16. KAPITEL
Am Samstagnachmittag saß Daria im Schatten eines Sonnenschirms am Strand. Obwohl es sehr voll war, hatte sie noch ein Plätzchen in der Nähe des Strandhafers ergattert. Sie las in einem Architekturmagazin – oder zumindest versuchte sie es, denn sie wurde von Schuldgefühlen gepiesackt, die ihr die Konzentration stahlen. Am Morgen hatte der Leiter der Rettungsleitstelle angerufen, ihr von der akuten Personalknappheit berichtet und sie angefleht zurückzukommen. Die müssen denken, ich bin ein sturer Esel, dachte sie. Sie wussten ja nicht, dass es die pure Angst und Scham waren, die sie daran hinderten, in einen Rettungswagen zu steigen und zur nächsten Unfallstelle zu fahren.
“Lass uns Krebse fangen gehen.” Die Stimme kam von hinten, und sie drehte sich um und sah Rory auf sich zu kommen. Zu dem goldgelben T-Shirt und den schwarzen Shorts trug er einen Strohhut, der sie zum Lachen brachte.
“Krebse fangen?”, fragte sie. “Ich glaube, das habe ich nicht mehr gemacht, seit wir Kinder waren.”
“Das habe ich mir vorhin auch überlegt”, erwiderte Rory. “Wir haben damals die Hälfte unserer Zeit mit Krebsfangen verbracht, und das, obwohl mir die Viecher noch nicht mal geschmeckt haben. Aber jetzt mag ich sie. Also, wie wär's? Ich habe sogar Köder gekauft – in weiser Voraussicht, dass du bestimmt Ja sagst.”
Daria dachte an das alte Krebsnetz und die Fallen, die im Geräteschuppen des Sea Shanty längst Staub angesetzt hatten. Dann sah sie zu ihm auf. “Du hast mich damals im Stich gelassen, weißt du das eigentlich?”
“Dich im Stich gelassen?” Mit dem Strohhut auf dem Kopf sah er aus wie Huckleberry Finn.
“Ja. Du hast mich für die Älteren fallen lassen wie eine heiße Kartoffel.”
Rory blickte angestrengt zum Horizont, als müsste er ihre Worte verdauen. “Ja, das habe ich wohl. Ich habe mich damals irgendwann verpflichtet gefühlt, meine Zeit mit dir zu verbringen. Wahrscheinlich, weil ich unbedingt zu den anderen gehören wollte. Hat übrigens nie geklappt.” Er lächelte sie an. “Tut mir leid.”
“Es sei dir verziehen.” Sie stand auf. Ihren Sonnenschirm und den Stuhl würde sie einfach am Strand lassen. “Dann gehen wir doch mal auf Krebsfang”, sagte sie.
“Prima! Fahren wir mit meinem Wagen?”
“Wie wär's mit dem Fahrrad?”, schlug sie vor. Sie wusste, dass er und Zack für den Sommer Fahrräder gemietet hatten, und sie selbst besaß natürlich auch eines.
Während Rory die Köder aus dem Haus holte, suchte Daria im Schuppen die alte Ausrüstung zusammen. Sie trafen sich auf der Sackgasse, teilten die Sachen auf die Räder auf und machten sich dann quer durch Kill Devil Hills auf den Weg zum an der Bucht gelegenen Pier.
Daria fuhr hinter Rory, darum bemüht, mehr auf den Verkehr und weniger auf das Spiel seiner Rückenmuskeln zu achten. Sie hatten sich in den letzten Tagen ein paar Mal unterhalten – am Strand, im Sea Shanty oder im Fitnessclub –, und jedes Gespräch hatte sich um dieselben Themen gedreht: Grace oder Zack. Rory und Grace hatten sich nun schon mehrmals getroffen, und Daria hätte gern gewusst, in welcher Beziehungsphase sie sich befanden. Er sprach davon, verliebt zu sein, erwähnte jedoch keine intimen Details, über die Daria liebend gern mehr erfahren hätte und die sie sich zugleich um keinen Preis vorstellen wollte. Sie hatte seinen hinreißenden Sohn Zack kennengelernt, der dem Rory von damals dermaßen ähnlich sah, dass es ihr Probleme bereitet hatte, ihm in die Augen zu sehen. Als sie so hinter Rory herradelte, musste sie sich eingestehen, dass sie wieder einen guten Kumpel mehr hatte. Großartig.
