47. KAPITEL
“Mein Gott, Grace”, sagte Eddie. Im Laufe ihrer Erzählung hatte er sich neben sie auf das Sofa gesetzt. “Warum hast du mir denn nie davon erzählt?”
“Weil ich versucht habe, es zu vergessen.”
“Also … Nur, damit ich es richtig verstehe: War Pams Tod der Auslöser dafür, dass du wieder an das Baby gedacht hast? Als dir bewusst wurde, dass irgendwo da draußen dein Kind bei Adoptiveltern lebt? Und was ich immer noch nicht begriffen habe – welche Rolle spielt Rory Taylor dabei? Was geht zwischen euch vor?”
So viele Fragen, so vieles, was er noch nicht wusste. “Ich habe dir noch nicht alles erzählt”, sagte Grace. Wie sie es hasste, all diese Dinge laut auszusprechen. Sie hatte das alles im Geiste schon unzählige Male durchgespielt, und natürlich hatten sie und Bonnie in den vergangenen Jahren häufig darüber gesprochen. Aber es auf diese Weise noch einmal zu erzählen, verlieh dem Ganzen eine nie da gewesene Authentizität. “Bonnie ist an jenem Morgen einkaufen gegangen”, fuhr sie fort, “und als sie zurückkam, war sie ungewöhnlich still. Ich dachte, vielleicht fühlt sie sich nur schuldig, weil sie mich überredet hat, mein Baby Nancy zu geben. Sie wollte, dass ich etwas esse, aber ich konnte einfach nicht. Ich hatte mich noch nie so mutlos gefühlt. Ich wollte nur noch sterben.” Sie sah Eddie an. “Genauso habe ich mich auch nach Pamelas Tod gefühlt.”
Eddie legte seine Hand auf ihre, und sie ließ es geschehen. “Ich mich auch”, sagte er. Diese drei Worte öffneten ihr die Augen. Nach Pamelas Tod hatte sie ihm nie Trost oder Mitgefühl gespendet. Sie hatte ihn immer nur angeklagt.
“Bonnie hat dann schließlich doch geredet”, erzählte sie weiter. “Sie sagte, dass in dem kleinen Lebensmittelgeschäft jeder von einem neugeborenen Mädchen gesprochen hätte, das am frühen Morgen am Strand gefunden worden war.”
“Oh nein.” Eddie hielt ihre Hand fester.
“Der Kassierer erzählte Bonnie, das Baby wäre tot gewesen. Als Bonnie mir das sagte …” Grace schloss bei der Erinnerung die Augen. “Es hat mich zerrissen, Eddie. Ich hatte dieses Baby gewollt. Ich war bereit gewesen, dafür mein Leben umzukrempeln. Aber ich dachte, die Krankenschwester hätte recht. Ich habe ihr vertraut. Und sie hat mein Baby einfach an den Strand gelegt, damit es wie ein Stück Treibholz vom Meer weggespült wird.”
“Oh Grace, wie schrecklich.”
“Am Anfang dieses Sommers rief Bonnie mich an und sagte, sie hätte herausgefunden, dass Rory Taylor in seiner Sendung 'True Life Stories' über dieses Baby berichten will. Dass er aufdecken will, wie es damals an den Strand kam.”
“Also hast du ihn kontaktiert und ihm gesagt, dass du glaubst, die Mutter zu sein?”
“Nein”, entgegnete Grace; der Gedanke schüttelte sie. “Das habe ich mich nicht getraut. Ich … habe ein 'zufälliges' Treffen mit ihm arrangiert, um herauszufinden, was er weiß. Und dabei habe ich erfahren, dass … das Baby damals nicht gestorben ist. Ein kleines Mädchen hatte es gefunden, und ihre Familie hat es adoptiert. Jetzt lebt das Mädchen … die junge Frau im Haus gegenüber von Rory Taylor. Sie lebt dort mit ihrer Schwester. Von den Ereignissen jener Nacht hat sie einen Hirnschaden davongetragen. Nur einen leichten, aber sie braucht jemanden, der ein bisschen auf sie achtet. Ihre Schwester hat diese Aufgabe bislang anscheinend sehr gut gemeistert.”
Eddie stand auf und begann auf und ab zu gehen. Das tat er immer, wenn ihn etwas beschäftigte. “Das ist unfassbar”, sagte er. “Wer weiß, dass diese junge Frau deine Tochter ist? Hast du sie mal getroffen? Mit ihr gesprochen? Hast du erzählt …”
Sie hob eine Hand, um ihn zu unterbrechen. “Ich weiß nicht mit hundertprozentiger Sicherheit, dass sie meine Tochter ist. Es klingt verrückt, dass die Krankenschwester sie inmitten einer Sturmnacht zum Strand gebracht haben soll, aber …”
“Was glaubst du, wie viele Babys in jener Nacht in Kill Devil Hills zur Welt gekommen sind?”, fragte Eddie.
“Ich weiß, ich weiß, ja. Aber ich kann es ihr einfach nicht sagen, Eddie. Was ist, wenn ich mich irre?”
“Sieht sie dir ähnlich?”
“Eigentlich nicht. Sie ist ziemlich blond, doch das war ihr Vater auch.” Sie sprach das Wort “Vater” so aus, als hinterließe es einen faden Geschmack auf ihrer Zunge. “Aber sie ist groß und schlank, so wie ich. So wie Pamela. Und sie hat Krampfanfälle, Eddie.”
“Marfan.”
“Das befürchte ich, ja. Und als wäre das nicht schon schlimm genug, ist sie jetzt auch noch schwanger. Sie ist schwanger; sie weiß nicht, dass sie das Marfan-Syndrom hat; ihr Kind hat es vielleicht auch; es bleibt vielleicht unbemerkt, und …”
“Quäl dich nicht so.” Eddie hatte sich wieder neben sie gesetzt und hielt ihre Hand. Er streichelte ihre Wange. “Ich wünschte, du hättest mir eher erzählt, was dich schon den ganzen Sommer lang beschäftigt. Ich wäre für dich da gewesen, Grace.”
“Ich weiß. Aber ich war viel zu wütend auf dich.”
“Ich habe Pamela auch geliebt, weißt du?”
“Das weiß ich. Genauso sehr wie ich. Und du wusstest nicht, dass sie krank war, ebenso wenig wie ich. Sie liebte das Fliegen – das kann ich nicht leugnen. Möglicherweise hast du sie stärker dazu ermuntert, als mir lieb war, aber es war ihre Entscheidung. Du hast es ihr nur ermöglicht.”
Eddie senkte den Kopf, und sie wusste, dass er um Fassung rang. “Danke, dass du das gesagt hast.” Er lehnte sich zurück. “Die junge Frau, wie heißt sie?”
“Shelly.”
“Shelly. Wenn du wirklich glaubst, dass Shelly deine Tochter ist, und wenn sie und ihr ungeborenes Kind in … