FREITAG, 15. JANUAR
1
Es war fast halb eins in der Nacht, als er sich verabschiedete. Sie stand am Fenster, blickte hinunter und sah ihn im Schein der Laternen die Straße entlanggehen. Sie hätte sich gewünscht, er wäre noch geblieben, aber sie hatte nicht gewagt, ihn darum zu bitten. Sie hatte sich sicherer gefühlt in seiner Nähe. John Burton war jemand, der sich nicht einschüchtern oder verunsichern ließ, und er war in der Lage, sich seiner Haut zu wehren.
Trotzdem wusste sie nicht, ob sie ihm trauen konnte. Bis zuletzt hatte sie seine Rolle in dem ganzen Spiel nicht völlig begriffen – in diesem Spiel, das alles andere als ein Spiel war. Er hatte sich einen privaten Ermittler genannt, aber sie hatte gespürt, dass sie über diese Information hinaus nichts aus ihm würde herausbekommen können. Er sagte genau so viel, wie er sagen wollte. Mit Sicherheit nicht einen halben Satz mehr.
Vielleicht ging er schnurstracks zur Polizei und verriet ihren Aufenthaltsort. Vielleicht glaubte er sogar, ihr damit zu helfen.
Obwohl er eigentlich nicht naiv wirkte.
Er war verschwunden, und sie wandte sich vom Fenster ab, zog die Vorhänge zu. Die Wohnung kam ihr nicht mehr wie ein Versteck vor, das Gefühl, einen Rückzugsort gefunden zu haben, der sie vor der Welt schützte, hatte sich von einem Augenblick zum anderen aufgelöst. John Burton hatte sie gefunden. Das bedeutete, jeder konnte sie finden.
Sie musste sich so rasch wie möglich eine andere Bleibe suchen.
Sie setzte sich an ihren Esstisch, schenkte sich noch einen Kaffee ein. Sie hatte mehrere Kannen gekocht, den ganzen langen Abend über, während sie John Burton, diesem wildfremden Mann, die Geschichte ihres Martyriums erzählt hatte. Die psychischen Erniedrigungen, mit denen es angefangen hatte. Die Zwanghaftigkeit, mit der er sie kontrolliert hatte. Die Jahre, in denen es noch nicht zu Tätlichkeiten gekommen war, in denen sie aber zunehmend das Gefühl gehabt hatte, nicht mehr atmen zu können. In denen sie über jeden Schritt, jeden Handgriff, geradezu über jeden Gedanken hatte Rechenschaft ablegen müssen.
»Es gab nichts, was ich entscheiden durfte. Nicht unsere Möbel, nicht unsere Vorhänge, nicht unsere Teppiche oder die Bilder an den Wänden. Nicht das Geschirr, von dem wir aßen, nicht die Blumen, die wir im Garten pflanzten. Nicht die Bücher, die in den Regalen standen. Nicht die Kleider, die ich trug, nicht meine Unterwäsche, nicht meine Kosmetik, nicht meinen Schmuck. Nicht unsere Autos. Nichts. Absolut nichts. Er ist perfektionistisch, krankhaft, und alles, wirklich alles, muss in sein Bild des perfekten Hauses, des perfekten Gartens, der perfekten Ehefrau, des perfekten Lebens passen.«
Er hatte ihr die Frage gestellt, die zwangsläufig kommen musste: »Weshalb haben Sie ihn nicht verlassen?«
Und sie hatte leise geantwortet: »Männer wie er tun vor allem eines, noch vor allem anderen, und sie tun es fast unmerklich: Sie rauben ihren Opfern jedes Selbstvertrauen. Sie zerstören die Seelen. Plötzlich hat man nicht mehr die Kraft zu gehen. Man glaubt nicht mehr an sich. Man glaubt nicht mehr, dass man irgendetwas im Leben bewältigen kann. Man hält sich an seinem eigenen Peiniger fest, weil er einen zunächst zerstört und einem danach überzeugend eingeredet hat, dass man ohne ihn nicht existieren kann.«
John hatte genickt. Sie war dankbar, dass er nicht mit irgendeiner Plattitüde reagierte in der Art: Aber eine attraktive Frau wie Sie hätte doch sofort wieder jemanden gefunden.
Sie hatte den Eindruck, dass er verstand, was ihr Mann aus ihrer Seele gemacht hatte.
»Wann«, fragte John schließlich, »fing er an, Sie zu schlagen?« Er schien zu wissen, dass es irgendwann dazu gekommen war. Er kannte die Abläufe.
Sie wusste es noch genau. »Nachdem Fin auf der Welt war. Er kam nicht damit zurecht, dass es nun noch einen anderen Menschen für mich gab. Mein Kind. Ein Kind zu haben gibt Kraft. Ich fühlte mich stärker, als Finley geboren wurde. Ich denke nicht, dass ich mich in meinem Verhalten verändert habe, aber vielleicht strahlte ich es aus … etwas mehr innere Ruhe, Glück. Die Liebe zu diesem kleinen Geschöpf. Er konnte mich mit seiner sadistischen Art, mit seinen Kontrollen, seinen Angriffen, seinen Kränkungen nicht mehr bis in die Tiefe meiner Seele hinein treffen. Mit Fin baute ich eine Art inneren Schutzschirm um mich herum. Das muss meinen Mann rasend gemacht haben. Er hatte nicht mehr die totale Kontrolle über mich. Für ihn war das unerträglich.«
Sie schilderte, wie schwierig es geworden war, ihre Verletzungen zu verbergen. Immer die große Sonnenbrille, wenn sie wieder einmal ein violett unterlaufenes Auge hatte. Eine aufgeplatzte Lippe bedeutete, tagelang das Haus nicht verlassen zu können. Manchmal hatte sie über Wochen verbarrikadiert gelebt.
Sie konnte spüren, dass John Burton wütend war. Nicht auf sie. Aber auf Männer wie ihren. Auf psychologische Abläufe und Gesetzmäßigkeiten, die Frauen wie sie in eine Situation völliger Hilflosigkeit brachten.
Sie hatte das Bedürfnis, ihm die ganze Komplexität des Phänomens zu schildern – zu erklären, weshalb sie wie paralysiert in diesem Albtraum verharrt hatte.
»Ich hatte Angst. Am allermeisten davor, Fin zu verlieren. Mein Mann ist mächtig und einflussreich. Ich habe es immer für möglich gehalten, dass ich am Ende den Kürzeren ziehe, auch dann, wenn ich schwer verletzt zur Polizei schwanke und ihn anzeige. Er hätte sich da herausgewunden. Wissen Sie, ich war früher wegen Depressionen in Behandlung. Er hätte es hinbekommen, dass man mich für verrückt erklärt. Dass irgendjemand den Nachweis erbracht hätte, dass ich mir alle Wunden selbst zugefügt habe. Ich wäre in der geschlossenen Psychiatrie gelandet. Ich hätte mein Kind nie wiedergesehen.«
»Das ist nicht so einfach«, meinte John. »Man kann nachweisen, ob sich jemand selbst verletzt hat oder ob das durch eine andere Person passiert ist. Ich glaube nicht, dass er Sie in die Psychiatrie hätte bringen können.«
Sie zuckte mit den Schultern. »Er hat es immer angedroht. Er hat mich angebrüllt. Du bist wahnsinnig! Ich bringe dich in die Anstalt! Und du kommst nie wieder raus! Ich hätte es nicht riskiert. Ich hatte nur noch Angst.«
Um ihre Angst zu beweisen, hatte sie schließlich vor ihm, diesem Fremden, ihren Pullover ausgezogen. Sie trug ein tief ausgeschnittenes Top darunter. Sie hatte gehört, wie er nach Luft schnappte, als er die schlecht vernarbten Schnittwunden unterhalb ihres Halses sah, an ihren Armen, an den Schultern.
»Er fing an, mit einem Messer auf mich loszugehen«, flüsterte sie.
»Großer Gott, Liza!« Burton stand auf und ging auf sie zu, zog sie in seine Arme, und sie blieben minutenlang so stehen. Sie war sich seiner Kraft, seiner Ruhe bewusst – so als habe sie Sicherheit gefunden, einen Hafen, einen Ort zum Ausruhen.
Bis sie sich selbst zur Ordnung rief: Trau keinem Mann!
Sie hatte sich von ihm gelöst und sich wieder angezogen, und er hatte versprochen: »Ich helfe Ihnen, Liza. Glauben Sie mir, ich werde Ihnen helfen.«
»Sie können mir nicht helfen. Sie können gegen ihn nichts ausrichten.«
»Er hat es geschafft, dass Sie ihn für allmächtig halten, und ich kann das nachvollziehen. Aber er ist es nicht. Er ist ein ganz normaler Mensch. Und auch für ihn gelten Gesetze.«
»Er bringt mich um, wenn er mich noch einmal in die Finger bekommt.«
»Das wird er nicht. Er wird ins Gefängnis wandern.«
Sie hatte höhnisch gelacht. »Und Sie glauben, von dort aus kann er niemanden organisieren, der es mir heimzahlt?«
»Wollen Sie ihn ungeschoren davonkommen lassen? Und sich für den Rest Ihres Lebens verstecken?«
»Vielleicht bleibt mir keine andere Wahl.«
»Ihr Sohn …«
Zorn funkelte in ihren Augen, weil sie einen Vorwurf in seiner Stimme zu hören glaubte. »Jetzt sagen Sie mir nicht, ich hätte ihn nicht verlassen dürfen! Sagen Sie mir das nicht! Sie haben absolut keine Ahnung von meiner Situation! Wie hätte ich Fin mitnehmen sollen? Ein Kind, das in die Schule gehen, ein halbwegs normales Leben führen muss? Logan hätte mich doch sofort wieder gehabt. Ich kann mit einem zwölfjährigen Jungen nicht komplett untertauchen, das ist einfach unmöglich. Ich weiß, dass Fin es bei ihm gut hat. Er würde ihm nie ein Haar krümmen. Er hat das auch nie getan. Er ist, so verrückt das klingt, ein liebevoller Vater. Mehr als das: Er vergöttert den Jungen. Ich konnte nichts anderes tun. Fin hat sein gewohntes Umfeld, sein Zuhause, seine Schule, seine Freunde. Das ist besser für ihn, als wenn er mit mir auf der Flucht leben müsste. Glauben Sie mir, die Trennung von ihm macht mich fast wahnsinnig. Ich stehe das nur durch, weil ich sicher weiß, dass es für ihn das Beste ist. Und weil ich versuche, ihn ab und zu zu sehen. So wie heute. Wie riskant das war, weiß ich jetzt. Es hätte auch mein Mann sein können, der dort auf mich lauert.«
»Finley vermisst Sie.«
Krampfhaft drängte sie die Tränen zurück. »Ja. Ja, denken Sie, das weiß ich nicht? Denken Sie, es quält mich nicht? Ich könnte sterben darüber. Aber ich weiß trotzdem, dass es ihm besser geht als früher. Und anders als wenn mein Mann die Trennung herbeigeführt und mich in eine geschlossene Anstalt gebracht hätte, fühle ich die Freiheit, die Situation jederzeit zu beenden. Wenn ich es nicht mehr aushalte, ohne Fin zu leben, dann gehe ich zurück. Trotz allem, was mich erwartet.«
»Ihr Mann hat nie gefürchtet, dass sich Finley jemandem anvertraut? Einem Lehrer? Einem Klassenkameraden oder dessen Eltern?«
»Mein Mann weiß nicht, was Furcht ist. Zumindest weiß er nicht, wie sie sich anfühlt. Er weiß nur, wie man sie verbreitet. Er hat Fin genauso paralysiert wie mich. Wir wussten beide immer, dass alles schlimmer wird, wenn wir irgendjemandem etwas sagen. Mein Mann musste uns nicht einmal ausdrücklich verbieten, mit jemandem über all das zu sprechen. Wir hätten es nie getan. Für uns ging es nur darum, das alles irgendwie auszuhalten. Und zu überleben.«
Sie trank ihren Kaffee, starrte an die gegenüberliegende Wand, wo Finleys große Augen aus vielen gerahmten Bildern zu ihr hinüberblickten. Sie fragte sich, ob Burton wirklich begriffen hatte. Mit einem gefährlichen Psychopathen zu leben veränderte alles, den gesamten Blick auf die Welt, aber auch das Gefühl für Sicherheit und Stabilität, das es einmal gegeben haben mochte. Irgendwann vor langen Jahren, in einem anderen Leben, an das sie sich nur noch schwer zu erinnern vermochte, hatte auch sie an diese Garanten des beschützten Daseins geglaubt: Recht und Gesetz, Gerechtigkeit, Solidarität. Der Boden unter ihren Füßen schien stabil gewesen zu sein, und sie hatte sich in der Gesellschaft, in der sie aufgewachsen war, sicher gefühlt.
Dann hatte sie gelernt, dass all dies ein Trugschluss war. Es gab keine Sicherheit. Es gab keinen Schutz, keine Gerechtigkeit, keine Solidarität. Es gab das Recht des Stärkeren, mehr nicht. Die Welt war ein Ort des Grauens, nur oberflächlich in der Balance gehalten durch ein dünn gewobenes Netz fadenscheiniger Sicherheitssysteme. Wer durch die Maschen rutschte, fiel ins Bodenlose, und das taten weit mehr Menschen, als sie es je geahnt hatte. Verstanden hatte sie es erst, nachdem sie selbst im freien Fall abgestürzt war. Als nichts und niemand da war, sie zu halten.
Burton hatte noch einmal nach Carla und Anne gefragt.
Carla Roberts und Anne Westley.
Noch jetzt, allein in der Wohnung, im flackernden Schein der Kerzen an den Wänden und in der Angst, diesen Zufluchtsort, der ihr trotz allem vertraut geworden war in den letzten acht Wochen, wieder zu verlieren, musste sie lächeln, bitter und resigniert.
Carla und Anne waren ihre beiden Versuche gewesen, Hilfe zu finden. Beide Versuche waren gescheitert. Beide Frauen hatten versagt.
»Ihren Mann störte es nicht, dass Sie zu dieser Frauengruppe gingen?«, hatte Burton wissen wollen.
Sie hatte den Kopf geschüttelt. »Er wusste nicht, dass sich dort Frauen trafen, die geschieden waren oder getrennt lebten. Ich hatte ihm etwas von Esoterik erzählt, was er idiotisch fand, was ihn aber nicht beunruhigte. Das Ganze war natürlich höchst riskant. Er hätte jederzeit Nachforschungen anstellen können. Er tat es nicht. Er war beruflich sehr überlastet in der Zeit. Er wurde nachlässig, was meine Überwachung anging.«
»Sie vertrauten sich Carla Roberts an?«
»Nicht in allen Details. Sie redete sowieso ständig nur über sich und ihr Schicksal und sah in mir die geduldige Zuhörerin. Aber eines Tages trafen wir uns außerhalb der Gruppe bei ihr zu Hause. Ich trug wieder einmal meine Sonnenbrille, und nachdem Carla eine halbe Stunde lang gejammert und geklagt hatte, hielt sie plötzlich inne, sah mich an und fragte: Wieso trägst du eigentlich ständig diese Sonnenbrille?
Es war ein regnerischer, trüber, dunkler Tag. Normalerweise erzählte ich in derlei Situationen immer etwas von meinen überempfindlichen Augen, meinen Allergien oder einer Bindehautentzündung. Aber auf einmal … ich weiß gar nicht, warum … Ich nahm jedenfalls einfach die Brille ab und sagte: Darum!
Ich sah übel aus. Das rechte Auge war fast völlig zugeschwollen und dunkelviolett unterlaufen. Kein schöner Anblick.«
»Wie reagierte Carla?«, fragte John.
»Total entgeistert. Die brave Carla, die dachte, das Äußerste, was ein Mann einer Frau antun könnte, bestünde darin, ein Verhältnis mit der Sekretärin anzufangen und anschließend den Familienbetrieb in die Pleite zu reiten. Nun bekam sie einen Eindruck davon, was sonst noch so in der Welt geschah. Sie war ziemlich fassungslos.«
»Stellte sie Fragen? Riet sie Ihnen, Ihren Mann anzuzeigen?«
»Sie stellte Fragen, ja. Ich habe ihr nicht das ganze Ausmaß meines Martyriums erzählt, aber ich sagte, dass mein Mann jähzornig sei und seine Probleme mit mir vorzugsweise mit den Fäusten löse. Sie war entsetzt, aber … was soll ich sagen? Etwa eine Viertelstunde später kreiste sie bereits wieder um ihre eigenen Themen. Ihr treuloser Mann. Die Tochter, die sich nicht genügend kümmert. Die Firmenpleite. Ihre Einsamkeit. Sie war so. Kein schlechter Mensch, aber sie vermochte niemanden außer sich selbst zu sehen. Im Grunde konnte sie kaum eine Sekunde lang von sich abstrahieren. Wahrscheinlich kam sie dagegen einfach nicht an.«
»Hat sie Sie je wieder darauf angesprochen? Oder irgendeine Art von Hilfe angeboten?«
»Nein. Wir sahen uns aber auch kaum noch. Die Gruppe löste sich auf, und meine persönliche Lage spitzte sich zu. Ich konnte kaum mehr soziale Kontakte wahrnehmen. Ich hatte Angst zu sterben. Ich mochte mich nicht mehr mit Carla treffen und mir ihr Gequengel anhören.«
»Und an Dr. Westley hatten Sie sich schon früher gewandt?«
Sie hatte ihm die Situation Westley geschildert, und er hatte begriffen, weshalb ihre Antwort auf seine Frage, ob sie einen Groll gegen Carla und Anne hegte, unsicher geklungen hatte. Nein, Groll hätte sie es nicht genannt. Aber beide Frauen hatten sie im Stich gelassen. Dessen war sie sich sehr wohl bewusst.
Dann fragte er: »Ahnte Ihr Mann, dass es außerhalb der Familie zwei Menschen gab, die ihm gefährlich werden konnten? Weil sie wussten, was sich bei Ihnen daheim abspielte?«
Sie überlegte. »Ich habe es ihm nicht gesagt. Aber natürlich könnte er es herausgefunden haben.«
»Wie?«
»Keine Ahnung. Aber ich traue ihm eine Menge zu, verstehen Sie? Es mag sein, dass er es wusste.«
»Und der Name Ward sagt Ihnen wirklich gar nichts? Thomas und Gillian Ward.«
»Nein. Tut mir leid. Nie gehört.«
Dann hatte er sich verabschiedet. Er hatte noch einmal versprochen, er werde ihr helfen. Sie fragte sich, wie er das anstellen wollte.
