KAPITEL 15
Aus dem Vorraum wurden sie in das Büro des Vizepräsidenten geführt. Er war ein großer weißhaariger, wohlgenährter Mann mit einem vertrauenerweckenden Lächeln und einem kräftigen Händedruck, den er zweifellos bei Tausenden von Wahlkampfveranstaltungen erworben hatte. Der Stabschef war klein und drahtig; seine Augen suchten ständig wie eine Radaranlage die Umgebung ab.
Plötzlich kam es Stone in den Sinn, dass der Vizepräsident vielleicht nicht nur hier war, um der Sache mehr Bedeutung zu verleihen. Er war im Nationalen Sicherheitsrat des Präsidenten. Trotzdem überraschte es Stone, dass er eingewilligt hatte, sich direkt mit ihm zu treffen und nicht durch einen Untergebenen mit ihm zu kommunizieren. Andererseits schlug man seinem Präsidenten nicht so einfach einen Wunsch ab.
Die üblichen Höflichkeiten wurden ausgetauscht, ehe sie zur Sache kamen. Alex Ford stand an der Tür. Jetzt gehörte er zum Sicherheitspersonal und war kein Freund mehr.
»Der Präsident hat uns gebeten, uns mit Ihnen zu treffen.« Der Vizepräsident nickte in Chapmans Richtung. »Mit Ihnen beiden. Wir wollen dieser … äh … delikaten Angelegenheit offensichtlich so schnell wie möglich auf den Grund gehen.«
Im Geiste übersetzte Stone die Aussage in klares, präzises Englisch. Der Vizepräsident hatte eigentlich sagen wollen: »Das ist nicht meine Idee, und obwohl ich meinem Präsidenten durchaus ergeben bin, werde ich nicht die Schuld auf mich nehmen, wenn uns die Sache um die Ohren fliegt. Deshalb ist der Stabschef hier. Mein Chef geht vielleicht unter, aber ich nicht.«
Stone fragte sich, ob einer der beiden Männer von dem ursprünglichen Plan wusste, ihn nach Mexiko zu schicken, damit er dort half, gegen den russischen Kartell-Albtraum vorzugehen. Amerikanische Vizepräsidenten waren schon oft von ihrem Regierungschef im Dunkeln gelassen worden. Stabschefs wussten normalerweise immer, was der Präsident tat.
Der Vizepräsident blickte zum Stabschef, worauf dieser Stone ein ledernes Etui hinhielt. »Ihre Legitimationen.«
Stone nahm das Mäppchen entgegen, öffnete es und blickte in sein Gesicht, das ihn aus den Tiefen des offiziellen Fotos anstarrte, das Teil seiner neuen Aufgabe war. Er fragte sich, wann sie das Foto gemacht hatten. Vielleicht, als er beim NIC in dem Zimmer gesessen hatte, was bedeutete, dass Riley Weaver von alledem wusste. Er musste lächeln, als er den gedruckten Namen sah:
Oliver Stone
Neben dem Foto lag sein Ausweis. Darauf war er offiziell zum Außendienstmitarbeiter des Koordinators für Sicherheit, Infrastrukturschutz und Terrorismusabwehr geworden. Das alles ergab Sinn. Der nationale Koordinator arbeitete im Nationalen Sicherheitsrat und erstattete durch den Nationalen Sicherheitsberater dem Präsidenten Bericht. Über einen Mittelsmann bestand eine Verbindung zum Weißen Haus. Der Präsident sicherte sich ab, genau wie sein gerissener Stellvertreter.
Stone blätterte zur nächsten Hülle in dem Etui weiter. Darin befand sich seine funkelnde Dienstmarke mit den Insignien der Behörde.
»Interessante Wahl der Geheimdienste«, sagte er.
Der Vizepräsident zeigte sein gewinnendes, unergründliches Lächeln. »Nicht wahr?«
Doch Stone war es gelungen, schon Tausende solcher undurchschaubarer Gesichter zu deuten. Und das des Vizepräsidenten war keine Ausnahme.
Er glaubt, das alles ist verrückt, und wahrscheinlich hat er recht.
»Die Behörde ist genauso bedeutend wie das DHS und das FBI«, fügte der Stabschef hinzu. »Wenn nicht sogar bedeutender. Es gibt nur wenige Türen, die man mit diesem Ausweis nicht öffnen kann. Und die meisten davon befinden sich in diesem Gebäude.«
Dann wollen wir mal hoffen, dass ich nicht versuchen muss, hier irgendwelche Türen zu öffnen, dachte Stone. »Sie handeln in seinem Interesse«, sagte er zum Stabschef. Bevor der verblüffte Mann antworten konnte, wandte Stone sich an den Vizepräsidenten. »Und Sie vertrauen offensichtlich dem Urteil des Präsidenten oder hoffen zumindest, dass ihm kein ernster Fehler unterläuft, indem er mich mit diesen Befugnissen ausstattet.«
Beide Männer schienen Stone nun in einem anderen Licht zu sehen.