Am Pier war erstaunlich wenig Betrieb für diese Jahreszeit, doch einen so herrlichen Tag verbrachte vermutlich jeder am Strand. Sie brachten die Ausrüstung zum Ende des Stegs, platzierten einen Fischkopf in der Falle und ließen sie dann ins Wasser. Rory machte einen weiteren Fischkopf an einer Schnur fest und ließ ihn seitlich am Steg hinunter. Mit verzogenem Gesicht wischte er sich die Hand an einem Tuch ab. “Ist schon ein Weilchen her, seit ich zum letzten Mal einen Fischkopf in der Hand hatte”, erklärte er.
“Mach dir nichts vor”, meinte sie. “Du kannst nicht einen Nachmittag lang Krebse fangen und dann nach Hause gehen, ohne wie ein Fischverkäufer zu riechen.”
Sie saßen nebeneinander auf dem Steg und ließen die Beine über dem Wasser baumeln. Neben kleinen Sportkatamaranen und Jollen war die Bucht übersät mit Windsurfern, und weit draußen schwebte ein Parasegler hoch über dem Meer.
“Verrückt”, sagte Rory. “Für eine Sekunde habe ich mich wieder gefühlt wie ein Kind – wie damals, als wir hier zusammen saßen. Und als ich dann nach unten geschaut und diese Erwachsenenbeine gesehen habe, habe ich mich ganz schön erschreckt.”
Sie lächelte in sich hinein. Er hatte beim Anblick ihrer Beine also Erwachsenenbeine gesehen, mehr nicht. Vermutlich waren ihm Graces grazilen weißen Beine tausendmal lieber als ihre gebräunten und durchtrainierten.
Rory holte eine Dose Cola aus seiner Strandtasche und reichte sie ihr.
“Danke.” Sie öffnete sie vorsichtig.
“Und”, fragte Rory nach dem ersten Schluck, “woran erinnerst du dich, wenn du an den Morgen zurückdenkst, als du Shelly gefunden hast?”
Daria war zutiefst enttäuscht. In den Gesprächen der letzten Woche hatte Rory dieses Thema nicht angesprochen, und sie war über seinen vermeintlichen Sinneswandel froh gewesen. Nun fühlte sie sich verraten. Verbrachte er deshalb seine Zeit mit ihr? Um sie für seine Sendung über Shelly auszuhorchen?
“Ich will dir dabei nicht helfen, Rory”, sagte sie. “Du weißt genau, dass ich es nicht gut finde, wenn du alles wieder aufwühlst. Ich halte es nach wie vor für einen Fehler.”
Einen Moment lang herrschte Stille. “Ich wollte mich nur unterhalten”, meinte er dann.
“Wolltest du nicht.”
“Jawohl. Ich habe gerade darüber nachgedacht, wie du zu 'Supergirl' wurdest. Eine elfjährige Heldin. Ich kannte kein anderes Kind, mich eingeschlossen, das fähig gewesen wäre, ein blutverschmiertes Baby auf den Arm zu nehmen und nach Hause zu bringen. Ich wäre nach Hause gerannt und hätte meine Mutter geholt. Und bis wir zurück gewesen wären, hätte das Baby wahrscheinlich nicht mehr gelebt.”
