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Im Zentrum des Vergnügungsparks holen wir die anderen ein, eines der Mädchen redet gerade über die Dunkle Stadt. Sie heißt Mellie und ist zwei Jahre älter als ich. Mit ausgestreckten Armen wirbelt sie durch die Dunkelheit, ihre Finger streifen die stillstehende Luft. »Beim ersten Schnee mache ich mich auf«, sagt sie.
Das Licht des Vollmondes wird vom geborstenen Beton auf dem Boden reflektiert. Es bahnt sich seinen Weg um die Senken und Kurven der alten Achterbahn herum.
Ich recke den Hals, um zur Bahn hochzuschauen. Bisher habe ich sie immer nur aus der Ferne gesehen, ihre Höcker ragen aus den Ruinen wie der Rücken dieses Schlangenmonsters, von dem man uns in der Schule erzählt hat.
Wie es wohl damals war, wenn man auf dieser Achterbahn fuhr, wenn man unmittelbar vor der abschüssigen Strecke über die Welt hinter den Zäunen schaute? Was mag wohl erschreckender sein: das Gefühl, einem wird der Boden unter den Füßen weggezogen, oder das Bild von der besten Freundin, die sich mit gebleckten Zähnen und gekrümmten Fingern gegen den Zaun wirft, und die Kakophonie des Stöhnens?
Ich blicke in die Schatten, die andere Karussells und die alten Gebäude werfen, die demontiert worden sind oder eingestürzt. In der Dunkelheit hat alles unscharfe Umrisse, und ich bekomme Angst vor dem, was sich außerhalb meiner unmittelbaren Reichweite verbergen könnte.
»Stellt euch das mal vor, all die Leute in der Dunklen Stadt«, sagt Mellie und schaut zu den Sternen hoch. »So viele Möglichkeiten, so viele Männer.« Ihre Stimme klingt wie ein Lied. Einer der Jungs, ein Rotschopf namens Griffin, tritt auf sie zu, nimmt ihre Hände und stimmt ein.
»Sind wir dir nicht genug?« Er lacht und schwenkt sie immer schneller herum, und sie legt den Kopf noch weiter zurück, sodass sich das Mondlicht über ihren Hals ergießt.
Ich will wegschauen, es kommt mir vor, als würde ich einen intimen Tanz beobachten, aber ich kann nicht. Mein ganzes Leben lang habe ich Menschen von der Dunklen Stadt reden hören. Obwohl man einen Fußmarsch von über zwei Wochen die Küste entlang auf sich nehmen muss, ist das die nächstgelegene Stadt, eine der letzten befestigten Bastionen aus der Zeit vor der Rückkehr. Die Dunkle Stadt ist der Sitz des Protektorats, der freien konföderierten Regierung. Aber ich habe nie daran gedacht, dort hinzugehen, bin nie auf den Gedanken gekommen, dass ich es je schaffen könnte, die hohen Abgaben für den Aufenthalt dort aufzubringen.
»In diesen alten Gebäuden zu wohnen! Könnt ihr euch das vorstellen?«, sagt ein anderes Mädchen. Sie geht zu Mellie und Griffin. »Ich habe gehört, einige von ihnen haben vierzig Stockwerke oder noch mehr.« Sie senkt den Kopf, schaut Griffin unter halb geschlossenen Lidern von unten an – der Mellie prompt stehen lässt und dieses neue Mädchen mit einem breiten Grinsen in seine Arme schließt. Ihr Lachen hallt fast zu laut in der Dunkelheit.
Mir ist nur allzu bewusst, dass Catcher neben mir steht, und sicher sehe ich auch genauso unbeholfen aus, wie ich mich fühle. Mellie wirkt so anmutig, so frei und schön. Ob Catcher auch so tanzen möchte wie die anderen? Wünscht er sich vielleicht, ich wäre mehr wie die anderen Mädchen? Ich kann mir nicht mal vorstellen, wie es sich anfühlen würde, mit ausgebreiteten Armen in der Nacht herumzuwirbeln, ohne mich um dunkle Ecken zu sorgen oder Mudo und Tod. Ich schaue hinüber zu Cira, sie hat ihren Kopf an einen von Catchers Freunden gelehnt, sie scheinen ihre Umgebung nicht wahrzunehmen.
Ich verschränke die Arme vor der Brust und halte mich an meinen Ellenbogen fest; ich habe eine Gänsehaut.