Der Vizepräsident nickte. »Er ist ein guter Mann. Also hoffe ich, dass sein Vertrauen gerechtfertigt war, wenn alles gesagt und getan ist. Ich nehme an, Sie denken genauso.«
Stone steckte seine neuen Ausweise ein, ohne zu antworten.
»Sie werden nach diesem Gespräch von einem Repräsentanten aus dem Büro des Nationalen Koordinators vereidigt«, sagte der Stabschef. »Damit haben Sie auch die Befugnis, Verhaftungen vorzunehmen. Außerdem sind Sie berechtigt, eine verborgene Waffe zu tragen. Falls Sie sich dafür entscheiden«, fügte er zweifelnd hinzu.
Es war klar, dass auch der Stabschef es für Wahnsinn hielt, einem Mann wie ihm dermaßen weitreichende Befugnisse zu übertragen. Stone fragte sich, wie lange der Stabschef mit dem Präsidenten wegen dieser Entscheidung gestritten hatte, bevor der Präsident sich durchsetzen konnte.
Er warf Chapman einen Blick zu. »Meine Freundin vom MI6 hier hat eine sehr schöne Walther PPK. Ich glaube, das wird für den Augenblick genügen.«
»Na schön.« Der Vizepräsident stand auf und zeigte damit an, dass das Treffen beendet war. Stone wusste, dass sein Terminplan in Abschnitte von fünfzehn Minuten eingeteilt war und er deshalb die Sache ein wenig beschleunigt hatte.
Warten Sie noch ein bisschen, und der Geruch dieser Sache wird Ihnen permanent anhaften, Sir.
Sie schüttelten sich die Hände. »Viel Glück, Agent Stone«, sagte der Vizepräsident.
»Verdammt«, sagte Chapman mit ironischem Humor, als sie Alex den Gang entlang folgten, »hätte ich gewusst, dass es so einfach ist, in Amerika Agentin zu werden, wäre ich längst hierher ausgewandert.«
»Es ist ein bisschen zu glatt verlaufen.« Stone warf Alex einen Blick zu.
»In den letzten fünfzehn Jahren hat sich einiges verändert«, sagte der Agent des Secret Service. »Wir haben hier mehr Unternehmer mit Waffen und Dienstmarken herumlaufen, als ihr euch vorstellen könnt. Sowohl beim Personenschutz bei Militäreinsätzen in Übersee als auch hier zu Hause. Das liegt in der Natur der Sache. Hör mal«, fügte er so leise hinzu, dass Chapman ihn nicht verstehen konnte, »die Leute müssen wissen, dass John Carr zurück ist. Das musst du verstehen.«
»Ja, sicher.«
»Du hast eine Menge Geheimnisse, Oliver. Für einige Menschen zu viele.«
»Das ist mir auch schon in den Sinn gekommen.«
»Du musst das nicht tun.«
»Doch.«
»Warum?«, fragte Alex.
»Aus einer Vielzahl von Gründen.«
Alex schaute verärgert drein, sagte aber nichts.
»Wenn wir hier fertig sind, gehen wir zurück zum Park«, fuhr Stone fort. »Kannst du uns begleiten?«
Alex schüttelte den Kopf. »Ich bin hier dem Personenschutz zugeteilt. Und wie ich dir schon sagte, darf ich mich nicht mal in die Nähe dieser Ermittlung begeben. Sie haben aus offensichtlichen Gründen eine Chinesische Mauer um diese beschissene Sache errichtet.«
Stone betrachtete ihn. »Weil jemand glaubt, dass es im Secret Service einen Maulwurf gibt?«
Dem Agenten schien diese Vermutung unangenehm zu sein, doch er nickte. »Ich halte das für einen Haufen Scheiße, aber man muss alle Möglichkeiten in Betracht ziehen.«
In einem anderen Raum des Weißen Hauses wurde Stone vereidigt. Dann bekam Chapman ihre geliebte Waffe zurück, und sie verließen das Weiße Haus und gingen zum Park.
»Schön, wenn man den Präsidenten der einzig verbliebenen Supermacht auf seiner Seite hat.«
»Kann schon sein.«
»Werde ich je die ganze Geschichte hören, wie es dazu gekommen ist?«
»Nein, werden Sie nicht.«