24
Cira!«, schreie ich, doch sie scheint durch mich hindurchzuschauen. »So helft ihr doch!«, brülle ich den anderen zu, die das Gitter umlagern. Aber keiner tut etwas. Keiner rührt sich, sie stehen nur bei Elias herum, der das Schloss bearbeitet. Ich versuche sie zu schubsen, zu packen, damit sie Cira in der Ecke auf dem Boden wahrnehmen, aber sie entziehen sich mir.
Das sind ihre Freunde, die Leute, deren Schicksal sie geteilt hat. Sie hat die letzten Tage mit ihnen verbracht, hat mit ihnen in diesem winzigen Käfig gelebt. Und doch scheint das niemanden zu kümmern. Keiner macht sich die Mühe zu helfen.
Das Schloss klickt, und mit einem Stöhnen schwenkt das schwere Tor auf. Von innen schieben sich alle auf die Öffnung zu, während ich gegen den Strom von Körpern ankämpfe, um hineinzukommen. Ich laufe zu Cira und bleibe mit einem Ruck neben ihr stehen.
Mit beiden Händen packe ich ihr Gesicht, zwinge sie, mich anzuschauen. Ihre Lippen zaudern ein bisschen, ehe sie mit zitternden Mundwinkeln ein Lächeln zustande bringt. »Gabry«, sagt sie. Ihre Stimme ist leise, schwach.
»Cira.« Ich kann ihren Namen kaum aussprechen. Dann zerre ich an ihren Kleidern, reiße die Ärmel ihrer schwarzen Rekruter-Jacke zurück. Der Stoff ist feucht, ihr Blut sickert auf meine Haut, die sich wieder einmal tiefrot färbt. Die Schnitte auf ihren Unterarmen sind gezackt, tief und grob. Das Blut hat angefangen zu gerinnen, aber als ich meine Hand auf die Wunden lege, beginnt es wieder hervorzuquellen.
Ich weiß nicht, was ich machen soll. »Helft mir!«, rufe ich. Ich schaue über meine Schulter in den mittlerweile leeren Käfig zu Elias, der mit einem der Soulers redet. »Elias, Hilfe!«
Er schaut auf, sofort hat er die Lage erfasst, eilt herbei, lässt seinen Rucksack fallen und kniet sich neben Cira. »Den Druck beibehalten«, sagt er, dabei zerrt er ein altes Hemd aus meiner Tasche und reißt es in Streifen. Er zieht Cira die Jacke aus, sie will mithelfen, aber ihre Bewegungen sind langsam und unkoordiniert.
»Schon okay, Gabry«, murmelt sie, ihre Lippen bewegen sich kaum. »Catcher und ich sind bald zusammen. Geh du nur.«
Ich drücke ihre Handgelenke noch fester, doch sie zuckt nicht einmal.
»Nein«, sage ich, schlucke Tränen und Todesangst hinunter. »Nein, Catcher ist hier. Es geht ihm gut, ich habe mich geirrt.«
Sie reißt die Augen auf, dann fallen sie wieder zu. »Aber du hast gesagt …« Ihre Atmung ist flach.
»Halte ihr die Arme über den Kopf«, sagt Elias. »Und den Druck beibehalten.«
»Wo ist Catcher?«, fragt Cira. Wie schwer es ihr fällt, etwas zu begreifen, während sie dagegen ankämpft, dass die Kraft sie verlässt.
»Er ist hier«, erwidere ich, aber ihre Augen sind geschlossen, und ich bin mir nicht sicher, ob sie es gehört hat.
Ein Schatten fällt auf mich, und ich schaue auf. Blane steht in der Zellentür und zögert noch, den anderen nach draußen zu folgen. Das erinnert mich an die Nacht im Vergnügungspark, an den Augenblick, in dem ich mich entschieden habe, sie alle zu verlassen und wegzurennen. Sie sieht ängstlich aus, sie scheint sich zu schämen. Anscheinend wartet sie auf meine Erlaubnis, ihre Freundin verlassen zu dürfen. »Wie konntest du das zulassen?«, frage ich sie.
Sie schaut mich lange an, ihre Augen glänzen, und ihr Mund ringt mit hundert Ausreden. Schließlich sagt sie: »Ich konnte sie nicht daran hindern. Ich habe es versucht.« Ihre Stimme ist dünn und versagt fast vor Bedauern. »Es tut mir leid«, flüstert sie. Sie steht vor mir, als würde ich ihr irgendetwas mitteilen können, das alles wieder in Ordnung bringt. Sie streicht mit dem Finger über meine Hand, dann dreht sie sich um und rennt die Treppen hoch.
Mein Blick geht zu Cira und Elias. Ich will ihm sagen, dass sie sich erholen, dass sie wieder gesund wird. Aber an der Art, wie er zur Tür schaut, merke ich, dass er besorgt ist, mehr als besorgt.