»Gibt es noch irgendetwas, das ich wissen müsste?«, hatte er in der Wohnungstür gefragt, und als sie verneinte, nachgehakt:
»Sicher? Sie haben mir alles gesagt, was in dieser Geschichte erheblich sein könnte?«
»Ja.«
Er hatte ihr seine Karte dagelassen. Falls ihr noch etwas einfiele. Oder sie Hilfe bräuchte. Er wusste nicht, dass sie längst beschlossen hatte, kein Risiko einzugehen. Vielleicht zählte John Burton zu den Guten, aber sie hatte gelernt, Männer als potenzielle Feinde zu sehen, als Täter. Es erschien ihr sicherer, keine Ausnahmen zu machen.
Sie würde untertauchen. Weiter fort gehen. Für Monate auf jeden Kontakt mit Finley verzichten, auch wenn ihr darüber das Herz brach.
Sie hatte Burton nicht alles gesagt. Aber konnte er das erwarten? Sie kannte ihn nicht. Er war ein völlig Fremder für sie.
Außerdem hatte er nach allem gefragt, was in dieser Geschichte erheblich sein könnte.
Sie wusste nicht, ob das, was sie für sich behielt, erheblich war.
Wahrscheinlich nicht.
2
Er konnte die Situation vor sich sehen. Liza hatte sie geschildert, mit ruhiger Stimme. Fast emotionslos.
Die mütterlich wirkende, kompetente, freundliche Kinderärztin. Dr. Anne Westley. Die Frau, die so gut mit Kindern umzugehen verstand. Die aber auch wusste, wie man Eltern beruhigte und ihnen die Angst nahm.
Und Liza Stanford. Sie hatte eine tiefe Platzwunde an der Schläfe, Folge des Faustschlags, den sie am Vorabend kassiert und der sie gegen die Kante eines Schrankes geschleudert hatte. Das Abendessen hatte ihrem Mann nicht geschmeckt. Irish Stew ohne Karotten. Sie hatte keine Karotten im Haus gehabt, und es war keine Zeit mehr gewesen, welche zu kaufen. Er hatte aber ausdrücklich Irish Stew verlangt, und zu Irish Stew gehörten nun einmal Karotten. Sie hatte gehofft, er werde es nicht merken.
Natürlich hatte er es gemerkt.
Eigentlich hätte sie am darauffolgenden Tag nicht freiwillig das Haus verlassen. Die Wunde blutete immer wieder, wollte sich nicht stillen lassen. Aber dann kam Finley aus der Schule und erzählte, dass er im Sportunterricht unglücklich gestürzt sei. Er hatte sich mit seiner rechten Hand abgefangen und zunächst kaum Schmerzen gespürt. Im Laufe des Nachmittags schwoll die Hand jedoch an, die Schmerzen wurden schlimmer. Liza hoffte, die ganze Geschichte werde irgendwie von selbst in Ordnung kommen, aber Finley jammerte immer mehr und schließlich sah sie keine andere Möglichkeit, als einen Arzt aufzusuchen. Sie klebte ein großes Pflaster über ihre Wunde, kämmte ihre Haare so weit es ging nach vorn, um das Malheur notdürftig zu verdecken, und setzte ihre Sonnenbrille auf. Sie wäre lieber in irgendeine Unfallklinik gegangen, in der man sie nicht kannte, aber Finley, inzwischen sehr verstört, verlangte nach seiner vertrauten Kinderärztin und war den Tränen nahe.
So landeten sie bei Dr. Anne Westley, am späten Nachmittag, und wurden trotz des vollen Wartezimmers gleich drangenommen, da es sich um einen Notfall zu handeln schien.
Die Hand war tatsächlich schwer verstaucht. Finley bekam einen Stützverband, dann setzte sich Anne Westley hinter ihren Schreibtisch, um ihm ein Rezept für ein Schmerzmittel auszustellen. Liza saß ihr gegenüber, Finley hatte sich in eine Ecke zurückgezogen und spielte mit ein paar Plastikfiguren aus der Sesamstraße, die ihn immer sehr faszinierten.
Anne riss das Rezept von ihrem Block und wollte es über den Tisch reichen, hielt aber inne. »Was haben Sie denn da?«, fragte sie.
Instinktiv zupfte Liza sofort ihre Haare nach vorne. Dabei berührte sie eine warme Flüssigkeit an ihrer Schläfe und an ihren Wangen.
Oh nein, dachte sie entsetzt.
»Sie bluten«, sagte Anne, »warten Sie, lassen Sie mich mal sehen!«
Sie kam um ihren Schreibtisch herum, obwohl Liza protestierte. »Es ist nichts … schon gut … kein Problem …«
Das Pflaster war völlig durchweicht. Bevor sie zu Hause weggegangen waren, schien die Wunde gerade einigermaßen zur Ruhe gekommen zu sein. Aus irgendeinem Grund war sie erneut aufgebrochen.
Anne beugte sich über Liza, nahm ihr vorsichtig die Sonnenbrille ab. Das linke Auge hatte auch etwas abbekommen, war aber noch nicht so schillernd verfärbt, wie es das bereits einen Tag später sein würde. Dennoch war das Lid gerötet und geschwollen und die zarte, sich langsam ausbreitende grüne Verfärbung nicht zu übersehen und kaum mit einem ungeschickt aufgetragenen Lidschatten zu verwechseln. Liza hörte, wie Anne scharf die Luft einzog. Dann entfernte sie mit einem geschickten Griff das Pflaster.
»Liebe Güte«, sagte sie, »das sieht aber böse aus! Waren Sie damit beim Arzt?«
»Nein«, sagte Liza. »Es hatte vorhin aufgehört zu bluten, und da dachte ich, das kommt von allein in Ordnung.«
»Die Wunde sieht aus, als habe sie sich entzündet. Ich würde Ihnen gern eine antibiotische Salbe verschreiben. Außerdem muss das besser verbunden werden. Ein Pflaster wird nicht halten. Ich habe ein Spray, das die Blutung stoppt.«
»Ja, gut«, sagte Liza steif. Sie wagte nicht, die Ärztin anzuschauen.
Anne lehnte sich gegen die Schreibtischkante.
»Wie ist das denn geschehen?«, fragte sie. Sie klang gleichmütig – betont gleichmütig.
Liza wusste, dass sie mit dem abgegriffensten aller Klischees reagierte, aber tatsächlich fiel ihr in dieser Sekunde nichts anderes ein.
»Die Treppe in unserem Haus. Das ist mir schon ein paar Mal passiert. Die Stufen sind sehr steil, und ich bin oft so ein Tollpatsch.« Sie lachte künstlich. Ihre Verletzung tat schrecklich weh, sobald sie das Gesicht verzog. »Ich bin ziemlich ungeschickt. Und an dem Geländer unten ist so eine holzgeschnitzte Verzierung, da bin ich mit dem Gesicht draufgeknallt. Ich kann von Glück sagen, dass ich nicht ein Auge dabei verloren habe. Blöd, so etwas. Ich muss wirklich lernen, vorsichtiger zu sein, aber schon früher in der Schule im Sportunterricht war ich immer …«
Sie verstummte.
Ich rede zu viel, dachte sie.
»Mrs. Stanford«, sagte Anne, die noch immer vor ihr an den Tisch gelehnt stand, »schauen Sie mich bitte an.«
Zögernd hob Liza den Blick. Sie fühlte sich nackt und schutzlos ohne die vertraute riesige, tiefdunkle Brille. Sie musste grauenhaft aussehen.
»Mrs. Stanford, ich will mich in nichts einmischen, was mich nichts angeht. Aber ich möchte Ihnen sagen, dass Sie … man kann in jeder Situation Hilfe finden. Manchmal glaubt man, die eigene Lage sei völlig aussichtslos. Aber das ist sie nicht. Es gibt immer einen Weg.«
Liza sah der grauhaarigen Frau direkt in die Augen. Sie erkannte ihre Betroffenheit und ihr Erschrecken.
Sie weiß es. Sie weiß ganz genau, was passiert ist.
Sie schwieg, blickte dann wieder zur Seite.
»Ich werde mich jetzt um Ihre Verletzung kümmern«, sagte Anne nach einer Weile. Sie klang resigniert. »Ist das in Ordnung für Sie?«
Liza nickte.
Sie ließ sich verarzten, während Finley weiter in seiner Ecke spielte, ohne ein einziges Mal aufzuschauen. Es entging ihr nicht, dass Anne auch dem Kind immer wieder besorgte Blicke zuwarf. Sie war offensichtlich irritiert, dass Finley nicht reagierte, als seiner Mutter das Blut vom Gesicht gewaschen und ein Kopfverband angelegt wurde. Liza fragte sich, ob Anne Westley die Schlüsse daraus zog, die sich unweigerlich aufdrängten: Dass Finley seine Mutter in verletztem Zustand nur zu gut kannte und dass er gelernt hatte, sich innerlich völlig abzuschotten, weil er es sonst nicht ertragen hätte.
Anne Westley hatte nichts mehr gesagt. Aber als Liza schließlich die Praxis verließ, dachte sie: Vielleicht meldet sie sich noch mal. Vielleicht bietet sie mir ihre Unterstützung an. Sie weiß es jetzt, und sie war ziemlich entsetzt.
Sie wusste nicht, ob sie die Vorstellung einer nun hartnäckig insistierenden Kinderärztin erschreckte oder hoffnungsvoll stimmte. Wahrscheinlich war beides der Fall. Sie hatte Angst, alles könnte schlimmer werden, wenn sich irgendjemand einmischte. Doch zugleich war da auch die Gewissheit, dass es nicht ewig so weitergehen konnte, dass sie aber aus eigener Kraft die entscheidenden Schritte nicht würde gehen können. Ab und zu in den folgenden Tagen gab sie sich der Vorstellung hin, ein anderer würde sich ihres Falles annehmen und die Dinge – bei denen es sich im Grunde nur darum handeln konnte, dass irgendjemand, aber keinesfalls sie selbst, Anzeige gegen ihren Mann erstattete – ins Laufen bringen. Der Gedanke erfüllte sie abwechselnd mit Hoffnung und mit Panik. Sie durchlief eine Achterbahn der Gefühle, bis sie irgendwann begriff, dass nichts geschehen würde. Sie hörte nichts mehr von Dr. Westley.
»Und dann war das abgehakt«, hatte sie zu John gesagt, »innerlich abgehakt. Von Anne Westley würde keine Hilfe kommen.«
John gingen tausend Gedanken durch den Kopf, während er durch die nächtliche Stadt fuhr und sich immer wieder vergewissern musste, dass er keine Geschwindigkeitsbeschränkung überschritt. Er war aufgewühlt, und es drängten sich ihm, während er nachdachte, viel zu viele bestürzende Möglichkeiten auf.
Eine war die: Er hatte Dr. Stanford im Verdacht gehabt. Aber konnte es auch sein, dass er Liza selbst in Erwägung ziehen musste?
Diese Frau war durch die Hölle gegangen. Der Dreckskerl, mit dem sie verheiratet war, hatte einen Sadismus an ihr ausgetobt, der John erschütterte, und er war als ehemaliger Polizist viel gewohnt und nicht leicht aus der Fassung zu bringen. Der Mann war krank, keine Frage. Aber war er ein Mörder?
Wie sehr hatte es Liza verbittert, von den beiden Frauen, die Bescheid wussten, keinerlei Hilfe zu erhalten? Hatte sie gerade von Geschlechtsgenossinnen erhöhte Solidarität erwartet und nicht verstehen können, warum ihr diese verweigert wurde? Sie hatte ohne Gefühlsregung davon erzählt. Sie hatte sogar abgestritten, auch nur einen Groll gegen die Frauen zu hegen. Ihre Stimme war gleichförmig ruhig gewesen, als sie davon sprach, ohne Höhen und Tiefen. John Burton erinnerte sich an Verhöre, da hatte sein Gegenüber genauso geklungen. Und sich später als Mörder oder skrupelloser Betrüger entpuppt.
Eines stand fest: Sowohl Carla Roberts als auch Anne Westley hätten Liza bereitwillig die Tür geöffnet und sie eingelassen.
War Liza untergetaucht, um einen Rachefeldzug zu starten?
Er schlug auf das Lenkrad. Verflucht, er verstrickte sich immer tiefer in den Fall. Erst Samson. Nun Liza. Beide wurden von der Polizei gesucht. Beide waren verdächtig. Von beiden kannte er den Aufenthaltsort.
Längst hätte er mit allem, was er wusste, zur Polizei gehen müssen. Er machte sich strafbar. Er lief sehenden Auges in eine Katastrophe.
Er war todmüde und zugleich vibrierend vor Adrenalin. Er kannte diese Mischung von früher, hatte sich ihr vor allem während langwieriger Observationen ausgesetzt gesehen. Erschlagen vor Erschöpfung, gequält von der Anstrengung, die brennenden Augen viel zu lange offen halten zu müssen. Und zugleich die Gefahr witternd, die jede Sekunde akut werden konnte und die jede Faser im Körper wach und angespannt sein ließ. So ähnlich, stellte er sich vor, musste es sein, wenn man auf Drogen war.
Er bog in die Straße, in der er wohnte, schaute sofort zu den Fenstern seiner Wohnung hinauf. Erleichtert registrierte er die Dunkelheit, die dahinter herrschte. Samson Segal hatte sich offenbar schlafen gelegt, Gott sei Dank. Er hatte nicht die geringste Lust auf ein nächtliches Gespräch mit ihm.
Er parkte das Auto, stapfte durch den Schnee, schloss die Haustür auf, schlich schwankend vor Müdigkeit nach oben. Als er in der Wohnung angekommen war, spähte er in das Wohnzimmer. Schattenhaft konnte er die Umrisse von Samsons Körper erkennen. Er lag zusammengerollt in seinem Schlafsack auf der Isomatte und atmete ruhig. Zum Glück war er nicht aufgewacht.
John verschwand in sein Schlafzimmer, streifte seine Kleider vom Leib und ließ sie einfach auf dem Fußboden liegen. Als er auf seine Matratze fiel, überkam ihn die Erinnerung an Gillian jäh und schmerzhaft. Er hatte die Bettwäsche nicht gewechselt, seitdem sie bei ihm gewesen war, und er bildete sich ein, sie noch immer riechen zu können.
Er grub das Gesicht in das Kissen. Er musste sich diese Frau aus dem Herzen reißen, unter allen Umständen. Er wollte nicht leiden und trauern und hoffnungslosen Gedanken hinterherhängen.
Gleich morgen würde er das Bett neu beziehen.
Er hatte kaum diesen Plan gefasst, da schlief er auch schon ein.
3
»Ich mache es«, sagte Gillian. Sie und Tara saßen einander gegenüber in der Küche und frühstückten. Jenseits der Fenster herrschte noch tiefste Dunkelheit. »Ich werde mir irgendwo ein Zimmer nehmen und erst einmal untertauchen.«
Sie hatte die ganze Nacht wach gelegen und nachgedacht. Sie fühlte sich in Taras Wohnung sicher, aber ihr war klar, dass dieses Gefühl täuschen konnte, und vor allen Dingen begriff sie, dass sie die Freundin nicht in Gefahr bringen durfte. Es war rücksichtslos, sich in ihrer Lage bei irgendjemandem einzuquartieren und darauf zu vertrauen, es werde schon nichts passieren. Ebenso fatal konnte es sein, in ihr eigenes Haus zurückzukehren. Noch immer wusste sie nicht, ob tatsächlich jemand dort gewesen war. Tara hatte recht, es war idiotisch von ihr gewesen, nicht sofort die Polizei zu rufen. Wenigstens wäre dann vermutlich geklärt worden, ob sie sich etwas eingebildet hatte oder nicht. So tappte sie völlig im Dunkeln.
Nicht mehr zu ändern, hatte sie irgendwann gedacht, während sie sich schlaflos auf der Couch herumwälzte, aber wenigstens von jetzt an sollte ich vernünftig agieren.
»Bist du sicher?«, fragte Tara zurück. Sie sah noch sehr schläfrig aus. Es war halb sieben in der Frühe.
»Ich bin sicher. Solange wir nicht wissen, ob es nicht wirklich jemand auf mich abgesehen hat, und solange wir auch den Grund für das alles nicht kennen, sollten wir nichts riskieren. Nicht mein Leben und auch nicht deines. Es ist einfach besser, wenn ich von der Bildfläche verschwinde.«
»Ich denke, dass du bald zurückkommen kannst. Die Polizei ermittelt unter Hochdruck. Sie werden den Typen finden.«
»Ich werde mich mit meiner Zukunft beschäftigen«, sagte Gillian. »Ich nehme meinen Laptop mit. Über das Internet werde ich mich auf Job- und Wohnungssuche in Norwich machen. Hier wird alles seinen Gang gehen. Dem Makler schicke ich einen Haustürschlüssel, dann kann er schon mit den Besichtigungen anfangen. Sollte ich plötzlich nach Norwich müssen, wegen eines Vorstellungsgespräches etwa, fahre ich einfach schnell hinüber. Kein Problem.«
»Das klingt gut«, sagte Tara. »Hör zu, ich muss jetzt leider ins Büro, aber es ist Freitag, ich kann heute früher Schluss machen. Ich würde vorschlagen, dass ich dich heute Nachmittag nach Thorpe Bay fahre, damit du alles einpacken kannst, was du brauchst. Von dort startest du dann mit deinem Auto.«
Gillian protestierte. »Das kann ich nicht annehmen, Tara. Du hast so viel zu tun. Lass mich die Bahn nehmen.«
Tara schüttelte den Kopf. »Dann bist du eine halbe Ewigkeit unterwegs. Ich kann dich wirklich fahren. Es ist kein Problem.«
Sie trank den letzten Schluck Kaffee und stand auf. »Du wartest hier auf mich?«
»Alles klar. Danke«, sagte Gillian.
Sie hoffte, dass sie die richtige Entscheidung getroffen hatte.
4
John wachte auf, weil er bis in den Schlaf hinein gespürt hatte, dass sich plötzlich jemand in seinem Zimmer befand. Er schreckte hoch, setzte sich auf und blickte in das lächelnde Gesicht von Samson Segal.
»Habe ich Sie geweckt?«, fragte Samson besorgt.
John verkniff sich die gereizte Antwort, dass genau dies ja wohl seine Absicht gewesen sei, denn weshalb sonst sollte er in seinem Schlafzimmer herumschleichen?
