KAPITEL 95
»Warum Annabelle und Caleb?«, sagte Harry Finn, als sie alle in Knox’ Range Rover westlich von Washington auf der Route 29 fuhren. Die Nacht war dunkel, obwohl die Morgendämmerung nur noch wenige Stunden entfernt war. Es gab kaum Licht, und die düstere Stimmung im Wagen passte zur Tageszeit.
Stone saß wieder auf dem Beifahrersitz und entgegnete grimmig: »Weil sie mir geholfen haben, sie hereinzulegen. Und das hat ihr gar nicht gefallen.«
Sie hat mich mit einer Taktik ausmanövriert, die jeder Anfänger hätte durchschauen müssen, und ich bin wie ein Narr darauf hereingefallen.
Aber noch etwas anderes machte Stone zu schaffen. Für jemanden, der so intelligent und ehrgeizig war wie Marisa Friedman, war bloße Rache keine ausreichende Motivation. Da musste mehr dahinterstecken. Stone wusste nur nicht, was es war. Und wenn er sich vor etwas fürchtete, dann vor dem Unbekannten.
Sie hatten schnell ermittelt, dass sowohl Annabelle wie auch Caleb verschwunden und seit mindestens vierundzwanzig Stunden nicht mehr gesehen worden waren. Stone hatte ein paar Minuten erübrigt, um Alex Ford auf der Intensivstation zu besuchen. Sein Zustand war unverändert, aber er hatte sich auch nicht verschlechtert, was Stone ausnahmsweise einmal als gute Nachricht interpretierte. Als er seinen Freund mit dem dicken Verband um den Kopf in seinem Bett betrachtet hatte, hatte er sich vorgebeugt, Alex’ Hand ergriffen und sie fest gedrückt. »Das hast du gut gemacht, Alex. Dem Präsidenten ist nichts passiert. Niemand wurde verletzt. Du bist ein Held.« Stone hatte auf seine Hand geschaut. Er war der festen Überzeugung, gespürt zu haben, wie sein Freund den Händedruck erwiderte. Doch als er den Blick wieder auf den bewusstlosen Agenten gerichtet hatte, war ihm klar geworden, dass es nur Wunschdenken war.
Er hatte Alex’ Hand losgelassen und war zur Tür gegangen. Irgendetwas hatte ihn bewogen, noch einmal zurückzublicken. Als er seinen Freund betrachtet hatte, der um sein Leben kämpfte, hatte ihn ein so starkes Schuldgefühl erfasst, dass seine Knie zitterten.
Er liegt da nur wegen mir. Und jetzt sind Annabelle und Caleb vielleicht auch tot. Und wieder ist es meine Schuld.
Stone hatte noch einen weiteren Zwischenstopp eingelegt, in einer Buchhandlung in Alexandria, die sich auf seltene Bücher spezialisiert hatte. Er und Caleb hatten dem Besitzer geholfen; im Gegenzug hatte der Mann ihm erlaubt, gewisse Gegenstände in einem Geheimraum unter dem alten Gebäude aufzubewahren. Diese Gegenstände waren nun hinten im Rover verstaut.
»Die Mördergrube?«, meldete Chapman sich zu Wort. »Sie haben das bereits erwähnt, es aber nicht weiter erklärt.«
Als Stone sich nicht rührte, antwortete Knox für ihn. »Auch bekannt als Murder Mountain. Ein altes Ausbildungslager des CIA in einem Berg. Hat man schon vor meiner Zeit dichtgemacht. Soweit ich gehört habe, war das ein übler Ort. So wie die Agency die Dinge im Kalten Krieg nun mal gehandhabt hat. Ich dachte, man hätte alles abgerissen.«
»Hat man nicht«, sagte Stone.
Knox warf ihm einen neugierigen Blick zu. »Warst du in letzter Zeit mal dort?«
»Ja. Vor Kurzem.«
»Warum?«, fragte Chapman.
»Geschäftlich«, erwiderte Stone angespannt.
Finn beugte sich auf der Rückbank vor. »Wie sieht der Grundriss aus?«
Als Antwort zog Stone ein laminiertes Blatt aus der Tasche und reichte es nach hinten. Finn schaltete die Innenbeleuchtung ein, damit er und Chapman die Zeichnung studieren konnten. Am Rand standen Anmerkungen in Stones Handschrift.
»Das sieht ja schrecklich aus«, meinte Chapman. »Ein Labor mit Folterkäfig? Eine Zelle, wo man in der Dunkelheit gegen seinen Gegner antritt, um herauszufinden, wer wen töten kann?«
Stone drehte den Kopf. »Das war nichts für Zartbesaitete.« Sein Blick war fragend. Chapman begriff schnell.