»Was machen wir?«, frage ich. Ich denke an das kleine Segelboot, daran, sie durch die Stadt zu schleifen.
»Wir sollten sie hierlassen«, sagt er. Seine Stimme ist nicht mehr als ein Flüstern. »Sie braucht Ruhe, sie braucht Leute, die wissen, was zu tun ist. Sie sollte nicht fortbewegt werden.«
Ich schaue Cira an. Die blassen Wangen und weißen Lippen. All das Blut. Er hat recht. Ich weiß, dass er recht hat. Mit ihr setzen wir jede Chance auf Flucht aufs Spiel. Sie wird uns nur behindern.
Ich drücke die Stirn an ihren Kopf. »Cira«, flüstere ich mit Tränen in der Stimme. Ich will sie nach dem Grund fragen, aber ich weiß die Antwort schon. Unvermeidlich, würde sie sagen.
Für den Moment zwischen zwei Herzschlägen fühlt es sich an, als wäre alles meine Schuld. Wäre ich doch in jener Nacht nicht weggelaufen, sondern bei ihr geblieben. Hätte ich mich doch schnappen lassen, um mit ihr eingesperrt und zu den Rekrutern geschickt zu werden. Dann hätte sie jemanden zum Anlehnen gehabt. Jemanden, an dem sie sich hätte festhalten können.
Ich hätte sie aufhalten können. Zusammen hätten wir es geschafft.
»Ich verlasse sie nicht«, sage ich.
Ich lehne mich zurück. Elias sieht mich prüfend an, doch er stellt es nicht infrage. Er nickt nur, nimmt Ciras Arme und umwickelt sie fest mit den Stoffstreifen.
»Uns bleibt nicht mehr viel Zeit«, erwidert er. »Sie werden feststellen, dass es ein Durchbruch von Souler-Mudo war – und dass von ihnen keine Gefahr, sondern nur Schrecken ausgeht.« Er schaut durch den Raum zum dunklen Treppenhaus, durch das alle anderen weggerannt sind. Er hätte mit ihnen weglaufen können. Er sollte bei ihnen sein, da draußen, und seine Schwester suchen.
»Du kannst gehen«, sage ich. »Du bist nicht für sie verantwortlich.« Ich hätte nicht gedacht, dass es so schwer sein könnte, diese Worte auszusprechen. Langsam vertraue ich ihm, merke ich. »Und für mich auch nicht«, füge ich noch hinzu.
Er bleibt ruhig und kneift die Augen zusammen. »Ich gehe mit dir, Gabry.«
Ich starre ihn zu lange an. Ich sollte ihm sagen, dass er gehen soll, weil ich ihm nichts geben kann und weil er mit den Soulers besser vorankommt bei der Suche nach seiner Schwester. Doch ehe ich irgendetwas davon aussprechen kann, hat er seinen Rucksack schon aufgesetzt. Er legt den Arm um Ciras Schulter und hilft ihr beim Aufstehen, so vorsichtig und sanft, dass mir der Hals eng wird.
Er wendet sich zur Treppe, und ich schlüpfe unter Ciras anderen Arm. »Danke«, sage ich, obwohl meine Dankbarkeit nicht in Worte zu fassen ist. Er ächzt unter Ciras Gewicht, denn sie kann sich kaum aufrecht halten.
Gemeinsam schaffen wir sie aus dem Rathaus und ins Gewirr der Straßen. Die Fensterläden der umliegenden Gebäude sind verschlossen und verrammelt, die meisten Familien sind in ihren Häusern. Und doch strömen immer noch Leute, hauptsächlich Jungen und Männer, brüllend und mit Waffen fuchtelnd durch die Straßen. Sie rennen auf die Barriere zu und wollen bei der Verteidigung der Stadt helfen.
Leute kommen auf uns zu gerannt und bieten ihre Hilfe an, aber Elias murmelt nur: »Infiziert.« Sie beäugen die blutgetränkten Verbände, hasten davon und lassen uns in Ruhe. Als wir uns dem Stadtrand nähern und den Pfad zum Strand nehmen, bricht eine Gestalt aus der Dunkelheit hervor.
Vor Schreck lasse ich Cira beinahe fallen, und ehe ich nach meiner Waffe greifen kann, hat Elias sein Messer schon mit der freien Hand gezückt.
»Cira«, keucht die Gestalt, und erleichtert stelle ich fest, dass es Catcher ist. Er kommt auf uns zu, fängt an zu rennen, als er seine Schwester schlaff zwischen uns hängen sieht. »Was ist los? Was ist mit ihr passiert?« Er packt sie. »Cira«, ruft er. »Cira, schau mich an!«
Sie schlägt die Augen träge auf, und ein Lächeln streift ihre Lippen. »Catcher.« Ihre Stimme klingt erschöpft und trocken.