»Schon in Ordnung. Wie spät ist es denn?«, fragte er.
»Gleich acht Uhr.«
»Oh verdammt«, sagte John, »ich müsste schon im Büro sein.« Er betrachtete seine Weckuhr, die neben der Matratze auf dem Fußboden stand. Vor lauter Müdigkeit musste er in der Nacht vergessen haben, sie einzuschalten. Das war ihm tatsächlich noch nie vorher passiert.
»Ist ganz schön spät gestern bei Ihnen geworden«, sagte Samson. »Bis halb zehn habe ich gewartet, aber dann …«
»Es war ein langer Abend«, sagte John. Er stand auf, blickte zum Fenster. Der Tag war angebrochen. Die Wohnung roch nach frischem Kaffee.
»Ich habe Frühstück gemacht«, erklärte Samson. »Ich war sogar schon weg und habe ein Päckchen Toastbrot gekauft.«
»Sie sollen doch in der Wohnung bleiben!«
»Aber dann hätten wir absolut nichts zum Essen gehabt. Schon gestern Abend …« Er schwieg verlegen.
John fuhr sich mit den Händen durch seine wirren Haare. »Tut mir leid. Daran hätte ich denken sollen. Ich komme gleich zum Frühstück.«
Er verschwand im Bad, duschte heiß und ausgiebig, entschied, dass er aufs Rasieren verzichten konnte, zog Jeans und Pullover an und ging in die Küche. Samson hatte, da es auch hier keinen Tisch gab, Teller, Tassen, Brotkorb und den Toaster auf die Arbeitsfläche gestellt und einen alten Barhocker herangeschoben. Er schenkte Kaffee ein und wies auf den Hocker. »Setzen Sie sich. Ich frühstücke im Stehen.«
»Ich auch«, sagte John, »also können Sie sich setzen.«
Samson blieb stehen, stellte aber seine Kaffeetasse auf dem Barhocker ab.
Letztlich wäre ein Tisch irgendwann einmal keine schlechte Investition, dachte John.
Er zerbrach sich den Kopf, ob und inwieweit er Samson informieren wollte. Grundsätzlich sprach er nie gern mit anderen über seine Gedankengänge, ehe er nicht für sich selbst zu einem befriedigenden Ergebnis gekommen war, das war schon so gewesen, als er noch bei der Polizei gearbeitet hatte. Andererseits hielt er Samson nicht für dumm, und zudem hatte er über Monate die Familie Ward beobachtet. Es konnte sein, dass ihm noch ein entscheidendes Detail einfiel, wenn John ihn einweihte.
»Sagt Ihnen der Name Stanford etwas?«, fragte er. »Dr. Logan Stanford?«
Samson überlegte. »Stanford … ist das nicht dieser Anwalt? Der so unglaublich viel Geld hat und andauernd irgendwelche Wohltätigkeitsveranstaltungen organisiert? Er steht ziemlich oft in der Zeitung. Kurz vor Weihnachten hat er bei uns draußen in Thorpe Bay auch irgendetwas angeleiert … im Golfclub, ich glaube, eine Tombola oder so etwas.«
Interessant. Immerhin schon eine Verbindung: Stanford hatte sich in Thorpe Bay aufgehalten. In nächster Nähe von Gillians Haus.
»Persönlich kennen Sie ihn aber nicht?«
Samson lachte. »Nein. Einer wie der würde mich doch gar nicht wahrnehmen! In diesen Kreisen verkehre ich nicht.«
John beschloss, zumindest einige Details seines Ermittlungsstandes weiterzugeben. »Seine Frau, Liza Stanford, hatte Kontakt zu den beiden ermordeten Frauen. Zu Carla Roberts und Anne Westley.«
»Ja? Woher wissen Sie das?«
»Egal. Ich weiß es. Und es wäre wichtig zu wissen, ob sie oder auch ihr Mann ebenfalls Kontakt zu Gillian Ward hatten.«
»Fragen Sie sie doch!«
»Ich habe Liza Stanford gefragt. Sie behauptet, den Namen Ward noch nie gehört zu haben. Sie wissen da nicht zufällig etwas?«
»Leider nein«, sagte Samson verwirrt, »ich nehme an, Sie möchten wissen, ob ich Dr. Stanford einmal bei den Wards gesehen habe? Nein, habe ich nicht. Ich meine, ich kenne sein Gesicht nur aus der Zeitung, aber er wäre mir nicht entgangen, denke ich. Und wie seine Frau aussieht, weiß ich überhaupt nicht.«
»Sehr attraktiv. Groß, schlank. Lange blonde Haare. Trägt immer eine große Sonnenbrille. Sie ist eine Frau, die auffällt.«
»Nein«, sagte Samson. »Tut mir leid. Gillian bekam überhaupt selten Besuch. Eigentlich nur von ihrer besten Freundin. Und gelegentlich kamen Mütter, die Klassenkameradinnen von Becky vorbeibrachten oder abholten. Sonst niemand.«
»Verstehe«, sagte John resigniert. Das deckte sich mit dem, was Kate ihm berichtet hatte: Gillian hatte der Polizei gegenüber erklärt, Liza Stanford nicht zu kennen. Fielder und seine Leute durchforsteten nun das berufliche Umfeld Thomas Wards und nahmen sich seinen Tennisclub vor. Er glaubte nicht, dass die Lösung so einfach sein würde, Stanford im selben Tennisclub oder in Wards Klientenkartei zu finden. Das wäre so schnell gegangen, dass Kate es bei ihrem Gespräch bereits gewusst hätte. Eine Verbindung würde viel komplizierter herzustellen sein – wenn es sie überhaupt gab.
Charity-Stanford ein brutaler Mörder. Es fiel John nicht allzu schwer, sich das vorzustellen, nachdem er nun wusste, wie der vornehme Herr seine Gattin zuzurichten pflegte, wenn ihm etwas gegen den Strich ging, aber trotzdem blieben jede Menge Ungereimtheiten. Kate hatte berichtet, dass sowohl Carla als auch Anne möglicherweise wochenlang auf subtile Weise terrorisiert und eingeschüchtert worden waren. Carla hatte offen von seltsamen Vorkommnissen berichtet, bei Anne legte die Interpretation ihres letzten Bildes eine derartige Vermutung nahe. Dass Stanford über einen längeren Zeitraum hinweg jeden Tag ein Hochhaus aufsuchte und dort im Fahrstuhl auf und ab fuhr, um einer alleinstehenden Frau Angst einzujagen, war fast nicht vorstellbar. Es passte nicht zu ihm, und er hätte auch kaum die Zeit dafür aufbringen können. Ebenso wenig würde er nachts im Wald herumkurven, um die Kinderärztin seines Sohnes zu erschrecken. Wenn Stanford die beiden Frauen ermordet hatte, dann hatte er dafür ein einziges Motiv: Sie wussten zu viel, und deshalb mussten sie zum Schweigen gebracht werden. Das ließ sich schnell erledigen – ohne das ganze Brimborium, das sich offenbar ringsum abgespielt hatte. Auch erschien John die besonders grausame Methode, mit der die Frauen qualvoll erstickt worden waren, äußerst seltsam. Dieser Hass … Tat das ein Mann, dem es nur darum ging, eine Gefahr auszuschalten? Andererseits war Stanford ein Sadist. Krank und perfide.
Liza … Sie hatte zweifellos Gründe, Carla und Anne zu hassen und die Rache auszukosten. Er konnte sich diese geschundene, verängstigte und verzweifelte Frau allerdings nur schwer in dieser Rolle vorstellen, aber er wusste, dass er die Möglichkeit nicht ausklammern durfte. Gerade weil Liza sehr schön war und weil sie, wie er deutlich spürte, in besonderem Maße seinen Beschützerinstinkt weckte, musste er aufpassen, sich davon nicht beeinflussen zu lassen.
»Hat Mrs. Stanford etwas mit den Verbrechen zu tun?«, fragte Samson.
»Ich weiß es nicht.« John spielte mit der Toastscheibe, die auf seinem Teller lag. Auch er hatte seit gestern Mittag nichts mehr gegessen, aber das erste Gefühl von Hunger, das er noch beim Aufstehen gespürt hatte, war schon wieder verflogen. Die Sache schlug ihm zunehmend auf den Magen.
Zudem kam ihm ein weiterer Gedanke, während er das Frühstück betrachtete, das Samson gemacht hatte: Wovon lebte Liza eigentlich? Sie musste die Wohnungsmiete bezahlen, sie musste essen und trinken. Das Auto schluckte Benzin. Abgesehen davon musste die Wohnung auch auf einen überprüfbaren Namen gemietet worden sein, und ihren eigenen konnte sie kaum verwendet haben. Vermieter ließen sich Papiere zeigen. Wie hatte sie dieses Problem gelöst?
Es war am Vorabend so viel auf ihn eingestürmt, dass er nicht auf diese naheliegenden Fragen gekommen war. Wenn er Stanford richtig einschätzte, hatte der seine Konten längst sperren lassen. Unwahrscheinlich also, dass sich Liza mit ihrer EC-Karte bedienen konnte, ganz abgesehen davon, dass auch das gefährlich gewesen wäre und Rückschlüsse auf ihren Aufenthaltsort zugelassen hätte.
Und das führte zu der nächsten Frage: Wer unterstützte Liza Stanford?
Verflixt noch mal, daran hätte er einfach früher denken müssen.
»Sie sind völlig in Gedanken versunken«, sagte Samson.
Er nickte zerstreut. Lag hier die völlig verrückte, aber denkbare Verbindung? Steckten Gillian oder ihr Mann dahinter? Gillian hätte das der Polizei gegenüber nicht preisgegeben, da sie damit Liza in Gefahr brachte. Waren die Wards darüber in das Visier des Mörders geraten – der dann wieder nur Logan Stanford heißen konnte?
Und warum erst jetzt? Anne Westley stellte seit drei Jahren eine Gefahr dar. Vielleicht hatte Stanford erst vor Kurzem von ihr erfahren, auf welchen Wegen auch immer. Und erst jetzt hatte sich die Situation schließlich zugespitzt. Liza war untergetaucht. Stanford könnte das Gefühl bekommen haben, dass die Dinge außer Kontrolle gerieten.
Er hatte zu dem Mittel gegriffen, das er kannte: Gewalt.
»Glauben Sie, dass Sie der Lösung des Falles näher gerückt sind?«, fragte Samson schüchtern.
John antwortete wahrheitsgemäß: »Das kann ich nicht sagen. In gewisser Weise ja, aber noch scheint alles nur immer verworrener zu werden. Ich durchdringe die Sache noch nicht.«
»Sie sind meine einzige Hoffnung«, sagte Samson rasch. Er bekam rote Flecken auf den Wangen vor Aufregung. »Bitte, bleiben Sie dran. Sie sind vielleicht der Einzige, der mich entlasten kann.«
»Die Polizei macht es sich auch nicht leicht, Samson. Die wollen auch nicht den Falschen verhaften.«
»Aber denen traue ich nicht. Bitte«, er sah John beschwörend an, »helfen Sie mir. Ich halte das alles nicht mehr aus. Ich bin entwurzelt und verzweifelt. Ich möchte in mein Leben zurück. Nur das. Einfach in mein Leben zurück.«
John verbiss es sich zu sagen, dass Samsons Leben in seinen Augen wenig Anreiz darstellte, unbedingt dorthin zurückkehren zu wollen. Er kannte keine Details, aber was er wusste, klang nicht verlockend: ein Mann, der bei seinem Bruder und der Schwägerin wohnte, arbeitslos war und dem höchst eigenwilligen Hobby nachging, das Leben anderer Menschen auszuspionieren und sich eine gewisse Befriedigung offenbar über die Identifikation mit fremden Lebensläufen zu verschaffen. Die eigene Schwägerin hatte in seinem PC gestöbert und seine Aufzeichnungen eigenhändig zur Polizei gebracht, um ihn ans Messer zu liefern. Allzu harmonisch schien es in der Familie Segal nicht zuzugehen.
Dennoch: Es war Samsons Leben. Und selbst wenn er unglücklich war darin, so war es das Leben, das er kannte. Mit dem er gelernt hatte, umzugehen. In dem er sich irgendwie zurechtfand und das ihm vertraut war.
Verglichen mit dem Dasein eines Mannes, der auf der Flucht vor der Polizei lebte und keine Ahnung hatte, wann dieser Zustand enden würde, erschien es als Paradies.
»Ich tue, was ich kann, Samson«, versprach er. »Sie können sicher sein, dass …«
In diesem Moment klingelte das Telefon.
John entschuldigte sich, verließ die Küche. Das tragbare Gerät lag im Wohnzimmer auf einem Bücherstapel. Die Nummer im Display kam ihm bekannt vor, aber er vermochte sie nicht sofort zuzuordnen.
»Hier ist Kate Linville«, sagte eine weibliche Stimme am anderen Ende.
»Oh … hallo, Kate.« Deshalb war ihm die Nummer vertraut erschienen. Er wunderte sich, dass sie anrief. An jenem Abend an der Haltestelle Charing Cross hatte er geglaubt, er werde nie wieder etwas von ihr hören.
»Wie geht es dir?«, fragte sie förmlich.
»Danke. Gut. Und dir?« Was will sie?, fragte er sich.
»Auch gut. John, ich hatte mir eigentlich vorgenommen, mich für dich keineswegs mehr auf Abwege zu begeben. Das Ganze ist zu riskant, und letztlich kann ich dabei nur verlieren.«
»Ich habe dir versprochen, dass ich dich niemals und unter keinen Umständen als Informantin preisgeben werde. Darauf kannst du dich verlassen. Ich weiß, dass ich einen schlechten Ruf habe, aber ich habe noch nie mein Wort gebrochen.«
»Das wollte ich auch nicht unterstellen. Dennoch, ein Risiko ist immer dabei.«
»Klar. Bei allem, was wir tun im Leben.«
Kate zögerte, dann fuhr sie fort: »Ich weiß auch nicht, warum ich es für nötig halte, dich zu warnen, aber … na ja, du bist mir nicht völlig gleichgültig.«
»Mich warnen?«
»Vielleicht steckt nicht viel dahinter. Aber Fielder hat sich deine Ermittlungsakte geben lassen. Ich weiß das, weil ich sie bei der Staatsanwaltschaft für ihn anfordern musste.«
»Die Akte von damals?«
»Wie viele Akten hast du? Ich meine die wegen Vergewaltigung«, sagte Kate süffisant.
»Verstehe. Er klammert mich also noch immer nicht ganz aus.« Es war nicht so, dass John diese Information vollkommen überrascht hätte. Fielder konnte ihn nicht leiden, und überdies war er in dem Fall, den er gerade bearbeitete, ziemlich ins Schwimmen geraten. Wie er wusste, war Stanford längst auf dem Radar der Ermittler, aber da er Fielder kannte, war ihm klar, dass genau dieser Umstand den Detective Inspector gewaltig in die Bredouille brachte: Wenn er sich mit Stanford anlegte und am Ende stellte sich heraus, dass dies ein Fehler gewesen war, hatte er von da an mit Störungen im Verlauf seiner weiteren Karriere zu rechnen. Wenn er eine Karriere dann überhaupt noch anpeilen konnte. Fielder war alles andere als risikofreudig. Ihm ging der Arsch auf Grundeis, und er hätte sicher etwas dafür gegeben, nun in aller Schnelle einen anderen Täter präsentieren zu können – ehe er in Sachen Stanford aktiv werden musste.
»Alles klar«, sagte er, »danke, Kate, dass du mir das sagst. Fielder rudert – von mir aus. Die Sache damals kam nicht vor Gericht. Er wird daraus nichts konstruieren können.«
»Ja«, sagte Kate, »ich wollte dich nur auf dem Laufenden halten. Übrigens konnte ich auf dem Aktendeckel sehen, dass du im Moment offenbar sehr begehrt bist. Fielder ist innerhalb kürzester Zeit schon der Zweite, der sie haben wollte.«
Auf dem Deckel einer Ermittlungsakte wurde jeweils notiert, wer sie zur Einsicht angefordert hatte und an welchem Datum sie ausgehändigt worden war.
»Ehrlich? Wer denn noch?«
»Es gab noch eine Anforderung von … warte mal, wie war der Name …?«
Er hörte es rascheln, Kate blätterte in irgendwelchen Notizen herum. Er überlegte. Stanford vermutlich, er hätte es sich denken können. Er hatte sich natürlich sein Autokennzeichen notiert, wusste über seine Identität Bescheid, hatte sofort Nachforschungen anstellen lassen und war auf jene leidige Geschichte gestoßen. Als Anwalt mit hervorragenden Kontakten konnte er sicher eine Möglichkeit konstruieren, die ihm Akteneinsicht erlaubte.
Er musste äußerst schnell gehandelt haben.
»Lass mich raten. Rechtsanwalt Dr. Logan Stanford.«
»Nein«, sagte Kate, »es war eine Frau. Und zwar selbst eine von der Staatsanwaltschaft. Moment, hier habe ich es … Tara Caine. Staatsanwältin.«
»Tara …!« Nun schnappte er nach Luft. Gillians beste Freundin.
»Das gibt’s doch nicht!«, rief er.
Ein paar Puzzleteile fügten sich zusammen. Gillians plötzliche völlige Ablehnung seiner Person. Ihr Wunsch, nach Norwich zurückzugehen. Der komplette Rückzug von ihm. Sie hatte sich mit Tara gestritten, nachdem sie der Freundin Details über seine Vergangenheit anvertraut hatte. Sie war sogar bei ihr ausgezogen. Aber offenbar hatte dies Tara nicht entmutigt. Sie hatte weiter gegen ihn gehetzt. Hatte sich seine Ermittlungsakte beschafft, hatte sie akribisch studiert, hatte versucht, belastende Momente zu finden, die sie ihrer Freundin mit Sicherheit genüsslich schilderte. Und war damit am Ende erfolgreich gewesen. Gillian hatte die Nerven verloren. Hatte die beginnende Beziehung hingeschmissen und sich abgeseilt, so weit sie konnte. John vermochte sich Taras Argumentation nur zu gut vorzustellen: Du hast ein Kind! Du hast eine Tochter an der Schwelle zur Pubertät. Willst du dich mit einem Mann zusammentun, gegen den wegen Vergewaltigung ermittelt wurde? Ist dir klar, dass du unter Umständen dein Kind in Gefahr bringst? Einstellung des Verfahrens hin oder her, wo Rauch ist, ist auch Feuer. Sie hatten einfach nicht genug Beweise gegen ihn, um ein Gerichtsverfahren zu eröffnen. Das heißt noch nicht, dass er tatsächlich unschuldig ist!