Sie hatte wohl überreagiert, und deshalb beschloss sie, ihm etwas entgegenzukommen. “Dass ich Shelly gefunden habe, hat mein Leben verändert”, begann sie. “In vielerlei Hinsicht. Ich habe den Ernst des Lebens quasi über Nacht kennengelernt. Ich wusste nicht, was die Plazenta war – ich ekelte mich sogar davor. Aber als mir meine Mutter erklärte, dass sie für die Versorgung des Babys im Mutterleib zuständig ist, war ich fasziniert. Damals stand für mich fest, dass ich Ärztin werden und mich auf Geburtshilfe spezialisieren wollte. Dieses Gefühl, als ich das kleine Bündel im Arm hielt, war so besonders, dass ich es unbedingt wieder erleben wollte.” Schon lange hatte Daria nicht mehr daran gedacht, nicht bewusst jedenfalls, aber die Erinnerung an das neugeborene Kind, das sie, selbst noch ein Kind, in ihren Händen gehalten hatte, saß nach all den Jahren immer noch tief in ihrem Herzen.
“Und was ist dann passiert?”, wollte Rory wissen. “Wieso bist du keine Ärztin geworden?”
“Ich wollte es wirklich. Ich war Feuer und Flamme und habe im College sogar vormedizinische Kurse belegt. Aber dann wurde Mom krank. Ein schnell wachsendes Dickdarmkarzinom. Ich habe alles stehen und liegen lassen und bin nach Hause gefahren. Mom hatte schreckliche Angst zu sterben – nicht um ihretwillen, sondern wegen Shelly. Ich musste ihr versprechen, mich um sie zu kümmern, was ich ohnehin getan hätte. Sie sagte mir, ich wäre so etwas wie Shellys Mutter. Sie sagte, eigentlich wäre ich es gewesen, die ihr das Leben geschenkt habe. Und wie jedes Mal war ich bei dem Gedanken, dass Shelly ohne meinen morgendlichen Strandspaziergang nie Teil unserer Familie geworden wäre, wie vom Donner gerührt. Mom hat mir immer erlaubt, dass ich mich mit um sie kümmere. Shelly war so hübsch und so … lebhaft, von Anfang an. Ein wahrer Wonneproppen. Sie brachte die Freude zurück in unser Haus. Bevor ich Shelly gefunden habe, litt meine Mutter unter schweren Depressionen. Damals habe ich das natürlich nicht gewusst, aber ich weiß es heute: Shelly hat in ihr neue Lebensfreude geweckt.”
“Das hört sich so an, als würdest du in ihr so was wie eine … gute Fee sehen.”
Daria lächelte. “Du etwa nicht?”
“Doch. Sie ist definitiv etwas Besonderes.”
“Damals brauchte sie viel Betreuung”, fuhr Daria fort. “Ich weiß, du hältst es für übertrieben, wenn ich sage, dass sie leicht ausgenutzt werden kann. Aber es stimmt. Kurz vor Moms Tod wurde Shelly von so einem Typen entführt, der in unserer Nachbarschaft jungen Mädchen nachstellte. Sie hatte noch nicht einmal verstanden, dass sie in Gefahr war, und ist an einer roten Ampel einfach aus seinem Wagen gestiegen. Wir hatten ihr zwar verboten, mit Fremden mitzugehen, doch der Mann hatte behauptet, kein Fremder zu sein. Also ging sie mit.”
“Aber Daria, sie war damals erst acht. Mit acht haben wir doch alle dumme Sachen gemacht. Du brauchst sie jetzt nicht mehr in diesem Ausmaß zu beschützen.”
“Das ist mir schon klar”, verteidigte sie sich. “Trotzdem ist ihr Urteilsvermögen immer noch mies. Glaub es mir einfach.”
Rory wollte sich nicht streiten. Er zog an der Schnur, sah den unberührten Fischkopf und ließ ihn zurück ins Wasser.
“Hast du es nicht irgendwann einmal bereut, die Verantwortung für sie übernommen zu haben? Immerhin musstest du dafür deinen Traum opfern, Ärztin zu werden.”