Er schaut uns an. »Was ist passiert?«
Ich will ihm nicht erzählen, was sie getan hat, deshalb übergehe ich seine Frage. »Sie wird schon wieder«, sage ich. »Was machst du hier? Warum bist du nicht beim Boot?«
Er schüttelt den Kopf. »Überall Miliz, beim Leuchtturm und am Strand«, erwidert er. Dann richtet er den Blick auf mich. »Sie suchen dich, Gabry. Ich habe gehört, wie sie über Daniel geredet haben.« Er hält inne. »Er war noch nicht tot, als du ihn verlassen hast, Gabry. Sie haben ihn gefunden, bevor er gestorben ist. Er hat ihnen gesagt, dass du es warst.«
Mich trifft der Schlag, die Luft scheint mir aus der Lunge zu entweichen. Ich wanke unter Ciras Gewicht, und Catcher nimmt mir ihren Arm ab. Hinter mir höre ich Catcher und Elias hastig einige Worte wechseln. Sie überlegen, was wir jetzt machen, wohin wir gehen sollen. Doch ich kann nur an Daniel denken.
Ich wusste, dass ich ihn umgebracht hatte, und doch ist es ganz anders, wenn man es von einem anderen Menschen hört – wenn man Gewissheit hat.
Nun wird mir klar, dass es einen Unterschied gibt zwischen der Hoffnung – man stellt sich Dinge vor, die man nie wissen kann – und der unerbittlichen Realität. Wissen wiegt schwer.
Elias und Catcher diskutieren, ob wir zurück in die Ruinen gehen oder versuchen sollen, zum Boot zu rennen. Um mich herum hallen immer noch die Geräusche der Stadt, das Läuten der Glocken und die Rufe der Männer. Wieder wird mir klar, dass es kein Entkommen gibt, dass mich alles einholt – das Ende.
Die Schwerkraft zieht an mir, und ich denke daran, nachzugeben. Ich denke an meine Mutter und wie entsetzt sie wäre, wenn sie wüsste, was hier vorgeht.
Und sie bringt mich auf die Idee, wo wir hinlaufen können und wohin sie uns vielleicht nicht folgen werden. »Der Wald«, sage ich ausdruckslos. Bei meinen Worten verspüre ich einen irren Drang zu lachen. Vor ein paar Tagen war ich noch zu verängstigt, überhaupt in Erwägung zu ziehen, mit meiner Mutter in den Wald zu gehen – und nun schlage ich vor, dass wir in ihre Fußstapfen treten.
Catcher und Elias hören mich nicht, und ich drehe mich zu ihnen um. »Der Wald«, sage ich lauter. Sie starren mich beide an, ihre Münder bleiben offen stehen, mitten im Satz.
»Das ist verrückt«, sagt Catcher. »Da ist nichts … wir werden umgebracht, sobald wir über den Zaun sind.« Dann erbleicht er. »Ich meine, ihr würdet alle …« Er spricht nicht weiter, und wieder fällt mir auf, wie sehr die Immunität ihn verändert hat.
Elias steht still da und sagt dann: »Sie hat recht.« Er beginnt zu nicken. »Sie hat recht. Das ist das Beste für uns.«
Catcher zieht Cira von uns weg. »Das ist absurd«, entgegnet er.
»Nein.« Eigentlich will ich die Worte zurückhalten. »Meine Mutter kommt aus dem Wald. Es gibt Pfade, ein Dorf.« Doch schon, als ich es erkläre, wünsche ich mir, dass sie es mir ausreden.
»Da gibt es keine Pfade«, erwidert Catcher mürrisch. Seine Wangen glühen rot, die Augen sind zusammengekniffen. »Wenn es sie gäbe, würden wir es wissen. Da ist eine Brücke über den Wasserfall und dann ein Tor ins Nichts.«
»Aber wenn es Pfade gibt«, sagt Elias und sieht Catcher ins Gesicht, »dann könntest du sie finden. Du kannst in den Wald gehen und nachsehen.«
Ich nicke. Catcher will protestieren, aber Elias fällt ihm ins Wort. »Hör mal, wir müssen hier weg«, sagt er leise. »Wenn wir hier stehen bleiben, sind wir nicht sicher.«
Catchers Blick wandert zwischen mir und Elias hin und her und geht dann zu seiner Schwester. Er legt ihr den Arm um die Taille. »Und du versprichst, dass es Pfade gibt? Dass wir fliehen können?«, fragt er. »Dass wir da sicher sind?«
Nein, will ich sagen, der Wald macht mir fürchterliche Angst. Aber ich glaube, in dieser Situation ist er unsere einzige Hoffnung. Deshalb nicke ich, und wir rennen los.