Er konnte ein Stöhnen nicht unterdrücken.
Sie war eine Schlange. Eine verdammte Schlange.
»John?«, fragte Kate. »Bist du noch dran?«
Er riss sich zusammen. »Ja. Ja, ich bin noch da. Danke, Kate. Ich weiß es sehr zu schätzen, dass du mir das alles gesagt hast. Und Tara hatte die Akte also schon wieder zurückgegeben?«
»Ja. Vor Weihnachten schon.«
»Okay.« Etwas störte ihn an dieser Auskunft, aber er kam nicht sofort dahinter, was es war.
»Caine«, sagte Kate, »irgendwo ist der Name doch in diesem Fall schon mal bei uns aufgetaucht?«
»Ja. Sie ist eine Freundin von Gillian Ward. Der Frau des dritten Mordopfers. Was wohl der Grund dafür ist, dass sie sich in die Geschichte hineinhängt und mich nun auch gern unter den Verdächtigen einordnen würde.«
Dann fiel ihm noch etwas anderes ein. »Kate, könntest du mir einen weiteren Gefallen tun? Ich habe hier ein Autokennzeichen. Es kostet dich nur einen Anruf – ich muss wissen, auf welchen Namen der Wagen zugelassen ist.«
»Kann ich machen«, sagte Kate nach einer kurzen Pause.
Er zog den Zettel aus der Hosentasche, auf dem er das Kennzeichen von Lizas Auto notiert hatte, und diktierte es ihr.
»Ja, gut«, sagte Kate. Sie wartete noch einen Moment – John hatte den Eindruck, sie wartete auf ihn, auf etwas, das ihr Hoffnung geben würde. Das Angebot einer Verabredung am Wochenende oder auch nur auf eine Wärme in seiner Stimme, an der sie sich würde festhalten können.
»Also, bis dann«, sagte er.
»Bis dann«, erwiderte sie. Sie knallte den Hörer auf.
Er konnte nur hoffen, dass sie ihm wegen des Autokennzeichens noch helfen würde.
5
Das Handy klingelte. Gillian erkannte die Mobilnummer von John auf dem Display und zögerte kurz. Dann beschloss sie, den Anruf entgegenzunehmen. John hatte ihr nichts getan.
»Hallo, John«, sagte sie.
»Hallo, Gillian.« Er klang erleichtert. Wahrscheinlich hatte er genau das gefürchtet: Dass sie seine Nummer sehen und daraufhin nicht reagieren würde. »Wie geht es dir?«
»Alles in Ordnung.«
»Wirklich?«
»Ja. Oder«, sie korrigierte sich: »Alles in Ordnung ist vielleicht nicht der richtige Ausdruck nach allem, was geschehen ist. Aber ich fange mich. Das Leben wird weitergehen.«
»Bist du immer noch mit dem Ausräumen des Hauses beschäftigt?«
»Im Augenblick nicht.« Sie überlegte, aber dann dachte sie, dass sie ihm zumindest weitgehend reinen Wein einschenken konnte. »Ich bin nicht daheim. Ich bin wieder bei Tara.«
Von der anderen Seite kam Schweigen.
»Dann habe ich natürlich schlechte Karten«, sagte John schließlich.
»John …«
»Sie ist komplett gegen mich. Und inzwischen dürfte sie dich mit all ihren Vorbehalten ja auch überzeugt haben.«
»Wir haben überhaupt nicht mehr über dich gesprochen. Ich bin wieder zu ihr gezogen, weil ich mich allein in dem großen Haus nicht mehr wohl gefühlt habe.« Sie unterschlug die Vorkommnisse jenes Abends. Schließlich wusste sie immer noch nicht, ob sie nicht einer Einbildung erlegen war. »Ich muss einfach sehen, wie ich am besten zurechtkomme. In deinen Augen verfolge ich wahrscheinlich einen sinnlosen Zickzackkurs. Vielleicht ist das ja auch wirklich so. Aber ich habe den geraden Weg noch nicht gefunden. In meinem Leben ist nichts mehr, wie es war.«
»Können wir uns sehen?« Er klang fast flehentlich.
»Nein. Es ist…«
»Bitte, Gillian. Nur sehen. Einen Kaffee zusammen trinken. Über Belanglosigkeiten reden. Ich verspreche dir, dich nicht mehr wegen einer gemeinsamen Zukunft zu bedrängen. Ich will dich nur sehen.«
»Es geht nicht, John. Ich verlasse heute die Stadt. In wenigen Stunden.«
»Du reist schon nach Norwich ab?«
»Nein, noch nicht.« Sie trat an die Balkontür, schaute über die schneebedeckte Brüstung draußen in den anthrazitgrauen Himmel über London. Sie fragte sich nicht zum ersten Mal in ihrem Leben, wie man es nur Jahr für Jahr schaffte, den Januar zu überstehen. »Ich werde eine Weile untertauchen. Mich in irgendein Hotel auf dem Land zurückziehen. Hoffen, dass sich alles aufklärt und ich dann versuchen kann, mir wieder ein halbwegs normales Leben aufzubauen.«
Damit weiß er ja noch nicht, wo ich hingehen werde, beruhigte sie sich. Ich weiß es ja selbst nicht einmal.
Er wirkte völlig perplex. »In ein Hotel? Warum das denn? Auf dem Land? Wo? In welches Hotel?«
»Das spielt doch keine Rolle. Ich bleibe dort eine Zeit lang, ordne mein Leben neu und versuche dann wieder, Boden unter den Füßen zu finden.«
»Warum bleibst du nicht bei Tara?«
»Es ist einfach besser so.«
»Gillian«, sagte er beschwörend, »da stimmt doch irgendetwas nicht! Wovor versteckst du dich? Oder – vor wem? Warum bist du aus eurem Haus wieder ausgezogen, obwohl du dort wegen deiner Umzugspläne genug zu tun hättest? Warum ziehst du jetzt bei Tara wieder aus? In die Anonymität eines Hotels? Warum, Gillian? Du wirkst auf mich wie ein Mensch, der auf der Flucht ist!«
»Ich bin ein Mensch, der herausfinden muss, wie es weitergeht, John. Das ist alles.«
»Aber du findest das doch nicht heraus, indem du ständig deinen Aufenthaltsort wechselst. Steckt Detective Inspector Fielder dahinter? Will er dich an einem unbekannten Ort in Sicherheit bringen?«
»Die Polizei hat keine Ahnung davon.«
Er schwieg eine Weile. Dann fragte er leise: »Versteckst du dich vor mir?«
»Warum sollte ich mich vor dir verstecken?«
»Weil sie gegen mich hetzt. Tara. Keine Ahnung, was sie dir erzählt hat. Aber ich habe heute erfahren, dass sie sich meine Ermittlungsakte von damals hat geben lassen. Und das wird sie nicht ohne Grund getan haben.«
Gillian war ehrlich überrascht. »Deine Ermittlungsakte? Davon hat sie mir nichts erzählt.«
»Wahrscheinlich solltest du nicht wissen, dass sie mir hinterherspioniert. Aber sie hat die Akte definitiv in den Händen gehabt. Und mit Sicherheit akribisch studiert.«
Gillian wandte sich vom Fenster ab.
Sie ist meine Freundin. Es passt zu ihr, so etwas zu tun.
Sie sprach es laut aus. »Sie ist meine Freundin, John. Sie hat sich vermutlich ernsthaft Sorgen gemacht. Deshalb wollte sie selbst noch einmal nachlesen, was damals geschehen ist. Durch ihren Beruf hat sie kein Problem, an eine solche Akte heranzukommen. Ist es nicht normal, dass sie so etwas tut? Ich hätte es wahrscheinlich genauso gemacht. Aber du musst mir glauben: Sie hat mir nichts davon gesagt. Also wahrscheinlich nichts darin gefunden, was sie nicht schon wusste.«
»Kann sie auch nicht. Die haben damals nichts, absolut nichts gehabt, woraus sie eine Anklage hätten zimmern können. Weil es nichts gab. «
»Ich habe in dieser Hinsicht keine Zweifel an dir, John.«
»In welcher Hinsicht dann?«
»In gar keiner. Ich habe dir mein Problem genannt. Ich muss auf eigenen Beinen stehen. Ich muss mein eigenes Gleichgewicht finden.«
Sie schwiegen beide.
»Also dann«, sagte John schließlich, »pass auf dich auf.«
Er klang resigniert.
»Mach ich«, versprach Gillian. Sie klappte ihr Handy ohne weitere Verabschiedung zu.
Unruhig blickte sie auf die Uhr. Es war gleich neun. Noch viele Stunden bis zum frühen Nachmittag, wenn Tara zurückkehren würde. Sie hatte alles gepackt.
Sie konnte nur noch warten.
6
John war schließlich ins Büro gegangen, obwohl er zunächst gefürchtet hatte, sich auf nichts dort konzentrieren und keinen einzigen vernünftigen Gedanken fassen zu können. Aber die Arbeit musste getan werden, er hatte genug Zeit verloren während der letzten Tage, und die Alternative hätte auch nur darin bestanden, mit dem trübsinnigen Samson daheim in der Wohnung zu sitzen und nicht recht zu wissen, wie es weitergehen sollte.
Für einige Stunden gelang es ihm, in seine vertraute, alltägliche Welt einzusteigen; ein Umstand, der seine Nerven beruhigte. Er musste die Dienstpläne für die nächsten Wochen erstellen, Anfragen beantworten, Rechnungen schreiben, die Kündigung eines Mitarbeiters entgegennehmen. Er merkte kaum, wie die Zeit verging. Als er irgendwann aufstand, um sich einen Kaffee zu machen, stellte er fest, dass es schon halb vier war. Außer ihm war nur noch die Telefonbereitschaft da. Freitagnachmittag. Da ging jeder so früh wie möglich ins Wochenende.
Er hatte seit den paar Bissen Brot am Morgen nichts mehr gegessen und merkte, dass er hungrig war. Vielleicht sollte er sich statt eines Kaffees irgendwo einen Hamburger besorgen. Er überlegte und beschloss dann, nach Hause zu fahren. Er hatte einiges geschafft. Samson versank wahrscheinlich schon wieder in Depressionen. Es war besser, ihn nicht zu lange allein zu lassen. John hegte durchaus die Befürchtung, dieser seltsame Mann könnte irgendwann einmal auf dumme Gedanken kommen.
Kaum hatte John sein Büro verlassen, legte sich die Beklemmung, der er für einige Stunden hatte entfliehen können, wieder über ihn. Da waren die beiden großen Probleme Samson und Liza. Da war Gillian, um die er sich Sorgen machte, weil er den Eindruck hatte, etwas stimmte nicht mit ihr; er hatte ihre Angst gewittert, und die Tatsache, dass sie ganz offenkundig eine Flucht antrat, beunruhigte ihn. Sein Gefühl, auf der Stelle zu treten und nicht weiterzuwissen, verstärkte sich. Er hatte Liza gefunden und mit ihr gesprochen, aber der erhoffte Durchbruch war ausgeblieben. Er war eigentlich nicht weiter als zuvor.
Irgendetwas sehe ich noch nicht, dachte er. Aus seiner Zeit als Ermittler bei der Polizei wusste er, dass Dinge direkt vor einem liegen und trotzdem unsichtbar bleiben konnten, weil es nicht gelang, ihre Umrisse aus der Umgebung zu schälen und sie dadurch in ihrer Bedeutung erkennbar zu machen.
Vielleicht war genau das seine Situation. Vielleicht lag die Lösung vor ihm, und er vermochte sie nicht wahrzunehmen.
Er fuhr bei einem McDonald’s vorbei, steuerte durch den Drive-in und kaufte Cheeseburger und Pommes frites für sich und Samson. Als er daheim ankam und die Treppe hinauflief, stellte er fest, dass sich die Tüte mit dem Essen bereits kalt anfühlte.
Samson saß in dem Sessel im Wohnzimmer und las in einem Buch. John konnte sofort sehen, dass es ihm schlecht ging. Er hatte eine ungesunde Gesichtsfarbe und gerötete Augen, einen gequälten Ausdruck in den Zügen. Er stand kurz davor, seelisch zu zerbrechen.
Es muss jetzt endlich etwas geschehen, dachte John.
»Hier«, er reichte ihm die Tüte, »ich habe das Mittagessen verschwitzt, und Sie haben in meinem armselig bestückten Kühlschrank vermutlich nichts gefunden. Es wird Ihnen besser gehen, wenn Sie etwas essen!«
»Danke«, sagte Samson leise, und er klang nicht so, als glaube er das.
Gerade als sie zu essen begannen, klingelte das Telefon. John meldete sich sofort. Es war Kate.
»Entschuldige, John. Ich bin nicht eher dazu gekommen, deine Bitte zu erfüllen. Es war ein furchtbar stressiger Tag.«
»Kein Problem. Hast du den Fahrzeughalter ermitteln können?«
»Ja. Und das ist nun wirklich merkwürdig.«
»Merkwürdig? Inwiefern?«
»Weil wir genau über diese Person heute schon einmal geredet haben. Der Wagen ist auf Staatsanwältin Tara Caine zugelassen. Ein Zufall?«
»Das ist…. unglaublich«, sagte John langsam.
»Gibt es etwas, das ich wissen sollte?«, fragte Kate. »Ich war dir gegenüber auch sehr offen!«
»Ich weiß. Bloß kann ich im Moment nichts sagen. Mir ist das alles noch nicht klar. Ich muss mich erst sortieren.« Tara Caine!
Wenn er alles erwartet hätte …
»Also, wenn du dich sortiert hast, dann denk mal an mich«, sagte Kate etwas spitz, ehe sie den Hörer auflegte. John hätte wetten mögen, dass sie als Nächstes versuchen würde, an die Personalakte von Tara Caine zu gelangen und deren Leben, zumindest den beruflichen Teil, zu durchforsten. Sie würde nicht weit kommen: Die Verbindung zu Liza Stanford konnte sie ohne weitere Informationen nicht herstellen.
Samson hatte aufgehört zu essen. »Was ist los?«
John schob seinen angebissenen Burger in die Pappschachtel zurück. Er hatte keinen Hunger mehr. Tara Caine. Liza Stanford fuhr ein Auto, das auf die Staatsanwältin zugelassen war. Und John hätte darauf wetten können, dass auch ihr Mietvertrag auf Tara lief. War es Tara, die hier die Fäden zog? Die Liza mit einer Wohnung und einem Auto versorgt hatte, die sie mit Geld unterstützte und ihr ganzes Untertauchen überhaupt erst ermöglicht hatte?
Er überlegte fieberhaft. Welche Schlüsse ließen sich daraus ziehen?
»Was wissen Sie über Tara Caine?«, fragte er. »Die beste Freundin von Gillian Ward?«
Samson dachte nach. »Die sie öfter in Thorpe Bay besucht hat? Nicht viel, leider. Ich war ja nur ein Beobachter von außen. Die beiden schienen recht eng befreundet zu sein. Gillian freute sich, wenn sie kam. Sie umarmten einander. Worüber sie dann natürlich sprachen … keine Ahnung!«
»Gillian wohnt im Moment bei ihr.«
»Das wundert mich nicht. Es ist verständlich, dass sie es in dem Haus nicht aushält, in dem ihr Mann ermordet wurde, oder?«
»Klar. Die Frage ist – stellt nicht Liza das Bindeglied dar, nach dem immer gesucht wurde? Sondern Tara?«
Samson blickte vollkommen verwirrt drein. »Sie sprechen jetzt von Liza Stanford? Der Frau des Anwalts? Nach der Sie mich heute Morgen gefragt haben?«
»Ja. Ich kann Ihnen das jetzt nicht im Einzelnen erklären, Samson, aber irgendwie bin ich ein wenig beunruhigt.« John griff wieder nach dem Telefon und wählte Gillians Handynummer. Gillian meldete sich nicht, nur die Mailbox sprang nach einer Weile an. Nach kurzem Zögern hinterließ er ihr eine Nachricht.
»Gillian, hier ist John. Ich würde dich gern sprechen, es ist wichtig. Ruf mich doch bitte schnell zurück, ja? Danke!«
»Ist Gillian in Gefahr?«, fragte Samson mit großen Augen. Er schob sein Essen ebenfalls von sich. Offenbar war auch ihm der Appetit vergangen.
»Ich weiß es nicht. Ehrlich. Keine Ahnung. Das ist alles sehr rätselhaft.«
»Aber Tara stellt keine Gefahr für sie dar? Ihre beste Freundin?«
»Ich hoffe nicht«, sagte John. Er griff nach seiner Jacke, die er auf die Fensterbank geworfen hatte. »Ich muss noch mal los. Ich muss ein Gespräch führen.«
»Geht das nicht per Telefon?«
»Ich habe keine Nummer von der betreffenden Person. Außerdem ist es besser …« Er ließ den Satz unvollendet stehen. Erklärungen hätten zu lange gedauert, zudem hätten sie Samson vermutlich eher verwirrt als erleuchtet. Denn es stimmte, was John gesagt hatte: Noch gelang es ihm nicht, die Zusammenhänge zu erkennen. Aber er hatte ein ungutes Gefühl. Eher sogar ein richtig schlechtes.
Er würde jetzt sofort zu Liza Stanford fahren. Sie war die einzige Person, die ihm ein paar dringende Fragen beantworten konnte.
7
Es war vier Uhr, als Tara in ihre Wohnung zurückkehrte. Sie hatte Sandwiches gekauft, die in Plastikfolie eingeschweißt waren, und ein paar Flaschen Mineralwasser.
»Ich weiß ja nicht, wie weit du heute noch fährst«, sagte sie, »aber damit verhungerst und verdurstest du wenigstens unterwegs nicht!«
»Du bist fantastisch, Tara«, sagte Gillian dankbar. Sie war erleichtert, die Freundin endlich zu sehen. Es hatte sie zunehmend entnervt, Stunde um Stunde in einer Wohnung zu sitzen, in der sie nicht zu Hause war, und untätig zu warten. Sie hatte jede Zeitschrift gelesen, die sie fand, etliche Bücher durchgeblättert und schließlich das Bad geputzt, das es bitter nötig hatte. Dann war ihr nichts mehr eingefallen und sie hatte nur noch aus dem Fenster geschaut. In das Schneegeriesel, das irgendwann einsetzte.
