8

Meine Mutter schluckt, ihre Finger umschließen meine, als ich sie wegziehen will. »Warte, Gabrielle«, sagt sie, aber ich entreiße ihr meine Hand.

»Was meinst du damit: als du mich gefunden hast?« Panik schießt mir durch die Adern, füllt meine Lungen und erstickt mich. Ich falle zurück, der feuchte Sand hat meinen Rock schnell durchnässt, die Haut an meinen Beinen wird eiskalt. Wasser spritzt, als meine Mutter nach mir greifen will, aber ich rücke immer weiter von ihr ab. Nichts ergibt mehr einen Sinn, und ich schüttele den Kopf, weil ich hoffe, dass die Teile so schneller wieder an ihren Platz fallen.

»Warte«, sagt sie noch einmal. Die Wellen umspülen uns, drängen sich zwischen uns. Ich starre sie an, sie erwidert meinen Blick. Sie streckt mir ihre Hand hin wie einem scheuen Hund, und ich begreife, welch schreckliche Angst ich vor dem habe, was sie mir jetzt erzählen wird. Ich will ihr sagen, dass sie aufhören und diesen ganzen Abend vergessen soll. Aber diese Worte wollen mir nicht über die Lippen.

»Du wurdest im Wald der tausend Augen geboren«, sagt sie schließlich. Ihre Finger zittern in der Luft, Salzwasser tropft von ihnen herunter wie Tränen. »Da habe ich dich gefunden. Du hattest dich verirrt und warst allein, und du schienst unter Schock zu stehen, deshalb habe ich dich mit nach Hause genommen.«

»Wie?« Ich spreche die Frage nicht mal aus, bilde nur das Wort mit den Lippen.

»Du warst auf dem Pfad.« Ich will mir die Ohren zuhalten und abwehren, was sie sagt, aber es kommt zu schnell, wie eine Wasserwand, vor der ich nicht weglaufen kann. »Ich hatte Vista schon Jahre zuvor verlassen, ich musste immer an mein Dorf denken, und deshalb beschloss ich, zurückzugehen. Ich wollte sie suchen, die anderen, die ich zurückgelassen hatte. Ich habe dich gefunden, sonst war da niemand. Du warst ein Kind – und beinahe katatonisch. Ich wusste nicht, was ich tun sollte. Ich bekam Angst und bin gerannt.

Du warst so krank und brauchtest Hilfe, deshalb kam ich zurück nach Vista. Ich wusste nicht, wo ich sonst hinsollte. Roger, der alte Leuchtturmwärter, war im Vorjahr gestorben. Ich sagte dem Rat, du seiest mein Kind, und Roger habe mir alles beigebracht, und ich würde seine Arbeit übernehmen. Niemand weiß, dass du eigentlich nicht mein Kind bist. Niemand außer mir.«

Ich starre sie dumpf an und beobachte die Tropfen, die ihr vom Kinn rollen. Wo sie ins Wasser fallen, breiten sich Kreise aus.

»Warum hast du es mir nicht erzählt?« Das ist das Einzige, was ich sagen kann, die einzigen Wörter, die ich aus dem Chaos in meinem Kopf ziehen kann. Jede Erinnerung, jeder Augenblick in dieser Stadt schießt mir durch den Kopf – ich kann das alles nicht begreifen.

Sie schaut auf ihre zitternden Hände, die immer noch unschlüssig zwischen uns schweben. »Weil ich mich nicht erinnern wollte«, flüstert sie.

In mir rast die Wut. »Und warum erzählst du mir das jetzt?«

Die Wellen brechen um uns herum, das Licht verliert den Kampf gegen den Abend. »Weil du recht hast«, sagt sie. »Wir sind nicht mehr als unsere Geschichten und was wir lieben, was wir weitergeben, wie wir existieren … Leute sollen sich daran erinnern, wer wir sind. Darin sind wir furchtbar schlecht in dieser Welt. Im Erinnern. Im Weitergeben. Und es ist nicht fair, dass ich die Einzige bin, die deine ganze Geschichte kennt.«

Ich spüre jedes einzelne Sandkorn, das sich in meine Haut drückt. Ich fühle mich, als wäre ich ein riesiges Ganzes gewesen, das nun zertrümmert und in die Nacht verstreut worden ist. Nichts ist stark genug, um mich wieder herzustellen.