“Nicht eine Sekunde.” Daria meinte es ehrlich. “Ich glaube, meine Bestimmung ist es, mich um Shelly zu kümmern, so wie es Chloes ist, ihr Leben dem Herrgott zu widmen.” Sie erinnerte sich noch, wie sie ihre Entscheidung mit Chloe diskutiert hatte. Chloe weinte. Sie wünschte sich für ihre Schwester, dass sie das College beenden konnte. Doch als Daria ihr versicherte, dass ein Leben für und mit Shelly genau das war, was sie wollte, schien Chloe ihre Entscheidung bereitwilliger zu akzeptieren.
“Ich habe dafür mehr Tischlerarbeiten erledigt. Weißt du noch, wie ich immer zusammen mit meinem Dad Möbel gebaut habe?”
“Natürlich.”
“Ich habe es schon immer geliebt, Dinge mit meinen Händen zu erschaffen. Und mit meiner Arbeit als Rettungsassistentin konnte ich mein medizinisches Interesse ausleben. Ich bereue also nichts.”
“Wieso hast du den Job als Sanitäterin an den Nagel gehängt?”
“Zehn Jahre waren einfach genug. Auch wenn ich die Arbeit gern gemacht habe.”
Bei dem letzten Satz schnürte es ihr die Kehle zu, und sie holte langsam die Falle ein – in der Hoffnung, ein Krebs würde ihr helfen, das Thema zu wechseln. Sie hatte Glück. “Sieh mal”, sagte sie. “Wir haben gleich zwei.” Sie stellte die Falle auf den Steg und warf die großen blauen Krebse in den Eimer.
Rory nahm einen weiteren Fischkopf aus der Köderbox und legte ihn in die Falle. Nicht ohne Genugtuung bemerkte Daria, dass er sich die Hände nur noch halb so gründlich an dem Tuch abwischte. Dann ließ sie das Fanggerät wieder ins Wasser.
“Du hast gesagt, Shelly kann die Outer Banks nicht verlassen”, meinte Rory. “Soll das heißen, du planst, für immer hier zu leben?”
Bislang hatte sie Gedanken an die ferne Zukunft stets verdrängt. “Ich weiß nicht”, antwortete sie, obwohl eine Veränderung ihrer Situation nicht in Sicht war. “Zurzeit ist Shelly hier glücklich, und ich fühle mich auch wohl. Warum sich den Kopf über ungelegte Eier zerbrechen?”
“Aber es ist so dünn besiedelt hier. Wie willst du denn Leute kennenlernen? Oder Männer?”
Daria lachte. “Also, es gibt schon den einen oder anderen Mann hier.” Sie war bereits mit vielen Männern von den Outer Banks ausgegangen, doch hatten Verabredungen in ihrem Leben nie eine so wichtige Rolle gespielt wie bei anderen Frauen. Sie war schon immer anders gewesen: Sie sorgte für ihre Schwester, kleidete sich nachlässig und arbeitete als Tischlerin. Chloe pflegte zu sagen, ihr fehle das “Hübschmach-Hormon”, und vermutlich hatte sie recht. Aber das hieß natürlich nicht, dass sie keine Sehnsüchte hatte. Und der Mann, nach dem sie sich am meisten sehnte, saß gerade direkt neben ihr. “Männer neigen dazu, mich als ihren Kumpel zu sehen”, sagte sie.
“Das kann ich gar nicht verstehen. Du bist hübsch, klug, sportlich und interessant.”
“Danke.” Obwohl sie zu verbergen versuchte, wie viel ihr diese Worte aus seinem Mund bedeuteten, schoss ihr das Blut in die Wangen.
“Aber irgendwie ergibt es auch einen Sinn”, widerrief Rory seine Aussage. “Du bist geradeheraus und spielst keine Spielchen, so wie viele andere Frauen es tun. So wie auch Grace es tut, fürchte ich. In gewisser Weise kann ich also nachvollziehen, warum dich die Typen manchmal behandeln, als wärst du einer von ihnen.”
