13

Beim Einschlafen denke ich an Catcher. Er beugt sich über mich, seine Lippen an meinen, seine Wärme überall um mich herum. Ich schließe die Augen und drücke mich an ihn. Sinke in ihn hinein … in eine perfekte Welt, in der es nichts anderes gibt. Keinen Tod. Keine Ansteckung. Keine Sorgen.

Aber in meinem Traum verwandelt und verändert sich Catcher. Die Welt um mich herum wird zu Wasser … und dann ist es plötzlich Elias, den ich in den Armen halte, seine Lippen streifen meine, und ich wende mich nicht von ihm ab.

Keuchend wache ich auf, meine Finger klammern sich in die Laken, das Blut rauscht in meinen Ohren. Ich brauche eine Weile, um mein hämmerndes Herz zu beruhigen, und noch länger, bis ich merke, dass meine Mutter im Zimmer ist. Sie steht am Fenster und schaut auf den Strand hinunter.

»Mom?« Ich stütze mich auf die Ellenbogen. Fetzen meines Traums drängen sich noch in meinem Kopf, ein Chaos verwirrender Begierden. Ich kneife die Augen zu und will die Bilder verdrängen.

Meine Mutter sagt nichts, sie schaut mich nicht mal an, deshalb sage ich noch einmal: »Mom?«, stoße die Decken zurück und schwinge die Beine über die Bettkante.

Sie setzt sich neben mich. In ihrer Hand hält sie ein kleines, dünnes Buch, an dessen Kanten sie mit dem Finger entlangfährt, als ob sie nervös wäre.

Abgesehen von gestern habe ich meine Mutter noch nie zögern sehen, noch nie verunsichert. Es erschüttert mich, sie jetzt so zu erleben.

Obwohl wir hier Seite an Seite sitzen, obwohl sich unsere Schultern berühren, unsere Hüften und Knie, war ich noch nie weiter von ihr weg. Ich will ihr von der letzen Nacht erzählen, mich entschuldigen, dass ich weggelaufen bin, und sie um Vergebung bitten. Aber ich tue es nicht.

Schließlich bricht sie das Schweigen und die Anspannung. »Es tut mir leid, Gabry«, sagt sie. Ihre Stimme klingt so niedergeschlagen, ohne die gewohnte Kraft. »Wahrscheinlich hätte ich dir vorher erzählen sollen, wo du herkommst.«

Sie starrt auf ihre Hände, die sie auf den Umschlag des Buches presst, und ich kann den Titel zwischen ihren schlanken Fingern entziffern: Shakespeares Sonette. Ich dachte immer, unsere Hände wären sich so ähnlich, ich habe sie immer für unser gemeinsames Merkmal gehalten.

Doch sogar dieser Gedanke gründet auf einer Lüge, und diese Einsicht macht von Neuem klar, wie tief der Vertrauensbruch ist.

»Ich dachte nur, es wäre leichter«, sagt sie. »Der Wald … es ist so grausam.« Das letzte Wort spuckt sie förmlich aus, und die Gefühle ergreifen von ihrem Gesicht Besitz: Wut, Angst, Trauer, Resignation.

»Ich dachte wohl, es wäre für uns beide leichter, wenn wir den Wald vergessen würden – wenn wir ihn einfach hinter uns lassen könnten.«

Wann hat ihr Gesicht so viele Falten bekommen? Ihr Haar noch mehr weiße Strähnen? Das war mir gar nicht aufgefallen.

Eigentlich sollte ich ihr sagen, dass es in Ordnung ist, dass ich ihr vergebe, aber ich kann nicht. Wenn es irgendjemanden auf der Welt gibt, dem ich vertrauen können sollte, dann ist das meine Mutter – und das macht alles nur noch schmerzlicher.

Sie blättert in dem Buch und wartet darauf, dass ich etwas sage, aber ich weiß nicht was. Also bleibe ich stumm.