In dieser Dunkelheit, in der es weder Sterne noch Licht gibt, lehnt sie sich zu mir. »Du wirst immer meine Tochter sein, Gabrielle. Du bist die Tochter meines Herzens.«

Ihre Worte treffen mich wie eine Faust auf die Brust, in mir explodiert etwas Gleißendes. Ich hatte einmal eine andere Mutter. Ich gehörte einmal zu jemand anderem. Eine andere Frau hat mich getröstet. Eine andere Mutter hat mich in den Armen gehalten, wenn ich geweint und gelacht habe.

Ich schließe die Augen. Ich versuche mich an sie zu erinnern und an ein anderes Leben, eine andere Stimme, einen anderen Geruch. Aber ich sehe nichts.

Ich kann mich jetzt an nichts mehr erinnern. Nur ein Gedanke fängt an, in mir zu wachsen, er drängt sich an Verwirrung und Wut vorbei. »Wer bin ich?«

Sie legt mir die Hand auf die Füße, die Beine, kriecht heran, um mir die Arme um die Schultern zu legen. Ich will sie mir von der Haut reißen. »Du bist meine Tochter. Du bist Gabrielle.«

»Aber ich war einmal jemand anders!« Ich brülle die Worte, sie muss begreifen, dass sie mir alles genommen hat.

»Nein. Du warst immer mein kleines Mädchen.« Ich kann ihre Tränen in ihrer zitternden Stimme hören. »So hat meine Mutter mich immer genannt. Ihr kleines Mädchen. Das hat sie zu mir gesagt, als sie …« Ihre Stimme geht in den Wellen unter.

Ich presse die Handflächen auf die Augen, Unglaube, Wut und Verwirrung toben in mir. »Davor war ich das kleine Mädchen von jemand anderem«, sage ich. Jeder Muskel in meinem Körper spannt sich an. Ich rücke von ihr ab und stehe auf, der nasse Stoff meines Rocks klebt mir an den Beinen. In einem engen Kreis stapfe ich durchs Wasser, trete den salzigen Schaum und will die Welt Stück für Stück zerreißen.

»Du warst allein im Wald«, sagt sie. »Da war sonst niemand. Ich habe nachgesehen. Du warst am Verhungern und kaum noch bei Bewusstsein. Du warst erst vier oder fünf Jahre alt! Und nachdem ich dich hierhergebracht hatte, hast du einen Monat lang nicht gesprochen, und nicht mal dann war ich sicher, ob du überleben würdest. Du konntest mir ja nicht mal richtig deinen Namen sagen!«

Ich bleibe stehen und starre sie verstört an. »Mein Name?« Ich habe nichts aus meinem Leben davor, nicht einmal etwas so Elementares wie meinen Namen? Ich atme tief ein, doch ich habe das Gefühl, dass meine Lungen die Luft nicht fassen können.

»Gabrielle … ist nicht mein Name?«

Der Mond kriecht gerade erst über den Horizont, aber trotzdem liegt sein schwacher Widerschein auf ihrem Gesicht. Sie wirkt gleichzeitig jung und alt, und ich frage mich, wie ich je glauben konnte, dass ich ihr leibliches Kind bin. Meine Haare sind blond und von der Sommersonne fast weiß gebleicht, ihre hingegen schwarz und jetzt im Alter von grauen Strähnen durchzogen. Ihre Haut ist blass, meine bräunlich, ihre Augen sind dunkel, während meine hell sind.

Aber welcher Jugendliche zweifelt denn daran, das Kind seiner eigenen Mutter zu sein? Wie hätte ich darauf kommen sollen, dass meine Mutter mir verschwiegen hat, wer ich bin?

Sie steht auf und stellt sich vor mich. »Wenn ich dich gefragt habe, hast du etwas gesagt, aber ich konnte es nicht verstehen«, flüstert sie. »Du wolltest mir nichts erzählen. Ich hatte keine Wahl. Ich wusste nicht, was ich sonst machen sollte.«

»Warum Gabrielle?«, frage ich. Das ist das Einzige, auf das ich mich konzentrieren kann, während ich versuche, jede Erinnerung meines Lebens neu zu ordnen, den Erzählungen meiner Mutter auf den Zahn zu fühlen.