“Na ja, ich war aber auch nicht die ganze Zeit allein.” Sie wollte das verzerrte Bild, das er nun von ihr haben könnte, unbedingt wieder geradebiegen. “Ich hatte schon die eine oder andere … Geschichte.” Ein besserer Ausdruck fiel ihr für die Männer, mit denen sie zusammen war, nicht ein. Sie konnte sich noch gut an den Mann erinnern, der sie im Alter von zwanzig entjungfert hatte. Nur wenige Tage nach diesem bedeutsamen Ereignis hatte er sie für eine hübsche gezierte Achtzehnjährige verlassen, und Daria war überzeugt gewesen, dass ihre magere Vorstellung im Bett ihn dazu veranlasst hatte. Nach dieser Erfahrung hatte sie sich jahrelang vor Sex gefürchtet. Sie würde Rory nichts von diesem Kerl erzählen.
“Mit einem hatte ich eine recht lange Beziehung”, erzählte sie. “Ich habe ihn mit dreiundzwanzig kennengelernt, gleich nachdem ich hier hergezogen war, und wir waren mehrere Jahre zusammen. Er wollte mich überreden, den Tischlerjob aufzugeben, Kleider zu tragen und roten Lippenstift aufzutragen. Überflüssig zu sagen, dass wir uns viel gestritten haben. Letztlich ist er weggezogen. Mit siebenundzwanzig habe ich Pete kennengelernt. Der berüchtigte Verlobte, von dem Shelly dir erzählt hat. Er war Tischler und Rettungsassistent. Von daher waren wir in den meisten Dingen einer Meinung und haben uns lange Zeit prima verstanden.”
“Und dann?”
“Shelly war ein Problem für uns. So wie Polly für dich und deine Exfrau. Pete sagte, ich würde mein Leben nach Shelly richten. Er wollte, dass ich …”, Daria schüttelte den Kopf, “… alle Verbindungen zu ihr kappe. Oder sie zumindest nicht länger bei mir wohnen lasse.”
“Ich kann mir kaum vorstellen, dass du das gemacht hättest.”
“Nein. Das wollte ich auf keinen Fall. Am Anfang war das alles überhaupt kein Problem. Shelly war erst sechzehn, als Pete und ich uns kennenlernten. Es war also selbstverständlich, dass ich mich um sie kümmerte. Aber als sie älter wurde, wollte er, dass ich sie irgendwo anders unterbringe.”
“Unterbringen? Aber das ist doch gar nicht nötig, oder?”
Das hatte Daria auch immer gedacht, doch seit dem Flugzeugabsturz war sie sich über Shellys Bedürfnisse nicht mehr so sicher. Einen Moment lang war sie versucht, Rory von dem Zwischenfall zu erzählen. Es täte so gut, mit jemandem darüber zu sprechen, und sie schüttete ihm ja ohnehin gerade ihr Herz aus. Doch weder wollte sie ihn damit belasten, noch sein gutes Bild von Shelly zerstören. Sie fragte sich noch immer, wie man den Eltern der jungen Pilotin den Tod ihrer Tochter erklärt hatte. Was ihnen auch gesagt wurde: Es war gelogen.
“Ich finde auch nicht, dass sie in ein Heim muss”, sagte sie. “Aber sie braucht immer noch mich. Pete bekam ein Jobangebot in Raleigh und wollte mit mir zusammen dort hinziehen. Doch das hätte natürlich bedeutet, dass ich Shelly allein hätte zurücklassen müssen, und das kam beim besten Willen nicht infrage. Und selbst wenn Shelly mit uns nach Raleigh gekommen wäre, hätte Pete sich niemals damit einverstanden erklärt, sie bei uns aufzunehmen.” Als sie diese Dinge laut aussprach, wuchs Darias Wut auf Pete wieder.
“Klingt nicht gerade nach einem verständnisvollen Kerl”, fand Rory.
“Jedenfalls nicht, wenn es um Shelly ging.”