»Das ist doch ganz selbstverständlich«, sagte Tara. Sie blickte an sich hinunter. Sie trug einen hellgrauen Hosenanzug und hochhackige Stiefel. Wie sie es darin schaffte, über die Schneeberge zu turnen, die sich überall entlang den Straßen türmten, war Gillian ein Rätsel. »Ich ziehe mich noch schnell um.«
Zehn Minuten später saßen die beiden Frauen in Taras Auto. Tara jetzt in Jeans und dicker Jacke und mit wasserdichten Boots an den Füßen. Auf den Rücksitz hatte Gillian ihre Reisetasche und die Provianttüte gestellt.
Hoffentlich tue ich das Richtige, dachte sie.
Sie kamen nur langsam voran. Der Freitagnachmittagsverkehr stürzte die Stadt in das übliche Chaos. Erst als sie die Autobahn erreichten, ging es endlich etwas schneller.
»Jetzt sind wir bald in Thorpe Bay«, sagte Tara, »und bis du dich auf den Weg machst, ist das Allerschlimmste vorbei. Weißt du schon, wohin du fahren wirst?«
»Ehrlich gesagt, habe ich immer noch keine Ahnung«, bekannte Gillian. »Ich frage mich einfach nur ständig, ob es wirklich nötig ist.« Sie drückte ihr Gesicht gegen die Fensterscheibe. Sie fühlte sich angenehm kühl an. Sie verstand nicht, weshalb ihre Wangen brannten. Die Aufregung vielleicht. Das Grübeln.
»Diese Flucht. Direkt nachdem ich dieses … Erlebnis daheim hatte, wollte ich nur noch weg. Zu dir. Und bis heute früh dachte ich auch noch, dass es besser sei, London zu verlassen. Aber jetzt bin ich unsicher, ob ich nicht doch etwas überstürze. Mich einfach nur verrückt mache. Wegen … nichts!«
»Thomas, der ermordet in eurem Haus lag, ist nicht nichts«, erinnerte Tara, »und das, was neulich passiert ist, musst du …«
»Ich weiß ja gar nicht, ob etwas passiert ist«, unterbrach Gillian. »Das ist es ja. Ich weiß es einfach nicht! Inzwischen erscheint es mir immer wahrscheinlicher, dass da gar nichts war. Ein Schatten! Wenn ich versuche, mir die Situation ins Gedächtnis zu rufen, kann ich mir diesen Schatten schon gar nicht mehr vorstellen. Es geschah im Bruchteil einer Sekunde, und vermutlich war es reine Einbildung.«
»Vielleicht aber auch nicht. Vielleicht wäre dir etwas zugestoßen. Möglicherweise hattest du nur riesiges Glück, weil dieser Luke Palm noch einmal zurückkam«, gab Tara zu bedenken.
Das Glas unter Gillians Wange schien plötzlich kälter zu werden.
… weil dieser Luke Palm noch einmal zurückkam …
Ich habe ihr doch den Namen des Maklers gar nicht genannt, dachte Gillian, aber dies war der erste, fast intuitive Gedanke, und gleich darauf setzte ihr Verstand ein: Oder habe ich ihn ihr doch genannt? Irgendwann während der letzten beiden Tage? Während unserer Gespräche?
Sie konnte das nicht vollkommen ausschließen, aber sie war fast sicher, dass sie es nicht getan hatte. Sie hatte Tara gegenüber nicht zugeben wollen, dass sie sich an den Makler gewandt hatte, der die tote Anne Westley gefunden hatte, und da sein Name mehrfach in der Presse aufgetaucht war, hätte Tara ihn möglicherweise erkannt. Ihr war die Erklärung peinlich erschienen – das mit der Eisscholle, auf der sie trieb, abgespalten von den Menschen, in deren Leben nie Gewalt und Verbrechen eingedrungen waren. Und dann Luke Palm, auf dessen Leben derselbe Schatten lag. Es war etwas, das sie für sich behalten wollte, ohne dass sie genau hätte erklären können, woher ihre Scheu rührte. Vielleicht hatte es etwas mit der verheerenden Verletzung tief in ihrem Inneren zu tun, die ihr zugefügt worden war, als sie an jenem Abend Tom fand und dann durch das Haus irrte und in panischer Angst nach ihrem Kind suchte. Niemandem, nicht einmal ihrer besten Freundin, mochte sie zeigen, wie zerstört sie sich fühlte.
Egal, es ist auch nicht wichtig, dachte sie, aber sie konnte nicht verhindern, dass der Gedanke wie ein kleiner, hartnäckiger Wurm an ihr nagte.
Wenn ich ihr den Namen nicht genannt habe, woher weiß sie ihn dann?
Sie entsann sich des Abends, der erst zwei Tage zurücklag. Sie sah sich in Panik aus dem Haus stürzen, nachdem sie gemeint hatte, den Schatten in der Küche gesehen zu haben, und nachdem plötzlich der Strom ausgefallen war. Auf Strümpfen war sie durch den Schnee gelaufen und am Gartentor mit einer großen Gestalt zusammengeprallt, auf die sie voller Angst und in blindem Entsetzen eingeschlagen hatte. Der vermeintliche Gegner hatte sie schließlich an den Handgelenken gepackt und festgehalten.
»Ich bin es. Luke Palm!«
Und sie hatte geschrien. »Luke Palm?« Laut und schrill in ihrer Angst.
Wenn jemand im Haus oder im Garten gewesen war, hätte er es hören können.
Das ist absurd, dachte sie.
Sie musterte Tara von der Seite. Die gerade Nase, die vollen Lippen. Die hohe Stirn. Sie war eine so schöne Frau. Seltsam eigentlich, dass es offenbar nie einen Mann in ihrem Leben gegeben hatte.
Woher, verdammt, kennt sie den Namen?
In Gedanken ging sie alle Gespräche durch, die sie mit der Freundin geführt hatte, seitdem Palm sie in jener Nacht zu ihr gebracht hatte. Sie war sich so gut wie sicher, dass sie ihr gegenüber nur von dem Makler gesprochen hatte. Sie hatte ihn auch nur kurz erwähnt.
Der Makler, der das Haus für mich verkaufen soll, war gerade gegangen. Zum Glück kam er noch einmal zurück, weil er etwas vergessen hatte. Er ist dann mit mir hineingegangen. Er hat die Sicherung wieder umgelegt unten im Keller, und er hat alles mit mir abgesucht. Aber es war niemand zu sehen.
»Was ist los?«, fragte Tara. Sie hatte zur Seite geblickt. »Du bist ja ganz blass. Geht es dir nicht gut?«
»Doch. Alles in Ordnung.« Gillian versuchte ein Lächeln, das offenbar nicht sehr überzeugend ausfiel, denn Tara hakte nach. »Wirklich? Du wirkst so verstört!«
»Ich bin mir einfach nicht sicher, ob ich das Richtige tue«, sagte Gillian. »Es erscheint mir auf einmal so verrückt, mich irgendwo an einem fremden Ort zu verkriechen. Das ist ein so dramatischer Schritt.«
»Hierzubleiben könnte sich als der dramatischere Schritt entpuppen«, sagte Tara. »Falls der Täter es noch einmal versucht.«
Sie hatten Thorpe Bay erreicht. Stille Straßen. Stille Häuser. Gärten, die im Schnee versanken. Auf einem Hügel in einer kleinen Parkanlage fuhren Kinder Schlitten. Bis vor Kurzem war dies alles der normale Rahmen für Gillians normales Leben gewesen.
Jetzt war nichts mehr normal. Jetzt stand sie dicht davor, die Flucht anzutreten.
Und sie spürte dieses Kribbeln in ihrem Hinterkopf. Eine untergründige Nervosität, ein Argwohn, der sich, so verrückt er ihr erschien, nicht zum Schweigen bringen lassen wollte.
Es gab eine Stimme in ihr, die sie leise, aber unaufhörlich und eindringlich beschwor: Mach, dass du wegkommst! Hier stimmt etwas nicht! Sieh zu, dass du aus dem Auto deiner Freundin hinauskommst. Sieh zu, dass du sie loswirst!
Vielleicht habe ich den Namen doch in irgendeinem Moment gesagt, dachte Gillian verzweifelt, ich kann es einfach nicht beschwören!
Vielleicht war sie inzwischen so durcheinander und verängstigt, dass sie überall Gespenster witterte.
Tara bog in die Einfahrt von Gillians Haus. Die Räder ihres Autos gruben sich in den Schnee.
»Da sind wir«, sagte sie.
Sie blickte Gillian an. Und Gillian sah es. Sah es in ihren Augen.
Einen fremden Blick. Unnatürlich vergrößerte Pupillen.
Die Augen waren völlig starr.
Plötzlich hatte Gillian Angst. Und wusste dabei eines genau: Tara durfte es nicht merken. Sie durfte Gillians Misstrauen, ihre Furcht, ihre Irritation nicht bemerken.
»Okay«, sagte sie so leichthin wie möglich, »dann gehe ich schnell hinein, packe noch ein paar Sachen zusammen, und dann fahre ich los. Du solltest dich schon auf den Rückweg machen, Tara. Dann bist du vor Einbruch der Dunkelheit zu Hause.«
»Ich habe es gar nicht so eilig«, sagte Tara. Sie öffnete die Tür und stieg aus. »Ich komme mit.«
Gillian stieg ebenfalls aus. Sie hielt den Haustürschlüssel in der Hand. Die Hand zitterte, und sie hoffte, dass Tara das nicht sah.
Tara ging um das Auto herum. Sie bewegte sich völlig normal.
Und wenn ich einfach nur spinne?, dachte Gillian. Wahrscheinlich stehe ich kurz vor einem Nervenzusammenbruch und bilde mir nur noch Verrücktheiten ein.
In diesem Moment hörte sie ihr Handy klingeln. Es befand sich in ihrer Handtasche, die noch im Fußraum des Beifahrersitzes von Taras Auto lag.
Gillian drehte sich sofort um, aber Tara hielt sie zurück. »Lass doch. Du rufst dann einfach zurück. Du solltest jetzt keine Zeit verlieren.« Sie hatte wieder den starren Blick bekommen.
Gillian spürte Schweiß auf ihrer Stirn. »In Ordnung«, meinte sie. Sie fand, dass sich ihre Stimme seltsam anhörte, aber Tara schien das nicht zu merken.
Sie stapften langsam zum Haus. Gillian schloss auf, trat sich den Schnee von den Füßen. Sie hörte, dass Tara dicht hinter ihr das Gleiche tat.
Sie spürte ihr Herz laut und schnell schlagen. Der Schweiß auf ihrer Stirn verdichtete sich. Sie wusste nicht, ob es Zufall war, dass Tara fast wie eine zweite Haut unmittelbar an ihr klebte. Undenkbar, dass sie allein irgendwohin gehen, vielleicht telefonieren konnte. Und was sollte sie dem Teilnehmer am anderen Ende der Leitung auch sagen? Ich bin hier mit meiner Freundin in meinem Haus. Ich habe plötzlich ein richtig dummes Gefühl. Irgendetwas stimmt nicht mit ihr. Natürlich kann es sein, dass ich mir das nur einbilde, aber mir ist fast schlecht vor Angst, und ich glaube, dass ich Hilfe brauche.
Es gab eigentlich nur einen, den sie anrufen konnte. Der sie nicht für verrückt halten und der einfach herbeieilen würde: John. Sie musste nur sagen: Bitte komm her! Und er würde kommen.
Aber es war ausgeschlossen, heimlich zu telefonieren. Tara war wie ein Schatten hinter ihr.
Auf die Toilette, dachte Gillian, kann sie nicht mit.
Es gab eine Gästetoilette im Erdgeschoss. Mit einem Fenster, das ins Freie führte. Sie konnte versuchen, hinauszuklettern, auf die Straße zu laufen. Bei einem Nachbarn klingeln und bitten, telefonieren zu dürfen.
Tara konnte kaum etwas dagegen tun.
»Was ist?«, fragte Tara. »Wolltest du nicht hinaufgehen und deine Sachen packen?«
Sie wandte sich zu ihr um. Hoffte, dass sie nicht so schlecht aussah, wie sie sich fühlte.
»Ich muss erst einmal dringend auf die Toilette«, sagte sie entschuldigend. »Wartest du einen Moment?«
Tara starrte sie an.
In diesem Augenblick klingelte das Telefon. Beide Frauen fuhren zusammen. Dann streckte Gillian den Arm aus.
Tara hielt sie zurück. »Lass es einfach klingeln. Das hält uns nur auf!«
Nach dem sechsten Läuten sprang der Anrufbeantworter, der ebenfalls im Flur stand, an.
8
Samson war weit davon entfernt, wirklich zu verstehen, in welche Richtung sich die Dinge entwickelten, und John hatte so schnell die Wohnung verlassen, dass er ihm auch keine einzige Frage mehr stellen konnte. Verwirrt und beunruhigt blieb er in den kahlen Räumen zurück.
Er ließ sich die letzten Gesprächsminuten noch einmal genau durch den Kopf gehen.
Gillian ist doch nicht in Gefahr?, hatte er gefragt, und die wenig beruhigende Antwort von John lautete: Ich weiß es nicht.
Und dann hatte er gefragt, ob ihr Gefahr von Tara drohe, von ihrer besten Freundin, und diesmal hatte John geantwortet: Ich hoffe nicht.
Was auch nicht besser war.
Tara.
Samson war aus Johns Andeutungen nicht einmal ansatzweise schlau geworden. Er hatte telefoniert, und dann war der Name Tara Caine gefallen, und John war wie elektrisiert gewesen. Er sprach von einem Bindeglied, nach dem alle ewig gesucht hatten. Irgendwie hing das alles auch noch mit der Frau von Charity-Stanford zusammen, aber diesen Gedankengang vermochte Samson schon überhaupt nicht einzuordnen.
Er versuchte, sich die Bilder ins Gedächtnis zu rufen, die er von Tara Caine hatte.
Er hatte sie etliche Male beobachtet, wenn sie Gillian besuchte. Ihm war sofort klar gewesen, dass eine enge Freundschaft die beiden Frauen miteinander verband. Sie hatten einander nicht überschwänglich begrüßt, aber mit der innigen Vertrautheit, die jedes laute Getue überflüssig macht. Ihm hatte Tara gefallen. Eifersüchtig und misstrauisch hatte er über das Bild gewacht, das er sich von Gillian und ihrer Familie gemalt hatte und dessen Unzerstörbarkeit ihm heilig war, und es war für ihn von großer Bedeutung gewesen, wie sich die Freundin einfügte. Tara Caine hatte ihn beruhigt. Sie war ihm sympathisch gewesen, und, was noch weit mehr zählte, sie passte zu Gillian. Eine sehr normal wirkende Frau, intelligent, elegant, aber nie allzu auffällig zurechtgemacht, nie schrill oder laut. Manchmal war sie ganz offensichtlich direkt vom Büro gekommen und hatte schicke Hosenanzüge getragen; manchmal aber war sie auch einfach nur in Jeans, Sweatshirt und Turnschuhen erschienen.
Passt, hatte er gedacht, alles in Ordnung. Die perfekte Freundin der perfekten Frau in der perfekten Familie.
Offensichtlich hatte er sich noch weitreichender geirrt, als er bereits wusste. Thomas Ward war überhaupt kein netter Mensch gewesen, und die Ehe der Wards hatte auf der Kippe gestanden. Gillian hatte sich in ein außereheliches Verhältnis verstrickt, mit der Tochter gab es massive Probleme. Und nun schien auch mit der besten Freundin etwas nicht zu stimmen – Samson wusste bloß nicht, was es war.
Stellt Tara eine Gefahr für Gillian dar?
Ich hoffe nicht.
Er ging zwischen dem Fenster und dem Stuhl in der Mitte des Zimmers hin und her. Der ganze Raum roch nach kalten Pommes frites. Angewidert betrachtete Samson seinen angebissenen Burger, der auf dem Deckel der Pappschachtel lag. Er konnte nicht verstehen, dass er noch kurz zuvor solchen Hunger gehabt hatte, dass ihm das Wasser im Mund zusammengelaufen war. Jetzt krampfte sich sein Magen allein bei dem Gedanken an Essen zusammen.
John hatte gesagt, dass sich Gillian bei Tara aufhielt. Verständlich. Es musste ein Albtraum für sie gewesen sein, in das Haus zurückzukommen, in dem ihr Mann ermordet worden war. Und insgeheim war Samson von Erleichterung erfüllt, für die er sich schämte, denn schließlich war John der einzige Mensch, der ihm half und der dafür eine Menge riskierte, aber trotzdem: Gillian war nicht zu John geflüchtet. Sondern zu ihrer besten Freundin.
Die Beziehung konnte also nicht allzu eng sein, das war eindeutig daraus zu schließen.
John hatte versucht, Gillian anzurufen, aber sie war nicht an ihr Handy gegangen. Wenn sie in Gefahr schwebte, so hatte sie möglicherweise nach wie vor keine Ahnung davon.
Samson hatte oft gelesen, dass sich jemand die Haare raufte, und bislang war das für ihn ein symbolischer Ausdruck dafür gewesen, dass jemand in Ärger, Ungewissheit oder Ratlosigkeit schier verrückt wurde. Zum ersten Mal stellte er fest, dass man es tatsächlich tun konnte: Denn jetzt raufte er sich die Haare, fuhr wieder und wieder mit allen zehn gespreizten Fingern hindurch, als könne er damit seinen Verstand dazu bewegen, einen guten, schlüssigen, hilfreichen Gedanken zu finden. Der ihn aus der Situation befreite, immer nur zu warten. Entweder in ungeheizten Pensionen oder in einem Wohnwagen auf einer verlassenen Baustelle oder in einer leeren Altbauwohnung zu sitzen und auf etwas zu warten, wovon er nicht einmal wusste, was es war.
Er wollte endlich etwas tun. Endlich seinen Beitrag leisten, endlich etwas bewirken. Nützlich sein. Nicht für sich in erster Linie. Sondern für alle, die sich innerhalb dieses verworrenen Falles aufrieben.
Vor allem für Gillian.
Seine Haare standen wie ein Wischmopp zu Berge, aber immerhin war ihm ein Gedanke gekommen. John hatte mit seinem ins Leere gelaufenen Anruf offenkundig versucht, Gillian zu warnen. Warum sollte nicht er, Samson, dasselbe probieren?