Wie muss es hier gewesen sein zur Zeit der Rückkehr? Ich kann nicht aufhören, daran zu denken. Die Panik. Das Durcheinander. Die Körper, die sich an einem Ort dicht an dicht drängten. Die Unfähigkeit zu flüchten. Das Stöhnen.
Das ständige Stöhnen.
Die Gruppe bewegt sich näher an die Achterbahn heran, die Stimmen ein Summen von Gerüchten über die Dunkle Stadt, von Plänen, Vista zu verlassen. Ich warte darauf, dass Catcher mit ihnen geht, dass ich allein hinterherkommen kann. Aber er lässt sie gehen, bis schließlich nur noch wir beide in ihrem Echo zurückbleiben.
Er streicht mir mit der Hand über den Arm. Ich schlucke eine Million Wörter herunter. Die Luft vermischt sich mit dem Duft seines Körpers, sie füllt meinen Kopf und verdrängt die Angst davor, mich außerhalb der Barriere zu befinden. Mellies Unbekümmertheit hat etwas, das in mir den Wunsch erweckt, ebenfalls frei zu sein.
Ich will so sein wie sie, will meine ständige Sorge vergessen und um die alten Karussells herumtanzen, mich mit den verblassten Tieren auf dem Kinderkarussell im Kreis drehen oder in den angestoßenen Gondeln herumwirbeln.
Aber ich tue es nicht. Ich stehe nur da und spüre Catchers Fingerspitzen auf meiner Haut. Es ist, als wären wir die Ersten, die auf diese alte Welt gestoßen sind, als hätten wir alle festen Bindungen hinter uns gelassen. Die Luft jenseits der Barriere scheint anders zu sein, förmlich zu summen vor lauter Möglichkeiten. Und jedes Mal, wenn ich einen Atemzug davon nehme, habe ich das Gefühl, mein altes Ich hinter mir zu lassen und etwas anderes zu werden.
Langsam denke ich, dass es vielleicht falsch von mir war, mich vor der Welt außerhalb der Barriere zu fürchten. Vielleicht könnte ich genauso sein wie die anderen in meinem Alter, vielleicht könnte ich auch davon träumen, die Wanderung zur Dunklen Stadt zu unternehmen. Vielleicht gibt es mehr auf der Welt, als sich in so einer abgelegenen Stadt wie Vista zu verstecken.
Catcher will offenbar etwas sagen, und ich lehne mich gerade zu ihm, als jemand ruft:
»Was ist mit dir, Catcher? Machst du mit bei einem Wettrennen die Achterbahn hoch?« Das war Blane, eine Freundin von Mellie, die ihr überallhin folgt. Mit hochgezogener Augenbraue geht sie langsam auf uns zu. Catchers Blick flackert ein wenig, und ich versuche, ihre Anmut zu studieren und mir einzuprägen. Ich merke, wie unbeholfen ich die Schultern hochgezogen habe, und entspanne mich ein bisschen. Wie kann er mich mögen, wenn es solche Mädchen gibt?
»Solche Kunststücke überlasse ich den Zwillingen.« Mit einer Kopfbewegung weist er auf die beiden Brüder, die auf dem alten Holzgestell herumalbern und versuchen, einander auszustechen. Doch sie gibt nicht auf.
»Ach, komm schon, Catch«, sagt sie. Er wirkt verkrampft, und mir fällt sein Geständnis ein, dass er Höhenangst hat.
»Es ist meinetwegen«, werfe ich rasch ein. Meine Stimme ist ein Piepsen, das glatte Gegenteil von Blanes tiefem Schnurren. Ich will mich räuspern, will, dass meine Hände aufhören zu schwitzen, als sich alle Blicke auf mich richten. Ich bin es nicht gewohnt, im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit zu stehen, und spüre nur allzu deutlich, dass ich jünger bin als die anderen und nicht dazugehöre, kein Teil ihrer Gruppe bin.
»Ich … äh … ich habe Höhenangst«, sage ich und kann meine Verlegenheit nicht verbergen.
Blane stemmt eine Hand in die Hüfte. Als sie gerade weitersprechen will, legt Catcher seinen Arm um mich, und ich spüre, wie mein Körper starr wird, wie ich Angst bekomme, er könnte irgendwie wegrutschen, wenn ich mich bewege.
»Gabry und ich lassen das aus und bleiben hier sitzen«, sagt er.