Sie holt tief Atem und hält kurz die Luft an. »Ich gehe zurück in den Wald, Gabrielle.«

»Was?«, antworte ich schon, bevor ich das Wort im Kopf gebildet habe, mit tausend Einwänden dahinter. »Warum? Wie? Ich will nicht …« Ich weiß nicht mal, wie ich meine Fragen stellen soll, und schüttele den Kopf. Plötzlich dringt die Vorstellung, sie zu verlieren, zu mir durch, und ich schlucke bittere Beklommenheit.

Sie legt eine Hand auf mein Bein und schmiegt die Finger an mein Knie. »Das muss ich tun, Gabry«, sagt sie. »Letzte Nacht habe ich an dich gedacht und an alles, was du gesagt hast. Du hast recht. Ich hätte sie nicht einfach so verlassen sollen – ich hätte die Vergangenheit nicht loslassen sollen.«

Ich nehme ihre Worte kaum wahr, weil ich zu sehr damit beschäftigt bin, herauszufinden, was das für mich bedeutet – und für den Leuchtturm und Catcher und meine Zukunft.

»Und was ist mit mir?«, frage ich. Meine Stimme klingt klein und hohl.

Sie schaut mich an, ihre Augen strahlen, obwohl sie so blass ist. »Ich möchte, dass du mit mir kommst.«

Ich springe auf und gehe rückwärts aufs Fenster zu. »Nein«, sage ich und schüttele den Kopf. »Nein.« Ich bin mir meiner Antwort sicher.

»Gabry …« Ich weiß, sie wird versuchen, mich zu überzeugen, und ich schneide ihr das Wort ab.

»Ich kann nicht. Nicht in den Wald. Nein.« Ich wische mir über meine schweißglänzende Oberlippe, die Angst glüht in mir. »Es ist gefährlich. Es ist verboten. Dort sind lauter Mudo!« Meine Stimme überschlägt sich, ich wandere im Zimmer auf und ab.

Meine Mutter sitzt nur unbewegt auf dem Bett, und das macht mich noch wütender. In letzter Zeit habe ich zu viel verloren, alles hat sich zu schnell verändert, und das ertrage ich nicht, nicht jetzt. Ich brauche meine Mutter, ihre Unterstützung und ihre Liebe, ihre Hilfe und ihren Schutz.

»Du kannst nicht gehen«, sage ich.

»Gabry …« Dieses Mal schwingt eine Warnung in ihrer Stimme mit, aber ich höre nicht darauf.

»Nein, der Rat, sie werden es herausfinden. Sie werden dich bestrafen – und was wird dann aus dem Leuchtturm? Was wird aus mir?«

Sie steht auf und kommt zu mir, legt die Hände auf meine Schultern. Ich will mich abwenden, tue es aber nicht, weil ihre Berührung mich viel zu sehr an die Zeit erinnert, als ich klein war und ihre Bestätigung brauchte. »Der Wald ist sicher genug, Gabrielle. Ich habe ihn schon zweimal durchquert, und ich kann es noch mal schaffen. Schwierig ist nur der erste Teil, wenn man vom Tor über dem Wasserfall zum Pfad hundert Meter weiter laufen muss. Ich kenne dich, Gabry, und ich weiß, du bist stark genug dafür.«

Ich will nachgeben, will mich von ihr führen lassen und ihr einfach blind folgen. Aber ich denke an Catcher und Cira … und ich kann es nicht tun.

»Warum?«, frage ich. Der Schmerz, den ich fühle, rankt sich um das Wort und durchdringt es.

»Ich muss wissen, was mit ihnen passiert ist«, sagt sie nur.

»Aber das ist Jahre her.«

Sie zuckt mit den Schultern. »Ich hätte sie nicht aufgeben sollen. Ich hätte die Hoffnung nicht aufgeben, sondern etwas tun sollen.« Sie macht eine Pause und schaut an mir vorbei. »Ich muss es einfach wissen, so oder so.«

»Und deshalb lässt du mich zurück … verlässt du mich …? Setzst du dein Leben aufs Spiel? Was ist mit mir?«

»Darum sollst du mit mir kommen, wir können gleichzeitig etwas über deine Vergangenheit herausfinden«, drängt sie.