“Du hast recht. Es gibt viele Parallelen zu unserem Problem mit Polly, auch wenn Glorianne und ich uns, rückblickend betrachtet, auch aus einer Vielzahl anderer Gründe auseinandergelebt haben. Ich denke nicht gern daran zurück.” Ihn schauderte. “Die Zeit, in der Polly vollkommen unverschuldet zwischen den Fronten stand, war einfach schrecklich. In dieser Phase ist sie auch gestorben, und ich denke nach wie vor, dass der Stress, den ihr das Leben mit Glorianne und mir bereitete, einen großen Teil dazu beigetragen hat.”
Daria legte die Hand auf seinen Arm. “Ich finde, ganz gleich welche Umstände bei euch herrschten – es war besser für sie, bei dir zu sein, als nach dem Tod eurer Eltern alleingelassen zu werden. Meinst du nicht?”
“Doch, ich glaube schon”, antwortete er. “Ich hoffe es.” Als er aufs Meer hinausblickte, sah sie, wie sich die Segelboote in den Gläsern seiner Sonnenbrille spiegelten. Über den Augenbrauen zerknitterten zwei feine Linien seine Stirn, und sie verspürte das Verlangen, sie zu berühren, zu glätten.
“Du bist ein guter Mensch”, sagte sie sanft. “Ich wünschte zwar, du wärst nicht so versessen darauf, in Shellys Vergangenheit zu bohren, aber ich freue mich trotzdem, dass du diesen Sommer hier bist.”
Er lächelte. “Ich mich auch.”
“Ich mache mir übrigens natürlich Gedanken um Shellys Zukunft”, meinte sie. “Wird sie ein Leben lang die Kirchenräume sauber halten? Die Sache mit dem Schmuck hat ihrem Selbstbewusstsein zwar einen längst überfälligen Schub gegeben. Doch auch davon kann sie nicht leben. Ich weiß, eigentlich sollte sie eine Berufsausbildung machen, aber hier gibt es einfach nichts.”
“Kann sie die Outer Banks denn überhaupt nicht verlassen?”
“Ihr Arzt ist in Elizabeth City. Aber sie dreht jedes Mal vollkommen durch, wenn sie dorthin muss. Er verschreibt ihr immer Beruhigungsmittel, weil sie in seiner Praxis so unruhig ist. Er begreift einfach nicht, dass sie hier in Kill Devil Hills absolut entspannt ist.”
“Wie ist es, wenn ein Unwetter aufzieht und ihr evakuiert werdet? Shelly sagt, sie hasst es; aber manchmal lässt es sich doch nicht umgehen, oder?”
Daria lachte laut auf. “Sie versteckt sich. Einmal habe ich sie nach langer Suche in der Vorratskammer gefunden, und vor ein paar Jahren hat sie sich in einem benachbarten Cottage versteckt, das bereits evakuiert war.”
“Die arme Shelly”, sagte Rory.
“In so vielen Dingen ist sie immer noch wie ein kleines Mädchen. Sie interessiert sich noch nicht einmal für Männer, aber darüber bin ich wirklich froh. Sonst müsste ich mich auch noch um die Verhütung kümmern.”
Rory runzelte die Stirn. “Selbst Polly hat sich für Männer und Sex interessiert. Bist du dir bei Shelly ganz sicher?”
“Vor einigen Jahren hatte sie mal was mit verschiedenen Typen – nicht die angenehmsten Zeitgenossen. Ich war besorgt, dass sie sie nur ausnutzen wollten.” Sie erinnerte sich noch an einen, der sie überreden wollte, ihm einen Fernseher zu kaufen. “Ich habe sie jedes Mal auseinandergebracht. Damals war Shelly natürlich stocksauer auf mich, aber ich glaube, jetzt ist sie froh, sich nicht mit einem Freund herumschlagen zu müssen.”
“Im tiefsten Inneren – wer, glaubst du, hat Shelly vor zweiundzwanzig Jahren am Strand ausgesetzt?”
Sie sah ihn ungläubig an. “Du bist unverbesserlich.”