Blane sieht mich mit gerunzelter Stirn an und wendet sich dann den anderen zu. »Bitte. Aber hier wird uns doch hoffentlich wenigstens einer zeigen, was in ihm steckt«, erwidert sie laut und geht mit großen Schritten auf die Achterbahn zu, deren höchste Erhebung die Zwillinge schon halb erklommen haben.
Ich warte darauf, dass Catcher mich loslässt, bestimmt hat er mich nur zum Schutz gegen Blane im Arm gehalten. Stattdessen spüre ich seine Finger auf meiner Schulter, er zieht mich an sich. Noch nie war ich mir meines eigenen Körpers so bewusst, war noch nie so beeindruckt davon, dass er zu derart aufgeregtem Zittern fähig ist.
Ich höre die Rufe, mit denen die anderen die Jungs anfeuern. Sie sind Schatten im Mondschein. Catcher zieht mich weg von der Gruppe, hin zu dem Karussell mit den verblassten Tieren unter dem spitzen Dach. Ihre rote, grüne, lila und blaue Farbe ist an vielen Stellen abgeplatzt.
Ich schiebe ein Bein über das Einhorn, die Spitze vom Horn ist schon lange abgebrochen und verschwunden. Catcher steht neben mir, die eine Hand auf meinem Schenkel, die andere an dem Pfahl neben meinem Kopf. Sein Bauch berührt leicht meine Hüfte, und ich presse mein Knie an die Bande des Karussells.
Möglichkeiten tun sich zwischen uns auf. Meine verschwitzten Finger klammern sich an den Sattelknauf, weil ich fürchte, wegzugleiten, irgendwie abzuheben und davonzufliegen.
Meine Mutter hat mir einmal von ihrem ersten Kuss erzählt. Ich lag fiebernd im Bett, war im Delirium, wie sie mir später erzählte, aber ich erinnere mich an ihre Stimme und wie sie mir von dem Jungen erzählte, den sie als junges Mädchen gekannt hatte. Er war aus ihrem Dorf im Wald. Er war verletzt gewesen und hatte Fieber gehabt wie ich. Sie hatte an seinem Bett gesessen und wollte ihn nicht aufgeben, und später, als es ihm besser ging, hatte sie mit ihm auf einem Hügel gestanden und vom Meer geträumt – und dann hatte sie ihn geküsst, sämtliche Hoffnungen für ihre Zukunft vor ihr ausgebreitet.
Daran denke ich jetzt, während Catchers Atem die Luft bewegt. Ich kann ihn spüren, das Pulsieren zwischen uns. Ein flüchtiger Blick von ihm auf meinen Mund – und schon fahre ich unbewusst mit der Zunge über meine Lippen. Ich befürchte, er könnte vielleicht überhaupt nicht an mir interessiert sein – und es macht mich nervös, dass er es vielleicht ist. Doch am meisten macht mir die Stille zu schaffen. Der Druck, doch etwas zu sagen, nagt an mir.
»Ich bin froh, dass du dich entschlossen hast, mit uns zu kommen«, sagt Catcher.
Erleichtert verlagere ich das Gewicht. Mein Hemd klebt mir in der Hitze der Sommernacht am Rücken. Ich weiß nicht, wie ich ihm sagen soll, dass ich die Barriere noch nie habe austesten wollen, dass ich nicht so bin wie Mellie und die anderen, die die Welt erforschen wollen, und dass mir ein sicheres Zuhause genügt.
Stattdessen murmele ich: »Ich auch.« Dann herrscht wieder Stille zwischen uns beiden. Ich tippe mit dem Fuß gegen das Bein des Einhorns und überlege, wie ich die peinliche Lücke füllen soll. Ein verrückter Gedanke kreist in meinem Kopf: Ich sollte zugeben, wie sehr ich ihn mag – doch ich verdränge ihn schnell wieder.
Er nimmt das Ende meines Zopfs in seine Hände, streicht mit den Fingern über die Haarspitzen – und ich kann ein Lächeln nicht zurückhalten.
»Ich habe das Gefühl, als hätte sich etwas geändert«, sagt er, und ich weiß nicht, ob er damit zum Besseren oder zum Schlechteren meint.
»Wie denn?«, frage ich. Meine Stimme überschlägt sich fast.
Er konzentriert sich auf seine Finger in meinem Haar. Fasziniert schaue ich ihm zu.