Ich schüttele den Kopf. »Nein, nicht in den Wald.«

»Aber der Wald muss doch nicht gefährlich sein …«

»Du hast mich doch selbst gelehrt, vor dem Wald Angst zu haben!«, brülle ich sie an, allen Zwang und jegliche Zurückhaltung fallen lassend. »Mein ganzes Leben lang hast du mir genau das erzählt: Hüte dich vor dem Wald der tausend Augen! Du hast mir erzählt, dort gäbe es nichts als Tod und Verzweiflung!«

»Ich wollte, dass du in Sicherheit aufwächst, Gabrielle«, sagt sie scharf, »nicht verängstigt.«

Ich starre sie an. Wenn sie mich geschlagen hätte, könnte ich nicht schockierter sein. Und meine Worte sind dazu bestimmt, sie genauso tief zu treffen: »Und wessen Schuld ist das?«, frage ich, verschränke die Arme vor der Brust und ziehe eine Augenbraue hoch.

Wir starren einander an und atmen beide schwer, wie nach einer handgreiflichen Auseinandersetzung.

Vom Hauptraum unten höre ich die kleinen Glocken läuten, gleich ist Hochwasser. Für meine Mutter ist es das Signal, zu ihrem Kontrollgang aufzubrechen. Sie geht zur Tür und schaut sich zu mir um.

Noch einmal versucht sie mich zu überreden, mit ihr in den Wald zu gehen, aber ich gebe nicht nach. Ich kann Catcher und Cira nicht verlassen, sage ich mir, doch in Wirklichkeit weiß ich, dass ich zu ängstlich bin. Und das kann ich ihr nicht gestehen, denn ich weiß nicht, ob sie eine solche Angst wie meine je empfunden hat.

»Bitte, denk darüber nach, Gabry«, sagt sie. »Wenn ich den Strand gesäubert habe, komme ich wieder, dann können wir weiterreden.« Sie berührt den Türknauf beim Hinausgehen, automatisch reibt sie die Finger über die Worte, die dort eingeritzt sind: eine Zeile aus einem Sonett von Shakespeare. Innerlich schreiend, wende ich mich vom Vertrauten ab. Dann höre ich das Echo ihrer Schritte auf der Treppe verhallen.

»Ich kann nicht«, sage ich in den leeren Raum. Ich wünschte, ich wäre stark genug, so stark wie meine Mutter. Aber ich bin überhaupt nicht wie sie. Als sie in meinem Alter war, ist ihr ihr ganzes Leben entrissen worden, sie hat Jahre damit verbracht, Sicherheit zu finden. Ich habe nie etwas anderes gekannt als Sicherheit – und ich habe zu große Angst, das aufzugeben.

Hämmern weckt mich. Eine Weile denke ich, es wären nur Kopfschmerzen, weil ich zu lange in der Hitze geschlafen habe. Benommen starre ich auf die Wände des Leuchtfeuerraumes, auf ein weiteres Shakespeare-Sonett, das meine Mutter letzte Nacht, als ich weg war, frisch in die Mauer unter den Fenstern geritzt hat. Sie hat mich noch einmal gebeten, mit ihr in den Wald zu kommen, und ich habe noch einmal abgelehnt. Noch immer bin ich schockiert und verwundert über meine Fähigkeit, Nein zu sagen.

Mit glänzenden Augen hat sie mir erzählt, wenn ich sie finden wolle, müsse ich nur dem Licht folgen. Dann ist sie weggegangen. Ich habe sie durchs Fernglas beobachtet, bis ich schließlich draußen auf der Galerie eingeschlafen bin.