“Ich meine es ernst”, beharrte er. “Glaubst du, es war jemand aus der Sackgasse oder …”
“Wenn du es unbedingt wissen willst: Ich bin sicher, dass es Cindy Trump war”, unterbrach sie ihn. “Ich habe Shelly direkt vor ihrem Haus gefunden. Für Cindy wäre es ein Leichtes gewesen, aus der Hintertür zu treten, das Baby nah ans Meer zu legen, zu hoffen, die Wellen würden es wegspülen, und wieder ins Haus zu gehen. Fertig.”
“Und wo ist Cindy?”
“Ich weiß es nicht, und es ist mir auch egal. Shelly ist eine Cato, Rory. Cindy, oder wer auch immer ihre leibliche Mutter ist, wollte sie damals nicht. Und deshalb verdient sie es auch jetzt nicht, an ihrem Leben teilzuhaben.”
Auf einmal wanderte ihr Blick zu einer Frau, die unweit des Piers auf die Bucht zuging, und erst als Daria die Golden Retriever erspähte, erkannte sie Linda. Noch bevor Linda den Stock ins Wasser warf, rannten die Hunde übermütig hinein.
“Das ist Linda”, sagte sie zu Rory.
Rory drehte sich zu der Frau um. “Ich habe sie schon kennengelernt. Und einer ihrer Hunde hat einen Narren an mir gefressen. Sie hat sich ganz schön verändert.”
Daria konnte sich kaum noch an das schüchterne Mädchen von damals erinnern. Die Linda von heute war eine große, beeindruckende Frau mit kurzem platinblondem Haar.
Eine Zeit lang sahen sie Linda und den Hunden beim Spielen zu. Daria war froh, dass sie so von Shelly und Cindy Trump abkamen. Doch dann brachte Rory ein noch unerfreulicheres Thema auf den Plan: Grace. Daria wusste, dass ihn Grace innerhalb der letzten Tage mindestens zweimal im Poll-Rory besucht hatte.
“Ich habe Grace Shelly vorgestellt”, begann er.
Auch das wusste sie. Shelly hatte gesagt, Grace habe ihr eine Menge Fragen gestellt. “Ja, das hat sie mir erzählt”, sagte sie bloß.
“Ich glaube, sie ist – oder war – irgendwie krank. Findest du, es wäre plump, sie darauf anzusprechen?”
Daria sah in den Eimer mit den Krebsen. Einer schien ihr verärgert seine Schere entgegenzustrecken, doch sie nahm kaum Notiz davon. Rory kannte Graces ernsthafte Erkrankung noch nicht einmal? Wie nah konnten sie sich dann schon sein?
“Wenn du sie vorsichtig fragst, wüsste ich nicht, was daran falsch sein sollte”, riet sie ihm und hasste sich dafür, wie bereitwillig sie in die Rolle der Kummerkastentante schlüpfte.
“Du kannst bestimmt gut nachfühlen, was sie bei der Scheidung durchmacht”, sagte er, “denn du und Pete wart ja auch sehr lange zusammen. Jeder von uns dreien hat das schon erlebt. Nur, dass du viel stärker bist als Grace.”
Sein Eheberater hatte recht gehabt, Rory einen Beschützer zu nennen. Das war er zweifellos.
Die Sonne stand wie ein großer orangefarbener Ball hoch am Horizont, als sie ihre Ausrüstung zusammenpackten, den Eimer mit den Krebsen in Rorys Fahrradkorb verstauten und sich auf den Rückweg machten. Sie fuhren auf direktem Weg zum Sea Shanty.
Shelly und Chloe überlegten gerade, was sie zu Abend essen sollten, als die Krebse ankamen, und sie ließen sich von der Krebsfangstimmung sofort anstecken – sie kramten den Krebskocher aus den dunklen Tiefen des Schranks hervor, füllten ihn mit Wasser und setzten ihn auf den Herd. Dann holten sie die Butter, Krebsmesser und -spieße heraus. Die Küche war von Gelächter und Geplapper erfüllt, und Daria musste sich eingestehen, dass sie und Rory nicht mehr waren als gute Freunde, die an einem Samstagabend gemeinsam Krebse pulten.