Er räuspert sich. »Weißt du, manchmal ist es doch so, man kennt Leute – oder man glaubt es zumindest, aber vielleicht kennt man sie ja nur auf eine Art?« Er wirft mir einen raschen Blick zu. Mir fällt auf, wie rot seine Wangen im Mondlicht sind. Ich nicke mit großen Augen und fürchte viel zu sehr, dass er von mir redet und dem, was zwischen uns möglich wäre.
Er atmet tief durch und lässt meinen Zopf los, der mir über die Schulter gleitet. Meine Lungen brennen. Ich warte darauf, dass er fortfährt.
»Vielleicht kennst du jemanden als Freundin deiner kleinen Schwester«, sagt er. »Und dann verändert sich etwas. Vielleicht hörst du eines Tages, dass sie etwas sagt, was du nicht erwartet hättest. Oder du hörst, wie sie lacht, und dann siehst du sie plötzlich ganz anders. So wie dies hier anders ist.«
Er legt eine Hand auf meine Schulter und seinen Daumen auf mein Schlüsselbein. Das Luftholen fällt mir schwer, so verzweifelt wünsche ich mir zu hören, welche Gefühle er für mich hat. Und dass er genauso oft an mich denkt wie ich an ihn.
»Dieses Mal findest du sie vielleicht …« Er zögert. Über uns sausen Sterne dahin, kollidieren und lassen ihr Licht nur für uns scheinen. »Wunderschön«, sagt er, und mein Leib explodiert, mein Herz füllt jeden Teil von mir.
Catcher rückt näher. »Wunderbar und lustig und …« Er kommt noch näher heran.
Mein Körper kribbelt, weil ich ihm so nahe bin. Mir wird klar, wie recht er hat. Wir sehen Menschen immer noch so, wie sie früher waren, und vielleicht gar nicht so, wie sie jetzt sind. Ich fahre mir mit der Zunge über die Lippen und stürze mich hinein, meine Stimme zittert nur leicht: »Und vielleicht fängt man auch an, den Bruder seiner besten Freundin anders zu sehen.«
Ich frage mich, was ich jetzt tun soll … ob ich mich auch zu ihm lehnen soll?
Er lächelt dieses geheimnisvolle Lächeln, nur dieses Mal glaube ich, dass ich vielleicht verstehe, was es bedeutet. Die Möglichkeiten schlagen knisternd Funken zwischen uns. Er sieht hinab auf meinen Mund, sein Atem haucht auf meine Lippen.
Als ich ein Kind war, hat der Boden einmal unter meinen Füßen gebebt. Man sagte, das sei die Erde, die sich bewege, die sich setze. Aber dabei hat sie eine riesige Welle aufgeworfen. Ich weiß noch, wie ich auf dem Leuchtturm stand und sie kommen sah. Ich weiß noch, wie sich die Luft verdichtete, ehe sie brach, wie nur einen Atemzug lang alles ruhig wurde, sich zurückzog und so verharrte.
Und so fühlt es sich an, als Catcher sich auf mich zu bewegt. Die Luftverdichtung zwischen uns, die Ruhepause und dann seine Lippen, die die meinen streifen.
Ich spüre ihre Hitze zuerst. Spüre seinen Mund auf meinem. Ich lege meine Hand auf seine, und unsere Finger verflechten sich.
Alles in meinem Leben scheint mich auf diesen Augenblick hingeführt zu haben. Hierauf habe ich gewartet – all die Jahre, in denen ich mit Catcher aufgewachsen bin, die vielen Male, die er mich beim Fangenspielen durch die verschlungenen Straßen der Stadt gejagt hat, die vielen Male, die er gelacht hat, wenn Cira und ich ganze Theaterstücke gedichtet und für ihn aufgeführt haben, die vielen Male, die er noch ein kleines bisschen länger geblieben ist, wenn ich in der Nähe war.
Es ist, als ob wir uns den ganzen Sommer umkreist hätten, uns näher und immer näher gekommen wären, bis zu diesem unvermeidlichen Funken, der sich soeben entzündet hat. Als ob dies alles ist, was je hat sein sollen. Ich drücke mich an ihn.
Ich bin so gefangen von meinem ersten Kuss, von der Aufregung, mit Catcher zusammen zu sein, dass ich das durch die Nacht dringende Stöhnen zuerst gar nicht höre, das uns jetzt auseinanderreißt.