sekunden des Schweigens. »Nach allem, was wir wissen, könnte es Sinn machen, sämtliche Frauenhäuser im ganzen Umkreis abzuklappern. Gut möglich, dass sie in eines geflüchtet ist.«

»Sie kann tot sein. Oder sich in höchster Gefahr befinden. Oder jemand, der ihr hilft, kann in Gefahr schweben!«

Sie konnte Fielder seufzen hören. »Ich weiß, worauf Sie hinauswollen, Christy. Aber nach Lage der Dinge … Das alles reicht nicht für einen Haftbefehl gegen Stanford. Wir haben nichts als Vermutungen und vage Aussagen.«

»Die Aussage der Nachbarin war keineswegs vage«, widersprach Christy und bremste gerade noch vor einer roten Ampel, die sie um ein Haar überfahren hätte. Sie merkte, wie sich eine riesengroße Wut in ihr zusammenzuballen begann, deshalb war sie plötzlich zu schnell und unaufmerksam gefahren. Detective Inspector Fielder wand sich wie ein Lämmerschwanz vor Unbehagen, und sie wusste genau, warum er das tat. Stanfords Einfluss. Seine Beziehungen und Seilschaften. Erfolgreicher Anwalt, guter Freund der Politiker. Mitglied in den einflussreichsten Clubs der Stadt. Und was hatte die Nachbarin gesagt? Ist wahrscheinlich ein enger Kumpel des Polizeichefs. Genau das fürchtete Fielder auch, darauf hätte Christy gewettet. Er sah seine Karriere und jede weitere Beförderung in der Ferne am Horizont verschwinden, wenn er jetzt einen Schritt tat, unter dem das Eis später nicht halten würde.

Verdammt! Sie hätte am liebsten mit der Faust auf das Lenkrad geschlagen. Sie hasste diese Typen. Die sich eine Position schufen, die sie scheinbar unangreifbar für Recht, Gesetz und Ordnung machte. Die sich hinter ihrem vielen Geld, ihrem Erfolg und ihren einflussreichen Kontakten verbarrikadierten und munter ihre ganze widerliche Perversion auslebten. In der Gewissheit, dass ihnen nichts und niemand etwas anhaben konnte.

Damit kommst du bei mir nicht durch, Stanford, verlass dich drauf!

»Wir werden unsere Bemühungen, Mrs. Stanford zu finden, verstärken«, sagte Fielder förmlich. »Bevor ich nicht ihre Aussage habe, unternehme ich nichts gegen ihren Mann.«

»Und wenn er sie vor uns findet?«

»Er sucht sie doch gar nicht.«

»Sagt er. Glauben Sie dem denn irgendein Wort? Der hat Geld genug, fünf Killerkommandos auf sie anzusetzen. Sie ist eine Gefahr für ihn. Er muss sie finden!«

»Steigern Sie sich in nichts hinein, Sergeant. Wir wissen nicht, ob er seine Frau sucht oder nach ihr suchen lässt. Wir wissen nicht, ob er für die Ermordung von Roberts und Westley verantwortlich ist, ganz zu schweigen von dem Tod Thomas Wards. Wir wissen nicht einmal sicher, ob er seine Frau misshandelt hat. Wir wissen nichts! Für eine derart nebulöse Geschichte lehne ich mich nicht so weit aus dem Fenster, tut mir leid.«

Christy tat etwas, was sie sich ihrem Chef gegenüber noch nie erlaubt hatte: Ohne einen Kommentar oder einen Gruß schaltete sie das Handy aus. Schaltete es komplett aus, sodass er sie auch nicht hätte zurückrufen können. Was er, wie sie vermutete, allerdings auch kaum versuchen würde: Er war sicherlich heilfroh, sie erst einmal los zu sein.

Mit quietschenden Reifen wendete sie ihr Auto. Eigentlich hatte sie noch einmal ins Büro gewollt. Jetzt beschloss sie, heimzufahren und sich in die Badewanne zu legen.

Und eine schöne Flasche Rotwein zu öffnen.