Er könnte sich Tara Caines Telefonnummer von der Auskunft besorgen und dann dort anrufen. Allerdings bereitete ihm diese Vorstellung einige Sorgen. Es war später Freitagnachmittag. Mit einer ziemlich hohen Wahrscheinlichkeit war Tara zu diesem Zeitpunkt nicht mehr im Büro, sondern längst daheim. Vermutlich würde sie den Telefonhörer abnehmen. Im Display konnte sie John Burtons Nummer sehen. Und er, Samson? Was sollte er sagen?
Hallo, hier ist Samson Segal, der Mann, der wegen Mordverdachts gesucht wird. Wie Sie unschwer erkennen können, sitze ich gerade in der Wohnung von John Burton, dem Exbullen. Kann ich bitte mal Gillian sprechen?
Vielleicht gelang es ihm, die Anruferkennung aus Johns Apparat herauszunehmen, obwohl er keine Ahnung hatte, wie das ging. Vielleicht hatte er auch die Nerven, sich mit einem anderen Namen vorzustellen, und vielleicht verband ihn Tara daraufhin mit Gillian.
Und dann?
Würde sie eine Warnung unauffällig entgegennehmen, während die Person, vor der sie gewarnt wurde, direkt neben ihr stand?
Trotzdem, dachte er, ich probiere es.
Er spürte, wie ihm heiß wurde.
Er hätte sich all seine Gedanken nicht machen müssen: Bei der Auskunft erfuhr er, dass Tara Caines Telefonnummer nicht weitergegeben wurde. Die Staatsanwältin hatte ihre Privatnummer sperren lassen.
Eigentlich kein Wunder bei ihrem Beruf, dachte Samson, von wie vielen Knackis würde sie sonst nach deren Entlassung wohl terrorisiert werden!
Er konnte sich nicht einfach wieder in den Sessel setzen und Däumchen drehen. Nicht, nachdem er sich zumindest gedanklich schon einmal so weit nach vorn gewagt hatte.
Ein Mal wollte er das Entscheidende tun.
Ein Mal der Held sein.
Er brachte die Reste des unappetitlichen Mittagessens in die Küche, warf sie in den Abfalleimer, und seltsamerweise kam ihm genau bei dieser Tätigkeit plötzlich ein Geistesblitz.
Gillian wohnte zurzeit bei Tara, aber mit einiger Wahrscheinlichkeit kam sie ab und zu in ihr Haus zurück. Um Blumen zu gießen, nach der Post zu schauen, irgendwelche Dinge zu holen, die sie brauchte. Ihre Telefonnummer kannte er auswendig. Und sie hatte einen Anrufbeantworter. Oft genug hatte er bei den Wards angerufen, wenn er wusste, dass niemand daheim war, und dann hatte er ihrer Stimme gelauscht. Wir können gerade nicht ans Telefon kommen, aber hinterlassen Sie uns doch bitte eine Nachricht.
Er hatte dann immer wieder aufgelegt, ohne etwas zu sagen. Aber diesmal würde er reden. Und auch wenn diese Aktion keine Garantie auf Erfolg versprach, weil nicht absehbar war, wann Gillian das Gerät tatsächlich abhören würde, so war es doch eine Chance. Eine nicht allzu geringe Chance, wie er fand. Und es war besser, als nichts zu tun.
Er kehrte ins Wohnzimmer zurück. Mit zittrigen Fingern tippte er die vertraute Nummer ein und räusperte sich mehrmals.
Nicht, dass ihm dann noch die Stimme versagte!
9
Wie gebannt blickten Gillian und Tara auf den Anrufbeantworter.
Laut und deutlich klang Gillians eigene Stimme durch den Raum. »Hinterlassen Sie uns doch bitte eine Nachricht.«
Der Apparat piepte.
Als Erstes war ein kräftiges Räuspern zu hören. Ein Mann, dachte Gillian. Vielleicht John. Vielleicht Luke Palm, der noch Fragen wegen des Hausverkaufs hatte. Luke Palm, dessen Namen Tara nicht hätte kennen dürfen.
»Ja, also, hallo, Mrs. Ward«, sagte jetzt eine Stimme. Eindeutig ein Mann. Irgendwoher meinte Gillian die Stimme zu kennen, aber sie konnte sie nicht sofort einordnen.
»Ich bin es. Samson. Samson Segal.«
Gillian sperrte Mund und Nase auf. Samson Segal. Dieser seltsame Mann, der sich vor der Polizei versteckt hielt. Er rief an und traute sich sogar, auf ihren Anrufbeantworter zu sprechen.
»Mrs. Ward, wir machen uns Sorgen um Sie.« Samson klang nun etwas weniger holprig. »Es kommt Ihnen vielleicht eigenartig vor, und ich kann es Ihnen auch nicht näher erklären, aber … Sie sollten vorsichtig sein mit Ihrer Freundin. Mit Tara Caine. Da stimmt etwas nicht. Ziehen Sie sich zurück. Bitte.« Er machte eine Pause. »Ich hoffe, Sie hören dieses Band in der nächsten Zeit ab«, fügte er dann hinzu. »Es ist wichtig. Bitte.«
Mit einem Klicken beendete er das Gespräch.
Gillian bewegte sich nicht. Sie hatte sogar den Eindruck, dass sie nicht einmal mehr atmete.
Sie wusste nicht, warum ausgerechnet Samson Segal bei ihr anrief. Sie hatte keine Ahnung, von wem er sprach, wenn er uns sagte. Es war ihr völlig unklar, wie und auf welchem Weg er darauf gekommen war, in Tara eine Gefahr zu sehen. Aber eines begriff sie: Er hatte recht. Er redete nicht irgendwelchen Blödsinn daher. Und auch sie selbst sah keineswegs Gespenster.
»Du hast aber treue Freunde«, sagte Tara hinter ihr. Ihre Sprechweise klang verändert. Seltsam emotionslos. Ohne Höhen und Tiefen. »Nette und besorgte Freunde. Wie schön für dich.«
Gillian fuhr sich mit der Zunge über die Lippen, die plötzlich völlig ausgetrocknet schienen. Sie drehte sich zu Tara um, versuchte zu lächeln und hoffte, dass sie mehr hinbekam als eine zittrige Grimasse. »Segal ist kein Freund. Ein völlig gestörter Typ. Wie du weißt, sucht die Polizei nach ihm. Ich nehme an, er will von sich ablenken. Er meint wohl, seine Lage verbessert sich, wenn er wilde Gerüchte streut.«
»Interessante Gerüchte«, sagte Tara.
Gillian zuckte mit den Schultern. »Der Mann ist nicht ganz dicht. Ich gebe nichts auf sein Gerede. Hör mal, ich sollte mich jetzt beeilen. Ich gehe rasch auf die Toilette, und dann …«
»Was hast du vor?«, fragte Tara. In ihrer Haltung, in ihrer Stimme lag etwas Lauerndes. »Dich durch das Klofenster auf und davon zu machen?«
Gillian versuchte gleichmütig zu erscheinen, spürte aber, dass sie vor allem unnatürlich klang. »Natürlich nicht, wie kommst du denn darauf? Ich will nur …«
»Vergiss es«, unterbrach Tara sie, »versuch nicht, mich für blöd zu verkaufen! Du willst dich abseilen, das ist alles. Du schlotterst vor Angst, Gillian. Und nicht erst, seit dieser Trottel da«, sie machte eine Kopfbewegung in Richtung Anrufbeantworter, »dumm genug war, seine Warnung lautstark durch das ganze Haus zu schmettern!«
»Das stimmt nicht. Ich …«
»Du hast dich schon im Auto verändert. Aber da war ich mir noch nicht hundertprozentig sicher. War nur so ein Gefühl … Hättest du es jetzt geschickt angestellt, du wärest noch damit durchgekommen. Aber so … nach dieser unzweideutigen Warnung … Glaubst du ernsthaft, ich lasse dich jetzt noch einen Moment lang aus den Augen?«
Gillian sah ein Flimmern und hatte plötzlich ein Rauschen in den Ohren, riss sich aber mit aller Gewalt zusammen. Sie durfte jetzt nicht schlappmachen. Sie musste die Nerven behalten.
»Warum, Tara?«, fragte sie. »Was ist los? Habe ich dir irgendetwas getan?«
Tara betrachtete sie interessiert. Gillian erwiderte ihren Blick voller Beklommenheit. Da war das vertraute Gesicht der Freundin. Ein Gesicht, das sie seit Jahren kannte. Und doch war es vollkommen verändert. Mit einem anderen Ausdruck, mit einer fremden Mimik. Dazu diese Stimme, die nicht Taras Stimme war. Tara hatte Gefühle in ihrer Stimme gehabt. Lachen oder Kummer, Freude oder Ärger. Jetzt war davon nichts zu hören. Es war eine eigenartig seelenlose, eine unmenschliche Stimme.
»Mir persönlich hast du gar nichts getan«, sagte Tara. »Mir persönlich haben auch Carla und Anne nichts getan.«
In ihrer Stimme war Hass. Gillian zuckte zurück.
»Carla und Anne …«, wiederholte sie fassungslos. »Du hast sie …?«
Tara zuckte mit den Schultern. »Die Welt ist nicht ärmer ohne die beiden.«
»Und Tom …?«
»Tom war nicht geplant.«
»Tara, ich verstehe nicht, was los ist«, sagte Gillian beschwörend, »bitte erkläre mir doch …«
Tara lachte. Es war kein freundliches Lachen. »Nein, mein Schatz. Ich weiß genau, was du vorhast. Du willst mich hier in ein schönes, langes Gespräch verwickeln und hoffst, dass in der Zwischenzeit jemand vorbeikommt und dir aus der Klemme hilft. Vergiss es! Wir müssen überlegen, was wir jetzt tun. Weißt du, was tragisch ist? Ich hatte wirklich beschlossen, dich laufen zu lassen. Keine Ahnung, warum. Vielleicht liegt es an der gemeinsamen Zeit. Vielleicht daran, dass ich zweimal gescheitert bin bei dir.«
Sie war der Schatten, dachte Gillian voller Grauen. Und daher kannte sie auch Lukes Namen. Sie hat zweimal versucht, mich umzubringen.
Warum nur? Warum?
»Ich wollte dich aus meiner Nähe haben. Ich kann dich nicht mehr ertragen, Gillian. Da du Angst hattest, hier allein zu wohnen, hätte ich ein kleines Hotel genial gefunden. Irgendwo. Von dort wärest du direkt nach Norwich gezogen, und wir hätten einander in diesem Leben hoffentlich nicht wiedergesehen. Aber nun kann ich dich nicht gehen lassen. Das verstehst du sicher.«
»Bitte, Tara! Warum?«
Tara griff in die Tasche ihrer Winterjacke und hatte in der nächsten Sekunde eine Pistole in der Hand. Sie richtete sie auf Gillian.
»Wir müssen erst einmal irgendwohin, wo wir in Sicherheit sind. Der Typ, der da gerade auf deinen Anrufbeantworter gesprochen hat, ruft womöglich als Nächstes die Polizei. Also nichts wie weg hier. Und dann muss ich überlegen, was ich mit dir mache.« Sie wies mit der Waffe Richtung Haustür. »Wir gehen jetzt hinüber in die Garage. Du gehst vor mir her. Wenn du eine unbedachte Bewegung machst oder versuchst abzuhauen oder irgendetwas in der Art, dann hast du eine Kugel im Kopf. Kapiert? Ich zögere da keine Sekunde.«
Gillian schluckte. Sie kam sich vor wie in einem seltsamen, völlig irrealen Theaterstück. Jeden Moment musste Tara lachen, nicht auf diese böse, fremde Art, sondern freundlich und unbefangen, wie es Gillian von ihr kannte, sie musste die Hand mit der Waffe sinken lassen und sagen: Gillian, nun schau doch nicht so entsetzt drein! Das war ein Witz! Ich wollte dich mal richtig erschrecken! Lieber Himmel, du hast das doch nicht etwa ernst genommen?
Aber sie wusste, dass das nicht passieren würde. Das Ganze war kein Witz. Tara hatte nie eine Vorliebe für makabre Scherze gehabt. Sie war überhaupt ein eher ernster Mensch.
Sie meinte, was sie sagte.
Langsam setzte sich Gillian in Richtung Haustür in Bewegung. Tara trat zur Seite, um sie vorbeizulassen. Sie griff sich eine Rolle Paketklebeband, die auf einem Stapel von Umzugskartons gleich neben der Tür lag.
Als sie draußen stand, sagte Gillian flehend: »Tara, ich weiß nicht, was du gegen mich hast. Aber was es auch ist – denk doch bitte an Becky. Sie hat nur noch mich.«
Tara lachte erneut. Es war wieder dieses unheimliche Lachen, in dem keinerlei Emotionen lagen.
»Du wirst es mir nicht glauben, Gillian«, sagte sie, »aber genau an sie denke ich. An sie habe ich die ganze Zeit gedacht. Becky war der Grund. Weißt du was? Für manche Kinder ist es besser, sie wachsen ohne Mutter und Vater auf. Für manche Kinder ist jedes Waisenhaus besser. Glaub mir, ich weiß, wovon ich spreche.«
»Aber …«
»Halt bitte den Mund und geh endlich weiter«, befahl Tara. Sie presste die Pistole tief in die Falten von Gillians Wintermantel. Falls jemand vorbeikam, hätte er sie nicht sehen können. Allerdings ließ sich ohnehin niemand blicken. Die Straße lag wie ausgestorben in der einfallenden Dämmerung. »Wir haben sicher noch Zeit, miteinander zu reden. Später.« Sie machte eine Kopfbewegung in Richtung Garage.
Langsam ging Gillian den Gartenweg entlang.
10
»Ich wusste, dass Sie wiederkommen würden«, sagte Liza Stanford resigniert. Sie hatte zunächst auf Johns Klingeln nicht geöffnet, sodass er schließlich unten auf dem gepflasterten Platz vor dem Hochhauskomplex auf und ab gegangen war in der Hoffnung, dass sie aus dem Fenster spähte und sah, dass nur er es war, der sie besuchte, nicht ihr Mann oder die Polizei oder wen immer sie fürchtete. Dann hatte er wieder geklingelt, und endlich war der Summton erklungen, mit dem sie die Tür öffnete, und oben hatte sie gestanden, die Wohnungstür einen Spalt breit geöffnet, und auf ihn gewartet.
»Möchten Sie einen Tee?«, fragte sie, nachdem er eingetreten war.
»Nein. Danke. Liza – kennen Sie eine Tara Caine?« Er beobachtete sie genau, während er die Frage stellte.
Sie erschrak. Ihre Pupillen wurden größer. »Tara Caine. Ja. Ja, ich kenne sie.«
»Ich hatte Sie gestern gebeten, mir alles zu sagen«, sagte John.
»Nach ihr hatten Sie nicht gefragt«, entgegnete Liza leise. Sie ging ins Wohnzimmer, ließ sich auf einen Stuhl am Esstisch fallen. John folgte ihr, blieb aber mitten im Zimmer stehen.
»Ihr Auto ist auf sie zugelassen. Und ich nehme an, sie hat auch die Wohnung gemietet?«
Liza nickte.
»Sie versorgt Sie mit Geld? Denn Ihr Mann dürfte seine Konten gesperrt haben, wie ich ihn einschätze.«
»Sie hat ein Konto auf ihren Namen eingerichtet und mir die EC-Karte überlassen. Damit hebe ich Geld ab, wenn ich etwas brauche.«
»Recht großzügig. Sie zahlt die Miete, sie zahlt Ihren Lebensunterhalt. Das ist nicht selbstverständlich, oder?«
»Ich werde ihr alles zurückzahlen. Das haben wir vereinbart.«
»Aha. Und wann soll das sein? Und wie?«
»Das weiß ich noch nicht. Es musste alles so schnell gehen … Wir konnten die Dinge nicht bis zum Ende planen.«
»Was musste so schnell gehen?«
»Ich musste weg. Ich musste untertauchen!« Sie hatte die ganze Zeit auf die Tischplatte vor sich gestarrt, nun hob sie den Blick. John sah die Tränen in ihren Augen und den Ausdruck von Wut. »Sie können sich das nicht vorstellen. Niemand kann sich das vorstellen, der es nicht erlebt hat. Ich habe über Jahre in Todesangst gelebt. Ich habe über Jahre in Verzweiflung, Erniedrigung, in ständigen körperlichen Schmerzen und seelischen Qualen gelebt. Ich wusste, dass er mich irgendwann umbringen würde. Ich wusste es einfach.«
»So weit wäre er nicht gegangen«, sagte John. »Ihr Mann ist, ehrlich gesagt, ein Stück Scheiße, Liza, aber er ist nicht dumm. Er hätte es nicht riskiert, ins Gefängnis zu kommen.«
»Er wäre nicht ins Gefängnis gekommen, glauben Sie mir. Er hätte die ganze Sache nach einem Unfall aussehen lassen, er hätte ein Schlupfloch gefunden, er hätte sich irgendwie unbeschadet herausgezogen. So ist er. Ich kenne ihn lange genug.«
Da war er abermals. Der Mantel der Allmächtigkeit, den Liza ihrem Mann bereitwillig immer wieder umhängte. Er stand über allem, vor allem über Recht und Gesetz, war nicht zu greifen und nicht zur Rechenschaft zu ziehen, ganz gleich, was er tat. Vielleicht, dachte John, bestand die eigentliche Perfidie von Männern wie Logan Stanford vor allem darin: Sie traten ihre Frauen in den Staub und hoben sich selbst in den Himmel. Schlimmer noch als die körperliche Gewalt wog die seelische, wog das, was sie mit dem Verstand ihrer Frau anstellten. Liza war eine intelligente Person. Dennoch hatte Stanford sie so weit gebracht, dass sie es glaubte und verinnerlicht hatte: Sie war ein Nichts. Er war Gott. Den Kampf gegen ihn brauchte sie nicht aufzunehmen, da sie ihn bereits in dem Moment, da sie sich auch nur mit dem Gedanken daran trug, schon verloren hatte.
Er schüttelte den Kopf. Es war nicht der Zeitpunkt, zu philosophieren. Er wusste nicht genau, woran das lag, aber er wurde das Gefühl nicht los, dass die Zeit drängte. Dass Gefahr im Verzug war.