»Ich bin nicht zartbesaitet.«
»Gut zu wissen.«
Sie deutete auf die Ladefläche des Rovers. »Das ist eine prächtige Sammlung klassischer Ausrüstung, die Sie da haben.«
»Allerdings.«
»Wie packen wir es an?«, wollte Knox wissen und bog von der Route 69 auf den Highway 211 ab. Sie kamen in die winzige Stadt Washington, Virginia, Sitz des Rappahannock County an den Ausläufern der Blue Ridge Mountains. Washington, Virginia, war nur aus einem einzigen Grund berühmt: Es war die Heimat des Inn at Little Washington, eines namhaften Restaurants, das seit über einem Vierteljahrhundert Küche von Weltklasseniveau anbot.
Als sie die Stadt hinter sich ließen und höher in die Berge fuhren, brach Stone das Schweigen. »Es gibt mehrere Zugänge. Einer ist offensichtlich, der andere nicht.«
»Wie gut kennt die Frau den Ort?«, fragte Chapman. »Was glauben Sie?«
»Man hat ihn vor ihrer Zeit benutzt, genau wie bei Knox. Sie kann unmöglich dort ausgebildet worden sein. Aber ich kann Ihre Frage nicht beantworten. Offensichtlich wusste sie von seiner Existenz. Möglicherweise hat sie ihn genau erforscht. Vermutlich hat sie jeden Quadratzentimeter untersucht. So schätze ich sie jedenfalls ein.«
»Also wird sie den zweiten Eingang kennen?«, fragte Knox.
»Davon müssen wir ausgehen.«
Aber den dritten Ein-und Ausgang kennt sie nicht. Den kenne nur ich.
Stone hatte diesen Ausgang während seines vierten Monats in der Mördergrube entdeckt, als er das dringende Bedürfnis verspürt hatte, diesen Ort zu verlassen, um ein paar Augenblicke für sich allein zu sein. Um zu verschnaufen, wieder zu klarem Verstand zu kommen. Um aus dem Höllenloch herauszukommen. Denn es war schlimmer, als ein Gefängnis je hätte sein können. Deshalb hatte er das Hochsicherheitsgefängnis, in dem er und Knox gelandet waren, ziemlich gut ertragen können.
Weil ich etwas viel Schlimmeres ertragen hatte. Ein Jahr in der Mördergrube.
»Aber ich verstehe nicht, warum sie ihr Lager an diesem Ort aufschlug, Caleb und Annabelle entführte und Sie dann im Grunde herausgefordert hat, zu ihr zu kommen«, meinte Chapman. »Jetzt kann sie nicht mehr entkommen.«
Stone wirkte grimmig. »Ich glaube nicht, dass sie das überhaupt noch will. Sie weiß, dass sie für diese Sache bezahlen wird. Aber sie wird zu ihren eigenen Bedingungen bezahlen.«
»Dann ist sie zu sterben bereit?«, fragte Knox.
»Ja. Und uns will sie mitnehmen«, erwiderte Stone.
»Eine gefährliche Gegnerin«, meinte Finn. »Jemand, dem es egal ist, ob er lebt oder stirbt. Wie ein Selbstmordattentäter mit einer Bombe.«
»Über mich sollte sie genauso denken«, murmelte Stone. »Das wäre besser für sie.«
Die anderen drei sahen sich an, sagten aber nichts.
Schließlich brach Mary Chapman das Schweigen. »Also der Vordereingang oder der versteckte Eingang? Irgendwie müssen wir rein.«
»Sie wird sechs Männer um sich haben. Alles Russen, hart wie Stahl. Die werden jeden umbringen, wenn sie es befiehlt.«
»Okay, aber das beantwortet meine Frage nicht.«
»Es ist eine große Anlage. Sie werden Caleb und Annabelle von mindestens einem Mann bewachen lassen. Friedman wird sich an einem geschützten Ort aufhalten. Damit bleiben fünf Mann übrig, die die Umgebung bewachen. Sie können sie nicht alle an den Eingängen postieren. Mindestens drei müssen zum Schutz der Räume abgestellt werden. Also ist nur noch einer an jedem Eingang. Das ist nicht viel.«
»Was erwartet sie von uns?«
»Beide Eingänge anzugreifen. Mit dem Team, das durchkommt, setzt man sich dann auseinander. Würden wir das tun, müssten wir uns aufteilen, und damit wären es zwei gegen einen. Greifen wir einen Eingang zusammen an, sind es vier gegen einen.«
»Dieses Kräfteverhältnis gefällt mir schon besser«, sagte Knox.
»Mir auch«, erwiderte Stone. »Aber so machen wir es nicht.«
»Warum nicht?«, fragte Chapman.
»Sie werden schon sehen.«