KAPITEL 22
Eine halbe Stunde später war Stone wieder im Lafayette Park. Die Gegend war noch immer abgeriegelt, und die Sicherheitsvorkehrungen waren die strengsten, die er je gesehen hatte, strenger noch als nach dem 11. September. Jemand war in das Herz der nationalen Führung eingedrungen, und in den betäubt wirkenden Gesichtern der Sicherheitskräfte konnte Stone Zorn, Verlegenheit und Furcht erkennen.
Er hatte gerade den Explosionsort erreicht, als er auf Chapman stieß. Sie trug schwarze Hosen und eine dazu passende kurze Jacke, die ziemlich weit geschnitten war, um ihr Schulterhalfter zu verbergen.
»Alle Agentinnen, die ich kenne, benutzen ein Gürtelhalfter«, sagte Stone.
»Ach ja? Nun, ich kann schneller aus dem Schulterhalfter ziehen. Und ich muss meine verdammte Pistole nicht in meine Strumpfhose stopfen, wenn ich mal aufs Klo muss. Außerdem habe ich meine Blusen an dieser Stelle zusätzlich ausstopfen lassen.«
»Warum?«
Sie warf ihm einen grimmigen Blick zu. »Weil ich Brüste habe, Stone, falls Ihnen das noch nicht aufgefallen sein sollte.«
»Eigentlich versuche ich, Sie geschlechtsneutral zu halten, Agent Chapman.«
»Sie sind ja so was von politisch korrekt«, sagte Chapman. »Also der Jemen?«
»Glauben Sie daran?«, fragte Stone.
»Einigen kommt das verdammt gelegen.«
»Und Ihrem Chef?«
»Er glaubt prinzipiell kaum noch was.«
»Das macht das Alter«, stellte Stone fest. »Agent Garchik kommt später noch mal her, um noch einmal zu suchen.«
»Noch einmal? Hat er beim ersten Mal nicht genug mit seinem supertollen Trümmeranalysegerät gefunden?«
»Ich glaube, er geht noch mal an die Sache heran, weil er sich ziemliche Sorgen macht.«
»Oliver?«
Stone drehte sich sofort um, als er die Stimme hörte. Sie war unverkennbar, eigentlich sogar unvergesslich. Und er hatte sie sehr lange nicht mehr gehört.
»Adelphia?«
Die Frau stand hinter den Absperrungen an der H Street, umgeben von vier Polizeibeamten und zwei Agenten des Secret Service.
Stone eilte zu ihr. Chapman folgte ihm.
»Die Lady behauptet, Sie hätten darum gebeten, sich hier mit ihr zu treffen«, sagte einer der Agenten. »Sonst wäre sie gar nicht so weit gekommen.«
»Adelphia?« Stone starrte sie an.
»Sie kennen die Frau, Sir?«, fragte der Agent.
»Ja.«
»Ich kann trotzdem keine Unbefugte durch die Absperrung lassen. Der Tatort wurde noch nicht wieder freigegeben.«
»Klar«, sagte Stone. »Ich komme raus und bringe sie von hier weg.«
Er trat durch eine Öffnung in den Absperrungen, nahm Adelphias Arm und führte sie zur St. John’s Church. Neben dem Eingang stand eine Bank. Stone wusste, dass diese Bank vor Jahren zweckentfremdet worden war, um CIA-Frischlingen zu erklären, wie man geheime Informationen mittels toter Briefkästen weitergibt. Jetzt war sie einfach nur ein Ort, an dem man sich ausruhen konnte.
Sie setzten sich, während Chapman in der Nähe, aber außer Hörweite blieb, da Adelphia eindringlich verlangt hatte, unter vier Augen mit Stone zu sprechen.
Oliver Stone und Adelphia hatten einen gemeinsamen Hintergrund. Sie war sogar noch vor ihm eine Demonstrantin am Lafayette Park gewesen. Sie waren Freunde geworden, und Adelphia hatte Stone durch schwierige Zeiten in seinem Leben geholfen. Eines Tages war sie nicht mehr zu ihrem kleinen Zelt am Rand des Parks zurückgekommen. Nach ein paar Tagen hatte Stone ihre winzige Wohnung über einer Trockenreinigung in Chinatown aufgesucht, um nach ihr zu sehen. Die Wohnung war leer gewesen. Niemand hatte ihm sagen können, wohin sie gegangen war. Er hatte sie nicht mehr wiedergesehen, bis zu diesem Augenblick.
Sie sah älter aus, ihr Haar war voller Grau, und unter den Augen hatten sich Tränensäcke gebildet. Ihr Gesicht war schon faltenreich gewesen, als er sie zum letzten Mal gesehen hatte, doch nun wirkte es geradezu verhärmt und hutzelig. Stone erinnerte sich, dass sie streitsüchtig und schwierig gewesen war. Und geheimnistuerisch. Aber er hatte genug über ihren Hintergrund erfahren, um zu vermuten, dass sie ein außerordentliches Leben geführt hatte, bevor sie sich im Lafayette Park niedergelassen hatte.
»Wo bist du die ganze Zeit gewesen, Adelphia? Du bist einfach verschwunden.«
»Ich musste verschwinden, Oliver. Es war an der Zeit.«
Ihre Stimme war nicht mehr so akzentbehaftet wie zuvor. Sie hatte die englische Sprache nie sehr gut beherrscht, aber das hatte sich nun entschieden verbessert.
»Was meinst du damit, dass es an der Zeit war?«
»Ich muss dir etwas sagen.«
»Was?«
»Zuerst eine Frage. Arbeitest du wieder für die Regierung?«
»Wieder? Woher weißt du, dass ich je für die Regierung gearbeitet habe?«
»Ich weiß nicht viel über dich, Oliver, aber einige Dinge weiß ich.« Sie hielt inne, fügte dann hinzu: »Zum Beispiel, dass du in Wirklichkeit John Carr heißt.«
Er setzte sich zurück und betrachtet sie in einem neuen Licht. »Seit wann hast du das gewusst?«
»Erinnerst du dich noch, wie dieser Mann dich angegriffen hat? Als ich dem Obdachlosen ein bisschen Geld geben wollte?«
»Ich erinnere mich.«
»Du hast dich mit einer Technik verteidigt, die ich zuvor nur einmal gesehen hatte. Als sowjetische Elitekommandos nach Polen kamen, um Dissidenten zusammenzutreiben.«
»Hast du mich verdächtigt, ein Spion zu sein?«
»Der Gedanke ist mir gekommen, aber die Ereignisse haben etwas anderes ergeben.«
»Was für Ereignisse meinst du?«
»Ich weiß, dass dein Land dich verraten hat. Aber jetzt arbeitest du wieder für die Regierung?«
»Ja.«
»Dann kann ich dir helfen.«
»Inwiefern?«
»Der Mann im Anzug, der vorgestern Abend hier war …«
Stone beugte sich näher zu ihr. »Du weißt, wo er ist?«
»Ja.«
»Und du weißt, warum er an diesem Abend hier im Park war?«
»Ja.«
»Wollte er sich hier mit jemandem treffen?«
»Ja.« Sie hielt inne. »Mit mir.«