Ich höre noch immer Hämmern und stelle erst jetzt fest, dass es von unten kommt. Sofort frage ich mich, ob das meine Mutter sein könnte, ob sie vielleicht den Plan aufgegeben hat, in den Wald zu gehen, und nach Hause kommt. Heiß und heftig blüht die Hoffnung in mir auf, und ich renne die Treppen hinunter zur Haupttür.

Doch als ich sie aufreiße, ist es Elias. Hinter ihm steht die Sonne, und mein vom Schlaf träger Kopf hat Mühe, die Situation zu erfassen. »Elias, was machst du …«

»Am Strand«, unterbricht er mich und zeigt keuchend über seine Schulter. Ich schaue an ihm vorbei und sehe sie: die aufgedunsenen Körper der angespülten Mudo, einige von ihnen wittern uns schon und rappeln sich hoch.

Im Haus zeigt das beharrliche Klingeln der Glocken den Gezeitenwechsel an. Ich bin so an das Geräusch gewöhnt und daran, dass meine Mutter diejenige ist, die auf ihren Ruf reagiert, dass ich es nicht mal erkannt habe. Mit der Hand wische ich mir übers Gesicht, dabei wird mir das ungeheuerliche Ausmaß meiner Verlassenheit bewusst. Obwohl meine Mutter gesagt hat, sie würde in ein paar Wochen wiederkommen, ist ihre Abwesenheit für mich wie ein andauernder Schmerz.

Ihre Pflichten sind nun mir zugefallen, und ich habe schon versagt.

»Hier«, sage ich, reiße eine Schaufel mit scharfem Blatt vom Ständer an der Tür und drücke sie ihm in die Hände. Er dreht sich um und rennt zurück zum Wasser, mit geübten, sicheren Bewegungen fängt er an, die Mudo zu enthaupten. In schneller Folge tötet er zwei, damit bleiben zwei weitere, die auf ihn zu stolpern. Er schlägt dem einen das Blatt gegen die Knie, und ich höre das Knacken, als die Knochen brechen. Dann holt er mit der Schaufel nach dem anderen aus, schlägt ihm den Kopf ein und beugt sich über ihn, damit er den Hals durchschneiden kann.

Ich nehme mir auch eine Schaufel und gehe mit großen Schritten über den Strand auf Elias zu. Er sagt nichts, als ich mich einer Mudo nähere, deren Körper verdreht daliegt, wo die Wellen ihn zurückgelassen haben.

Beim Köpfen der Mudo gehe ich nicht mit derselben Sorgfalt vor wie meine Mutter. Für mich sollen sie nichts weiter sein als Monster. Ich weigere mich, darüber nachzudenken, wo sie herkommen und wie sie hier enden konnten. Ich kann die Vorstellung von Familien, die sie vermissen, nicht zulassen, und will auch nicht wissen, wie sie gestorben sind und wer sie einmal waren.

Ich bin einfach zufrieden damit, ihrem Elend und ihrem unstillbaren Hunger ein Ende zu machen. Dasselbe werde ich für Catcher tun müssen, wenn die Zeit gekommen ist – noch etwas, worüber ich jetzt nicht nachdenken will.

Meine Arme zittern, als ich mit dem letzten Mudo fertig bin, und die Wellen nehmen die enthaupteten Leichen wieder mit in die Tiefe. Die Nachmittagssonne gibt allem etwas Schroffes, die Hitze über dem Wasser bricht das Licht zu Millionen von Farben.

Elias rammt seine Schaufel in den Sand und stützt die Arme auf den Griff. Schweiß schimmert auf seiner Haut, läuft über seinen Bizeps, bis zu dem er die Ärmel seines Kittels aufgerollt hat.

Ich sollte ihm dafür danken, dass er mich geweckt und mir geholfen hat, den Strand zu räumen, denn allein hätte ich das vermutlich nicht geschafft. »Was machst du hier?«, frage ich stattdessen und versuche mich für den anklagenden Ton nicht zu schämen.