»Wie auch immer«, sagte er. Für den Augenblick würde es Liza sowieso nicht zu vermitteln sein, dass ihr Mann ebenso gut ins Gefängnis wandern konnte wie jeder andere Kriminelle auch. »Woher kennen Sie Tara Caine?«
»Ich kenne sie seit Oktober letzten Jahres«, sagte Liza. »Seit dem 31. Oktober.«
»Also noch nicht lange?«
»Nein. Zweieinhalb Monate etwa.«
Er trat an den Tisch heran, setzte sich Liza gegenüber. Er vibrierte, hätte alle Informationen gern schneller bekommen, beherrschte sich aber. Liza anzufahren barg die Gefahr, dass sie überhaupt nichts mehr sagte.
»Wie haben Sie sie kennengelernt?«
Liza lächelte. »Zufall. Wir waren eingeladen, mein Mann und ich. Fünfundsiebzigster Geburtstag eines ehemaligen Kollegen meines Mannes. Große Feier im Kensington-Hotel. Mein Mann bestand darauf, dass ich mitkomme, obwohl es mir schlecht ging. Ich war nervlich ziemlich am Ende, und außerdem hatte ich mal wieder ein hübsches Veilchen im Gesicht. Das linke Auge. Es war abgeschwollen, aber noch blau umrandet. Man fühlt sich nicht besonders sicher, wenn man so unter die Menschen gehen muss.«
»Nur zu verständlich«, sagte John, »aber Ihr Mann schien das Risiko, dass über Sie und womöglich auch über ihn getuschelt wird, nicht zu scheuen?«
»Er wusste, ich würde die Verletzung irgendwie unkenntlich machen. Wir hatten diese Situation ja nicht zum ersten Mal. Ich besitze ein extrem deckendes Camouflage-Make-up. Wichtigstes Utensil für misshandelte Ehefrauen, wissen Sie. Damit konnte ich das Problem einigermaßen vertuschen.«
»Sie gingen also auf dieses Fest …«
Sie nickte. »Es waren viele Menschen dort. Vor allem natürlich Juristen. Anwälte. Staatsanwälte. Richter. Mein Mann war wie immer der Mittelpunkt, schwang große Reden. Brüstete sich mit seinen Wohltaten. Er hatte im Sommer ein Tennisturnier organisiert, bei dem um Geld für Aidswaisen in Afrika gespielt wurde, und er war damit enorm erfolgreich gewesen, hatte eine hübsche Summe zusammengebracht, und dafür ließ er sich nun feiern. Alle klopften ihm auf die Schulter und betonten, was für ein toller Mensch er doch sei … und ich stand daneben und hätte kotzen können. Wirklich, ich hätte am liebsten mitten in den Raum gekotzt, mitten in die Menge dieser aufgetakelten Leute, die alle glaubten, Gutes zu tun, und in Wahrheit immer nur sich selbst zelebrierten und die überhaupt nicht merkten, wenn unter ihnen jemand war, dem es richtig schlecht ging.«
Er ahnte, was kam. »Staatsanwältin Caine befand sich auch unter den Gästen. Und im Unterschied zu den anderen merkte sie etwas?«
»Es ging mir wirklich nicht gut an dem Abend«, sagte Liza. »Ich fand es unerträglich heiß in dem Raum, und ich hatte plötzlich das Gefühl, dass ich im Gesicht stark schwitzte. Ich bekam Angst um mein Make-up. Verrückt, oder? Eigentlich wäre es doch für meinen Mann peinlich gewesen, wenn plötzlich alle mein blaues Auge gesehen hätten. Aber ich empfand es immer nur als eine Schande für mich.«
»Nach allem, was ich weiß«, sagte John, »geht das vielen Frauen in Ihrer Situation so.«
»Ich flüchtete in die Damentoilette. Zum Glück war dort gerade niemand. Während ich vor dem Spiegel versuchte, mein Make-up zu erneuern, fing ich plötzlich an zu weinen. Es wurde ein richtiger Weinkrampf. Ich war vollkommen entsetzt. Meine Schminke floss an mir hinunter, meine Augen quollen zu … und ich wusste, ich muss gleich wieder zu der Feier zurück. Aber ich konnte nicht aufhören. Ich konnte einfach nicht mehr aufhören.«
Sie schwieg. Ihrem Gesicht war anzusehen, dass sie den Moment wieder vor sich sah – den Moment, der offensichtlich zu einer Veränderung ihres Lebens geführt hatte.
»Dann ging plötzlich die Tür auf«, fuhr sie fort, »und ich erschrak fast zu Tode. Es war Tara, die hereinkam. Ich kannte sie damals noch nicht, aber ich vermutete, dass sie auch zu den Gästen des Geburtstagsfestes gehörte. Es gelang mir nicht mehr, rechtzeitig in eine der Kabinen zu flüchten. Ich hantierte wild mit einem Haufen Kleenextüchern herum und versuchte so zu tun, als hätte ich nur eine Erkältung oder eine Allergie oder irgendetwas … Und dann stand Tara auf einmal hinter mir und fragte, ob sie mir helfen könne. Ich ließ die Kleenextücher sinken. Ich weinte. Wir sahen einander im Spiegel an. Inzwischen war praktisch keine Farbe mehr in meinem völlig verheulten Gesicht. Die Haut um das Auge herum schillerte in allen Tönen. Ich glaube, eine Minute lang sprach niemand, und dann sagte Tara einfach nur: Ihr Mann? Es war Frage und Feststellung in einem. Und zum ersten Mal suchte ich nicht nach einer Ausrede. Nichts von einem Treppensturz, einem Fahrradunfall, einer ungeschickten Kollision mit dem Tennisschläger. Ich hatte nicht die Kraft. Und so nickte ich einfach nur. Und Tara fragte: Sie sind doch die Frau von Logan Stanford? Und ich nickte wieder.«
»Darauf entstand der Plan, dass Sie sich verstecken?«, fragte John.
»Noch nicht«, sagte Liza. »Ich erklärte, ich könne keinesfalls zu der Feier zurück. Tara half mir. Sie schleuste mich ungesehen aus dem Hotel, organisierte ein Taxi und fuhr mit mir nach Hause. Sie bezahlte die Frau, die auf Finley aufgepasst hatte, und komplimentierte sie hinaus, während ich noch im Wagen wartete. Sie machte mir heißen Tee. Und die ganze Zeit über weinte ich.«
»Sie haben ihr dann alles erzählt?«
»Ja. Absolut alles. Es strömte nur so aus mir heraus.«
»Sie ist Staatsanwältin. Theoretisch hätte sie danach ein Verfahren einleiten müssen, ob Sie nun zustimmen oder nicht.«
»Das sagte sie auch. Ich flehte sie an, es nicht zu tun. Schließlich versprach sie, es zu unterlassen. Aber bevor sie ging, sah sie mich an und sagte: Liza, ich werde nicht aufgeben, bis Sie von selbst zur Polizei gehen und ihn anzeigen. Sie müssen diesen Schritt tun. Er ist wichtig. Es geht um Ihr Leben und um Ihre Selbstachtung. Bringen Sie diesen Verbrecher hinter Gitter! So sagte sie wörtlich.«
»Und dann«, vermutete John, »blieb sie an Ihnen dran?«
»Ja. Sie rief mich fast täglich an. Bedrängte mich, ermutigte mich. Manchmal war ich froh, ihre Stimme zu hören. Manchmal fühlte ich mich in die Enge getrieben. Insgesamt … bedeutete es einen Trost für mich, endlich auf einen Menschen gestoßen zu sein, dem es nicht egal war, was aus mir wurde. Auch wenn mir das oft zu intensiv wurde.«
»Sie steigerte sich in die Situation hinein?«
»Ja«, sagte Liza, »und zwar mit einer Heftigkeit, die mich überraschte. Manchmal kam es mir vor, als hasste sie Logan beinahe mehr als ich. Es muss ihr entsetzlich schwergefallen sein, nicht sofort mit Ermittlungen gegen ihn zu beginnen. Andererseits brauchte sie meine Kooperation. Es gab keine Zeugen für unser Gespräch im Waschraum, und die Sache war wackelig, solange ich nicht sicher war, ob ich gegen ihn aussagen würde. Außerdem schien es ihr immens wichtig zu sein, dass der entscheidende Schritt von mir ausging. Sie betonte immer wieder, dass ich mich wehren müsse. Zurückschlagen. Ihn fertig machen. Ich sollte nicht mit dem Gefühl zurückbleiben, von ihr oder der Polizei gerettet worden zu sein. Ich sollte mich selbst retten. Das ist für später ganz, ganz wichtig, Liza, sagte sie immer wieder.«
»Der Gedanke ist sicher nicht verkehrt«, meinte John, »aber insgesamt kommt sie mir Ihrer Beschreibung nach ungewöhnlich emotional vor. Fast scheint es …« Er sprach nicht weiter. Er lenkte Liza nur ab, wenn er spekulierte.
»Was meinen Sie?«, fragte Liza.
»Ich habe überlegt, weshalb sich Tara Caine mit solcher Vehemenz in Ihren Fall hineinkniete. Mir drängt sich der Eindruck auf, dass vielleicht eigene Erfahrungen eine Rolle gespielt haben mögen, aber dafür gibt es im Moment natürlich keinen Beweis.«
»Sie hat nie über sich selbst gesprochen«, sagte Liza. In ihre melancholischen, trostlosen Augen trat ein Ausdruck des Misstrauens. »Was ist überhaupt los? Weshalb interessiert Sie Tara Caine so sehr?«
»Weshalb hat sie Ihnen die Wohnung hier gemietet?«, fragte John anstelle einer Antwort zurück.
»Ach, das ging dann recht schnell«, sagte Liza. »Mitte November eskalierte es wieder einmal zwischen meinem Mann und mir, und ich flehte Tara geradezu hysterisch an, dass sie mir helfen müsse, vor ihm zu fliehen. Zum Glück hatten wir in den Wochen davor so viel und so ausführlich geredet, dass sie einwilligte, Finley zurückzulassen. Er lag ihr sehr am Herzen, aber sie hatte begriffen, dass Logan ihn nie attackieren würde. Er liebt den Jungen abgöttisch. Der einzige Punkt, der für ihn spricht.«
»Trotzdem hat er sich ihm gegenüber verantwortungslos und grausam verhalten«, widersprach John. »Nach meinem Eindruck hat sich Finley in eine völlig eigene Welt zurückgezogen. Es ist unvorstellbar, was dieses Kind all die Jahre über hat ertragen müssen. Auch wenn er selbst nie einen Angriff hat aushalten müssen – seine Seele ist schwer beschädigt.«
»Alle paar Tage ist Tara hier«, sagte Liza. »Sie will, dass ich Logan anzeige. Dass ich die Scheidung einreiche. Mit Finley ein neues Leben beginne. Mich nicht länger verstecke. Ich weiß auch, dass sie recht hat, aber …« Sie schüttelte den Kopf. »Ich bin noch nicht so weit. Und an manchen Tagen glaube ich fast, es wird schlimmer. Ich will mich eher immer tiefer verkriechen, als mich wieder aus der Höhle zu wagen und ihn anzugreifen. Aber Tara lässt nicht locker, und vielleicht hat sie mich irgendwann so weit. Oft denke ich … ich bin ein Projekt für sie. Sie will etwas durchsetzen und erreichen. Aber zumindest hat mich das für den Moment in Sicherheit gebracht.«
Nicht schlecht ausgedrückt, dachte John. Ein Projekt. Das mochte stimmen. Tara Caine zog nicht einfach selbst gegen Logan Stanford zu Felde, obwohl ihr als Staatsanwältin etliche Möglichkeiten offenstehen würden. Sie wollte Liza animieren, es selbst zu tun. Dafür investierte sie Zeit und in nicht unerheblichem Maße Geld. Sollte sie Erfolg haben, war allerdings abzusehen, dass sie alles problemlos wiederbekommen würde: Als geschiedene Frau würde Liza sehr wohlhabend sein.
Geld war jedoch bestimmt nicht Taras Antriebsfeder. John hätte nicht einmal begründen können, weshalb er davon so sicher ausging. Er spürte es einfach. Es ging um irgendetwas, das viel größer war. Viel wichtiger. Viel bedeutungsvoller.
»Haben Sie Tara von Carla Roberts erzählt?«, fragte er. »Und von Anne Westley?«
»Ich habe ihr von beiden erzählt, ja. Tara wollte wissen, ob denn nie jemand in meinem Umfeld etwas gemerkt habe, und ich sagte, nein, nicht dass ich wüsste, aber ich hätte mich zwei Frauen anvertraut in der Hoffnung, es werde etwas geschehen. Aber das hatte ja nicht funktioniert.«
Da war etwas … Er sah es noch nicht ganz klar, aber es war, als komme etwas in seinen Gedanken mehr und mehr in Bewegung, als nähere er sich einer Erkenntnis, die alles einleuchtend und durchschaubar machen würde. Er hatte danach gesucht, im Ermittlerteam hatten sie ebenfalls danach gesucht: nach dem Menschen, der sie alle drei gekannt hatte, alle drei Opfer, die so lange ohne jede Verbindung zueinander erschienen waren. Carla, Anne und Tom. Gillian, die möglicherweise an Toms Stelle hätte sein sollen.
Zum ersten Mal hatte er nun einen Namen, zum ersten Mal, seitdem Samson Segal ins Spiel gekommen war, dem eine Bekanntschaft mit Anne und Carla zumindest nicht hatte nachgewiesen werden können.
Tara Caine.
Die offenkundig besessen davon gewesen war, einer Frau zu helfen, die sich allein nicht hatte helfen können. Und die von jedem im Stich gelassen worden war, an den sie sich in ihrer Not gewandt hatte.
Noch klafften Lücken. Noch vermochte er kein vollständiges Bild zu zeichnen, das ihm den Weg zur Erkenntnis wies.
Aber ich bin dicht dran. Und irgendwie hängt es mit Tara Caine zusammen. Und Gillian ist bei ihr!
Er zog sein Handy hervor. »Entschuldigen Sie«, sagte er, »ich muss kurz telefonieren.«
Er tippte zum zweiten Mal an diesem Tag Gillians Handynummer ein. Wieder nahm niemand den Anruf entgegen. Wieder meldete sich nach einer Weile nur die Mailbox.
Er sprach erneut darauf: »Gillian, ich bin es, John. Bitte ruf mich an. Es ist wichtig. Bitte melde dich doch!«
»Was ist los?«, fragte Liza, die die Dringlichkeit in seiner Stimme vernommen hatte.
Er winkte ab. »Das führt jetzt zu weit. Möglicherweise haben wir ein großes Problem.«
John wusste, dass der Moment gekommen war, an dem er zu Detective Inspector Fielder gehen müsste. Er verfügte inzwischen über Informationen, die er nicht mehr zurückhalten durfte, und er brauchte den Polizeiapparat mit all seinen Möglichkeiten, um weitermachen zu können. Er würde Liza Stanford dabei nicht aus allem heraushalten können. Seine frühere Kollegin Constable Kate Linville möglicherweise auch nicht.
Vielleicht durfte er sich daran nicht mehr stören.
Er stand auf. Bevor er zur Polizei ging, würde er zu Tara Caine fahren. Am Ende saßen die beiden Frauen noch in der Wohnung, und Gillian ging nur deshalb nicht an ihr Handy, weil sie seine Nummer im Display sah und fürchtete, von ihm wieder bedrängt zu werden.
Aber er glaubte das selbst kaum. Als sie zuletzt gesprochen hatten, war Gillian nach eigenen Worten kurz davor gewesen, London zu verlassen. Jetzt war Freitagabend. Sie war wahrscheinlich seit Stunden unterwegs. War Tara bei ihr?
Ihm kam noch ein Gedanke. »Haben Sie die Möglichkeit, Tara telefonisch zu erreichen?«, fragte er.
Es gab keinen Festnetzanschluss in der Wohnung, aber Liza besaß ein Mobiltelefon. Sie tippte Taras Nummer ein und reichte den Apparat dann an John weiter. »Ihre Handynummer. Eine andere habe ich auch nicht.«
Fast erwartungsgemäß meldete sich niemand. Es gab nicht einmal eine Mailbox. John fluchte leise.
»Bitte bleiben Sie hier, Liza«, bat er, während er zur Wohnungstür ging. »Versuchen Sie nicht, überstürzt eine neue Bleibe zu finden oder etwas Ähnliches. Bleiben Sie bitte. Ich brauche Sie vielleicht noch.«
Er hoffte, sie werde ihn nun nicht schwören lassen, keinesfalls zur Polizei zu gehen, aber offenbar kam ihr dieser Gedanke nicht. »Wo sollte ich denn hin?«, fragte sie resigniert. »Ohne Tara kann ich sowieso keine Entscheidungen treffen.«
»Ich melde mich«, versprach er und trat ins Treppenhaus.
Er hörte, wie sie die Tür schloss und zweimal den Schlüssel herumdrehte, während er die Stufen hinunterlief.
11
Es war heiß im Auto. Tara musste die Heizung auf die höchste Stufe gedreht haben. Die dicke Wolldecke, die über ihr lag, tat ein Übriges: Gillian hatte das Gefühl, dass ihr der Schweiß in Strömen am Körper hinunterlief. Die Wolle kratzte auf ihrem Gesicht.
Die Angst, ersticken zu müssen, überflutete sie in Wellen von Panik. Sie brauchte ihre ganze psychische Kraft, die Panik immer wieder von Neuem niederzuringen. Eingesperrt in dieser Hitze, die schwere Decke über Kopf und Körper, den Mund mit Paketklebeband verschlossen, durfte sie nicht durchdrehen. Dann würde sie am Ende tatsächlich keine Luft mehr bekommen.
Sie hatte Tara angebettelt, auf das Klebeband zu verzichten. »Bitte, bitte. Bitte, Tara. Tu mir das nicht an. Ich habe Angst. Bitte!« Sie hatte geschworen, keinen Laut von sich zu geben, aber Tara wollte davon nichts wissen. »Du würdest mir jetzt alles Mögliche versprechen. Vergiss es, Gillian. Ich gehe kein Risiko ein, deinetwegen bestimmt nicht!«
In der Garage, durch einen Pfeiler vor neugierigen Blicken geschützt, hatte sie das Klebeband mehrfach um Gillians Kopf gewickelt. Es war nun fest mit ihren Haaren verpappt, und Gillian konnte sich nur zu gut vorstellen, wie schmerzhaft es sein würde, es wieder zu entfernen. Obwohl dies im Moment keineswegs ihre größte Sorge darstellte. Das Schlimmste war die Luft. Die Angst vor dem Ersticken. Die Angst, erbrechen zu müssen. Schon deshalb durfte sie der Panik keinen Raum geben. Sie neigte zu Übelkeitsattacken, wenn sie sich zu sehr aufregte.