Meine Mutter tritt zurück, ihr Mund ist ein wenig verzerrt, als ob die Frage sie überraschen würde. »Sie war ein Mädchen, das ich gekannt habe, als ich in deinem Alter war«, sagt sie langsam und leise, als ob sie diese Brücke zwischen uns wieder aufbauen könnte. »Sie war aus dem Wald wie du, aber keiner wusste, woher sie kam. Und ich war die Einzige, die wusste, dass sie aus dem Wald war.« Tränen tropfen ihr aus den Augen. »Wegen ihr bin ich aus meinem Dorf geflüchtet. Wegen ihr habe ich das Meer gefunden.

Hör mir zu, Gabrielle, es tut mir leid.« Sie streckt die Hand nach mir aus, aber ich entziehe mich. »Bitte«, sagt sie.

»Nein!« Ich schüttele den Kopf. Zu viel um mich herum zerfällt. Alles geschieht zu schnell: Catchers Biss, Ciras Strafeinsatz bei den Rekrutern und jetzt das. Alles, was ich je gekannt habe, hat sich unter mir verschoben, und ich weiß nicht mal mehr, wie ich gerade stehen soll. »Du hättest es mir sagen sollen!«, schreie ich sie an. »Ich hatte das Recht, es zu wissen!«

»Ich hielt es für das Beste. Ich dachte …« Sie schluckt. »Ich hatte alles auf der Welt verloren, und ich dachte, Gott würde mir etwas geben, das ich behalten konnte. Ich dachte … ich dachte, er würde mir noch mal die Chance geben zu lieben.«

»Du warst egoistisch!«, brülle ich, die Worte schmerzen in meiner vom Schluchzen wunden Kehle. »Ich gehörte dir nicht. Ich war die Tochter einer anderen.«

»Du wärst gestorben«, sagt sie flehend und streckt mir die Hand hin. »Ich habe dich gerettet.«

Ich presse die Fäuste an meinen Kopf und will kreischen, schreien und brüllen. Sie hat recht, das weiß ich. Etwas Furchtbares wäre passiert, wenn ich auf diesem Pfad zurückgelassen worden wäre. Ich hätte gebissen und infiziert werden können, wäre irgendwann verhungert. Aber das spielt jetzt keine Rolle für mich. Was zählt, ist, dass sie mir bis jetzt nie etwas davon erzählt hat – und dass sie es wahrscheinlich nie getan hätte.

Wichtig ist, dass sie mich mein ganzes Leben lang belogen hat. Alles, was ich je über mich gewusst oder gedacht habe, ist verkehrt – gefälscht. Und jetzt gerade weiß ich nicht, worauf ich mich verlassen kann, deshalb habe ich das Gefühl, ausgesetzt worden zu sein – vom Ufer weggestoßen zu sein, um allein mit den Wellen zu kämpfen.

Ich weiß nicht, wie ich ihr das begreiflich machen kann. »Wie kannst du mir sagen, dass ich das alles loslassen soll? Als ob die Vergangenheit unwichtig wäre?« Mit zitterndem Finger zeige ich auf sie. »Du willst einfach nur vergessen, was vorher gewesen ist, aber so funktioniert das nicht. Ich kann die Menschen nicht vergessen, die ich geliebt habe und die mich liebten. Vielleicht geht es dir gut damit, wenn du dir nimmst, was du brauchst, und alles andere vergisst. Wenn du die Menschen, die du liebst, zum Sterben draußen im Wald zurücklässt. Aber ich bin nicht so. Mein Leben ist nicht so.« Ich keuche.

Die Wangen meiner Mutter leuchten dunkelrot in ihrem weißen Gesicht, als hätte ich sie geohrfeigt.

Ich schlucke. Ich bin zu weit gegangen. Habe die Kontrolle verloren und meine Gefühle mit mir durchgehen lassen.

Verzweifelt raufe ich mir die Haare. Ich weiß nicht, wie ich ihr klarmachen soll, wie grundlegend diese Information alles verändert, was mich betrifft und wie ich mich gekannt habe. Ich war immer Marys Tochter. Und ich muss ständig daran denken, wer ich in Catchers Gegenwart bin – er hat mir das Gefühl gegeben, irgendwie wichtig zu sein.

Das hat sie mir alles genommen. Die Hoffnung, dass ich mehr so sein könnte wie sie. Die Vorstellung, dass etwas von ihr in mir steckt.

Die Tatsache, dass ich ihr gehöre.

Mit erhobenen Händen gehe ich rückwärts, als könnte ich die Luft wegdrücken … und dann wäre sie verschwunden. »Ich weiß nicht, ob ich dir je vergeben kann«, sage ich.

»Gabrielle.« Ihre Stimme ist leise und ruhig, ihre Augen verengen sich.

»Nein«, sage ich kopfschüttelnd. »Die bin ich nicht. Ich weiß nicht mal, ob ich überhaupt noch Gabrielle sein will.«

»Es tut mir leid«, erwidert sie. »Ich liebe dich.«

Sie wartet darauf, dass ich ihr sage, dass ich sie auch liebe. Sie wartet darauf, dass ich ihr vergebe. Aber ich kann mich nur umdrehen und weglaufen, den Strand entlang. Ich habe meine Mutter bisher noch nie gehasst, und es fühlt sich an, als würde ein tiefes schwarzes Nichts mich von innen her zusammenfallen lassen.

Ich laufe weiter, bis ich die massige Barriere vor mir aufragen sehe. Lichter springen im Dunkeln daran entlang, die Wachen der Miliz im Einsatz. Meine Schultern heben und senken sich, während ich die Wand anstarre und wieder zu Atem komme. Das hier ist der Dreh- und Angelpunkt.

Hier hat alles angefangen. Wenn ich nicht darübergeklettert wäre, hätte ich Catcher nie geküsst. Ich hätte nicht erfahren, dass wir dasselbe füreinander empfinden. Er wäre nie gebissen worden. Ich hätte nie mit meiner Mutter über Liebe gesprochen, und sie hätte mir nie die Wahrheit gesagt.

Wenn es nicht durch Zufall geschehen wäre, hätte sie mir dann je davon erzählt?

Dem will ich nicht ins Auge sehen, will mich dem nicht stellen. Es ist zu viel, und es muss einfach aufhören. Ich muss wieder zu Atem kommen und mir überlegen, was ich tun soll.

Aber die Erde dreht sich weiter, die Wellen rauschen, der Scheinwerfer im Leuchtturm rotiert. Nichts hält an, nur weil ich finde, dass es das tun sollte. Nur weil ich nicht aus noch ein weiß.

Frustration wallt in mir auf. Wenn ich mich doch nur einfach hier im Sand zusammenrollen, mich in ein Schneckenhaus verkriechen und vergessen könnte. Wenn ich mir doch keine Sorgen machen müsste.

Ich denke an meine Mutter, sie hat gesagt, das Leben sei nach dem Vergessen so viel einfacher. Aber wenn ich nur versuche, Catcher aus meinem Kopf zu verbannen, denke ich an ihn. Ich denke daran, wie rau sich sein Kinn an meinem Hals angefühlt hat. Ich denke daran, dass ich Cira versprochen habe, ihn zu finden.

Schritte kommen näher, ich schaue auf. Daniel und zwei andere Milizionäre gehen auf mich zu, sie halten ihre Laternen hoch, die Schatten auf ihre Wangen und Augen werfen. Ich sehe genau, in welchem Augenblick Daniel mich erkennt, er zieht die Augenbrauen in die Höhe, und seine Schritte werden unsicher. Er streckt mir seine Hand hin, die anderen Milizionäre verschwinden im Hintergrund.

»Gabry«, sagt er besorgt. Aber mein Name auf seinen Lippen ist eine Lüge – mein Name ist nichts mehr. Er gehört mir nicht, und ich stoße mich an der Barriere ab und renne den Strand hinunter.

»Gabry, warte!«, ruft Daniel mir hinterher, aber ich bleibe nicht stehen, und seine Stimme verhallt hinter mir – mit ihr mein Name.

Ich kämpfe mich durch den dicken Sand, meine Beine schmerzen vor Anstrengung, als ich am Leuchtturm ankomme. Meine Lungen brennen, die Muskeln zucken, aber meine Gedanken sind immer noch in Aufruhr. Ich schaue hoch. Licht schweift über den Himmel.

Dieser Ort war immer mein Zuhause. Und trotzdem weiß ich jetzt nicht mehr, was er nun noch für mich ist. Ich weiß ja nicht einmal, wer ich bin.

Alles wirkt so entrückt, so hoffnungslos, und was ich bewältigen muss, lastet zu schwer auf mir. In der Dunkelheit liegen die Überreste des Segelbootes meiner Mutter und erinnern mich an die Tage mit ihr draußen auf dem Wasser. Plötzlich wird alles klar, ich muss Catcher finden. Und das geht nur, wenn ich aufs Meer hinausfahre.