Sie hatte ihre Hände auf dem Rücken kreuzen müssen, dann hatte Tara auch die Handgelenke festgezurrt.
»Wo ist dein Autoschlüssel?«, hatte sie gefragt.
Gillian konnte nur undeutliche Laute von sich geben, hatte aber eine Kopfbewegung in Richtung von Taras parkendem Auto gemacht. Tara verstand. Sie holte die Handtasche ihrer Freundin in die Garage, kramte darin herum. Sie fand den Schlüssel, nahm ihn heraus, stellte die Tasche wieder zurück. Gillian musste an das Handy darin denken, auf dem irgendjemand noch eine knappe halbe Stunde zuvor versucht hatte, sie zu erreichen. Sie würde keine Chance mehr haben, den Anruf zu beantworten.
Tara öffnete Gillians Auto und befahl ihr, sich auf den Beifahrersitz zu setzen. Dann verschloss sie das Auto. Gillian versuchte verzweifelt, das Klebeband von ihren Handgelenken zu lösen, aber sie schaffte es nicht mal, es auch nur ein wenig zu lockern. Dann probierte sie, mit ihren gefesselten Händen die Tür zu entriegeln, aber auch das missglückte. Sie konnte nur dasitzen und warten.
Im Rückspiegel sah sie, dass Tara in ihr eigenes Auto stieg, anfuhr, den Wagen wendete und ihn rückwärts dicht an das offene Garagentor heranfuhr. Ihr dämmerte, dass sie umgeladen werden sollte. Sicher wäre Tara gern in die Garage hineingefahren und hätte alles hinter einem sorgfältig verschlossenen Tor abgewickelt, aber dafür gab es nicht genug Platz. Toms großer BMW versperrte den Raum.
Tara stieg aus, klappte ihren Kofferraumdeckel hoch. Sie zog Gillian aus ihrem Auto.
»Du steigst jetzt in meinen Kofferraum«, befahl sie. »Und keine Tricks!«
Gillian, wehrlos, die Pistole dicht an ihrem Körper, kletterte resigniert in den Kofferraum des Jaguars. Es war nicht viel Platz, sie musste die Embryostellung einnehmen, wobei ihre Knie fast an ihr Kinn stießen.
Sie kämpfte mit den Tränen, als sie spürte, wie Tara nun auch ihre Fußknöchel unbarmherzig verschnürte. Einen ganz kurzen Moment lang spielte sie mit dem Gedanken an Gegenwehr. Tara hatte die Pistole beiseitegelegt und stand vornübergebeugt in der geöffneten Heckklappe des Wagens. Ein gezielter Tritt in den Unterleib würde sie für einen Moment außer Gefecht setzen. Aber dann? Mit auf dem Rücken gefesselten Händen – würde sie schnell genug nach draußen laufen können? Die einstige Freundin würde sich rasch wieder erholen und nur Sekunden brauchen, um die Waffe an sich zu nehmen. Gillian zweifelte nicht, dass Tara ernst machen würde. Ein Schuss in den Kopf. Wie bei Tom.
Es erschien ihr zu riskant. Und gleich darauf waren auch ihre Füße schon gefesselt, und die Sache hatte sich erledigt. Ihre eigentliche Chance hatte sie zuvor gehabt, als ihr plötzlich so unheimlich zumute gewesen war und sie gewusst hatte, dass sie Tara irgendwie loswerden musste. Was ihr geglückt wäre, hätte nicht Samson Segal die unselige Idee gehabt, sie zu warnen. Wie kam er bloß darauf, Tara zu verdächtigen? Zweifellos hatte er damit recht, aber wie, zum Teufel, war er ihr auf die Schliche gekommen? Und er hatte von wir gesprochen. Mit wem machte er gemeinsame Sache?
Tara zog eine dicke Wolldecke aus dem Kofferraum von Gillians Wagen und warf sie über die gefesselte Frau.
»Damit du nicht frierst«, sagte sie. »Wer weiß, wie lange wir unterwegs sind.«
Schon wieder wollten Gillians Augen überlaufen, nicht nur, weil die dicke Wolle ihr das Atmen erschwerte, sondern auch, weil eine Erinnerung an glückliche Zeiten in ihr aufwallte: Die Decke stammte ursprünglich aus dem Auto, das Tom in seinen Studententagen besessen hatte, die unmögliche Rostlaube, die nur auf gutes Zureden hin ansprang und aus deren zerschlissenem Rücksitz der Schaumstoff quoll; daher hatte Tom dort die Decke ausgebreitet. Sie hatten einander gerade erst kennengelernt und waren so verliebt gewesen, dass sie beständig nur auf Wolken wandelten, und eines Tages im Mai waren sie ans Meer gefahren und dort geschwommen. Gillian entsann sich des eiskalten Wassers und der noch sehr frühlingshaft frischen Luft draußen. Sie hatte zu lange herumgeplantscht und hinterher geschlottert vor Kälte, sie hatte blaue Lippen gehabt und ihre Zähne waren willenlos aufeinandergeschlagen. Tom hatte schließlich die Decke vom Rücksitz geholt und sie darin eingewickelt, und zusätzlich hatte er beide Arme um sie geschlungen und versucht, ihr etwas von seiner Körperwärme abzugeben. So hatten sie eine halbe Ewigkeit am Strand gesessen, in einer einsamen Bucht, in der sich kleine Krebse im Sand eingruben, Seevögel herumstolzierten und glitschiger grüner Tang in glänzenden Schlieren über flachen Felsen lag. Der Himmel spiegelte sich in den Pfützen, die von der letzten Flut zurückgeblieben waren. Seltsamerweise war Gillian die Situation als unfassbar romantisch erschienen, als vollkommenes Glück, von dem sie wusste, dass sie es niemals vergessen würde. Als Tom Jahre später die alte Decke nicht mehr in seinem schicken BMW haben wollte, hatte Gillian sie schließlich in den Kofferraum ihres Autos gelegt.
Während die Heckklappe zugeschlagen wurde, Tara ihren Wagen ein Stück nach vorne setzte, dann wieder ausstieg und das Garagentor schloss, dachte Gillian, dass sie, selbst wenn sie diese ganze Geschichte überleben sollte, niemals wieder ein normales Leben würde führen können. Die Erlebnisse wogen zu schwer, sie würden immer da sein. So wie die Erinnerung an Tom und das Meer und den kalten Maitag immer da gewesen war. Darüber hatten sich nun andere Bilder geschoben: der ermordete Tom, der so seltsam verrenkt über dem Stuhl im Esszimmer lag. Der Abend mit Luke Palm, als sie geglaubt hatte, eine Gestalt im Haus zu sehen.
Samson Segals Stimme auf dem Anrufbeantworter.
Taras tote Augen.
Von jetzt an würde das ihre Wirklichkeit sein.
Und sie hätte alles gegeben, in ihre frühere Normalität zurückkehren zu können, in eben diese Welt, mit der sie gehadert hatte. Sie wollte nur ihr Leben wiederhaben. Ihr Leben, wie es gewesen war. Nichts anderes ersehnte sie.
Während der Wagen wieder anfuhr, überlegte Gillian, wie ihre Chancen standen, und kam zu eher trostlosen Ergebnissen. Wann würde man sie vermissen? Ihre Eltern und Becky würden wahrscheinlich irgendwann anrufen und sich nach dem zweiten oder dritten Versuch wundern, dass sie weder die Anrufe annahm noch sich zurückmeldete. Aber dann? Wie sollten sie sie jemals finden?
Luke Palm würde ebenfalls den Kontakt suchen, spätestens dann, wenn es Interessenten für das Haus gab oder Fragen zu dem einen oder anderen Detail aufkamen. Er wusste zumindest, dass sie an jenem Abend zu ihrer Freundin gezogen war – wobei er deren Namen und Identität nicht kannte. Allerdings ihre Adresse, er hatte sie schließlich dort abgesetzt. Würde er sich an die Polizei wenden, weil ihm ihr Verschwinden seltsam vorkam?
Und dann?
Sie hatte John gesagt, dass sie sich in ein Hotel auf dem Land zurückziehen wollte. Wenn er das der Polizei mitteilte, würde man ihr Verschwinden vielleicht gar nicht weiter untersuchen: Man würde annehmen, dass sie ihrem Plan gefolgt war und offensichtlich nicht gestört werden wollte. Genau das, was man bei einer traumatisierten Frau, deren Ehemann ermordet worden war, erwarten konnte. Allerdings stand ihr Auto in der Garage. Aber würde überhaupt jemand dort nachsehen? Außerdem konnte sie auch den Zug genommen haben. Bei den derzeitigen Witterungsverhältnissen durchaus vorstellbar.
Einen Hoffnungsschimmer gab es: Samson Segal, der Blödmann, dem sie ihre augenblickliche heikle Lage verdankte, war aus vollkommen unerfindlichen, aber ganz offensichtlich goldrichtigen Gründen darauf gekommen, dass Tara Caine eine Gefahr darstellte. Aber was würde er letztlich mit diesem Wissen anfangen?
Was hatte Tara vor? Sie hätte sie leicht auf der Stelle, noch im Haus, erschießen können. War es ein gutes Zeichen, dass sie es nicht getan hatte? Nicht unbedingt, entschied Gillian verzweifelt. Tara war nicht dumm. Sie hatte die Warnung auf dem Anrufbeantworter gehört. Sie wusste, dass Luke Palm mitbekommen hatte, wohin Gillian in jener Nacht geflüchtet war. Auch mochten Nachbarn ihre und Gillians Ankunft am Nachmittag beobachtet haben. Hätte man irgendwann in den folgenden Tagen Gillians Leiche in ihrem Haus gefunden, wäre Tara zumindest eindringlich befragt worden. Die Situation hätte kritisch für sie werden können. Nein, Tara wollte genau das tun, was sie angekündigt hatte: einen sicheren Ort finden und dann überlegen, wie sie nun am besten weiterverfuhr. Die Dinge waren ihr aus dem Ruder gelaufen. Sie hatte sich wegen Luke Palm verquasselt, und dann war noch Samsons Anruf erfolgt.
Inzwischen hatte sie ihrer einstigen Freundin gegenüber praktisch schon ein Geständnis abgelegt. Was darauf schließen ließ, dass sie Gillian nicht als jemanden sah, der noch die Gelegenheit haben würde, dieses Wissen weiterzugeben.
Sie kann mich gar nicht laufen lassen, dachte Gillian, sie kann jetzt nur noch versuchen, mich auf eine Art verschwinden zu lassen, bei der kein Verdacht auf sie fällt. Um etwas anderes kann es ihr nicht gehen.
Bei diesem Gedanken fiel ihr das Atmen schlagartig noch schwerer. Die Decke schien sich bleischwer auf ihr Gesicht zu pressen, das Klebeband erstickte sie nicht nur dadurch, dass es ihren Mund grausam verschloss, sondern auch mit dem betäubenden Geruch nach Klebstoff, den es abgab. Das Auto fuhr an, stoppte, fuhr an. Stadtverkehr. Früher Freitagabend. Sie würden Stop-and-go fahren, bis sie die Stadtgrenze erreicht hatten, mindestens. Auch auf den Autobahnen konnte es Staus geben. Das Schlimme daran war die übelkeitauslösende Wirkung. Die Hitze, der Geruch, das Geruckel des Wagens ließen Gillians Magen Kapriolen drehen. Sie konnte von Glück sagen, dass sie den ganzen Tag über kaum etwas gegessen hatte. Trotzdem würde sich der Brechreiz steigern.
Denk nicht daran, ermahnte sie sich unter Aufbietung aller Willenskraft. Konzentrier dich auf etwas anderes.
Gedämpft konnte sie die Stimme eines Radiomoderators vernehmen. Er verlas gerade den Wetterbericht. Es würde sehr kalt werden in den kommenden Tagen. Neuschnee war nicht zu erwarten, dennoch empfahl er den Autofahrern, daheimzubleiben, wenn sie nicht unbedingt nach draußen mussten. Die Räumdienste kämpften noch mit der Hinterlassenschaft des letzten Schneeeinbruchs.
Dann setzte Musik ein.
Gillian glaubte sogar zu hören, dass Tara die Melodie mitsummte.
Man bekommt immer eine zweite Chance, dachte sie, halte dich bereit, deine zu nutzen.
Sie schob den Gedanken beiseite, der sich ihr sofort aufdrängte: Blöder Spruch, das mit der zweiten Chance. Es stand nirgendwo geschrieben, dass man die bekam.
Manchmal hatte man nicht mal eine einzige.
12
Er hatte erwartet, dass bei Tara Caine niemand zu Hause war. Trotzdem hatte er ein paar Mal geklingelt, war schließlich bis zur Straße zurückgetreten und hatte hinaufgespäht. Taras Balkon. Dahinter die Scheiben des Wohnzimmerfensters. Alles war dunkel. Das neben dem Balkon befindliche kleinere Fenster musste ebenfalls zu ihrer Wohnung gehören, und auch dort brannte kein Licht.
Es war der Moment, zur Polizei zu gehen.
John setzte sich wieder in sein Auto.
Er dachte an den Abend, an dem er Gillian hierher zurückgefahren hatte. Anfang Januar. Sie hatte ein paar Sachen aus ihrem Haus geholt, sah sich zum ersten Mal wieder mit dem Ort konfrontiert, an dem ihr Ehemann gewaltsam ums Leben gekommen war. Er hatte ihr geholfen, die Sachen nach oben zu tragen, aber sie wollte nicht, dass er noch mit in die Wohnung kam. Was er verstand: Becky war dort, verstört und vollkommen durcheinander. Und hellhörig. Sie sollte nicht unmittelbar nach dem Tod ihres Vaters einen anderen Mann an der Seite ihrer Mutter erleben, auch wenn dieser nur als hilfsbereiter Freund auftrat. Sie hätte wittern können, dass mehr dahintersteckte. Zumindest hatte Gillian diese Befürchtung zum Ausdruck gebracht, und John hatte ihre Sorge respektiert.
Jetzt, mit einem erneuten Blick hinauf zu der dunklen Wohnung, dachte er: Vielleicht ging es für sie gar nicht nur um Becky. Vielleicht gab es damals schon ein ungutes Gefühl gegenüber Tara. Vielleicht hatte die bereits begonnen, gegen mich Front zu machen.
Doch nein, das konnte nicht sein. Erst an jenem Abend, so entsann er sich, hatte Gillian Tara von den Vorkommnissen erzählt, die für Johns Ausscheiden aus dem Polizeidienst verantwortlich waren. Daraufhin hatten sich die beiden Frauen gestritten. Tara hatte absolutes Unverständnis darüber geäußert, dass sich Gillian mit einem Mann einließ, auf dessen Vorgeschichte das Wort Vergewaltigung wie ein hässlicher Fleck prangte; ein Fleck, der trotz allem, was geschehen war, um ihn zu entkräften, nie ganz seine Umrisse verloren hatte. Tara musste recht heftig geworden sein. Denn unmittelbar darauf hatte Gillian Becky nach Norwich zu den Großeltern geschickt und war in ihr Haus zurückgekehrt – gegen den Rat eines jeden Menschen, der es gut mit ihr meinte.
Warum wurde er das Gefühl nicht los, dass er gerade an dieser Stelle etwas übersah?
Ich habe Tara erzählt, dass du früher bei der Polizei warst. Und wie es kommt, dass du dort jetzt nicht mehr bist …
Er konnte Gillians Stimme deutlich hören. Er hatte sich gewundert, weshalb sie nach Hause zurückgekehrt war, und sie versuchte, es ihm zu erklären. Sie hatte sich unbehaglich gefühlt, weil es mit der dummen Geschichte von damals zu tun hatte, weil sie ihn mit der Erkenntnis konfrontieren musste, dass die ganze leidige Sache noch immer an ihm klebte, ihm noch immer Misstrauen und Vorbehalte einbrachte und das vermutlich auch immer tun würde.
Sie fiel aus allen Wolken …
Er richtete sich auf.
An genau dieser Stelle stimmte etwas nicht.
Sie fiel aus allen Wolken …
Was hatte ihm Kate berichtet? Tara Caine hatte die Akte Burton angefordert und gelesen, und zwar bereits im Dezember. Sie hatte sie, so Kate, noch vor Weihnachten wieder zurückgegeben. Das bedeutete, dass sie an jenem Donnerstag Anfang Januar, als Gillian ihr von den Ermittlungen gegen John berichtet hatte, längst Bescheid wusste. Und zwar detailliert, denn sie hatte sich über jeden einzelnen Punkt des gesamten Vorganges haarklein informiert. Wenn sie aus allen Wolken gefallen war, dann hatte sie bloß so getan als ob. Ihr jähes Erschrecken musste sie Gillian vorgespielt haben.
Warum?
Vielleicht hatte sie unter allen Umständen verbergen wollen, dass sie spioniert hatte. John vermutete, dass ihr bei der Erwähnung des Namens Burton irgendeine vage Erinnerung gekommen war – vermutlich an ein Gespräch mit einem Kollegen oder an etwas, das sie irgendwo auf dem Gang aufgeschnappt hatte. Sie hatte sich informiert … und ihr Wissen für sich behalten. Zu diesem Zeitpunkt musste sie noch davon ausgehen, dass Gillian keine Ahnung hatte. Wäre es für sie als beste Freundin nicht normal gewesen, sofort zu erzählen, was sie herausgefunden hatte? Offenbar war sie von Johns Unschuld keineswegs überzeugt, zumindest sah sie in ihm noch immer eine Gefahr. Weshalb schwieg sie und spielte später die völlig Überraschte?
John wusste, dass aus all dem noch nichts zu konstruieren war, was Tara wirklich belastet hätte. Man konnte sich eine Reihe harmloser Erklärungen für ihr Verhalten vorstellen, und auch ihr Engagement im Falle Liza Stanford rückte sie nicht automatisch an die Stelle einer Tatverdächtigen. Dennoch alarmierte ihn diese Häufung seltsamer Geschehnisse.
Und ihn ängstigte die Tatsache, dass beide Frauen plötzlich spurlos verschwunden waren.
Kurz entschlossen ließ er den Motor an und wendete den Wagen ziemlich waghalsig auf der Straße, was ihm das wütende Hupen eines anderen Autofahrers einbrachte.
Er fuhr Richtung Scotland Yard.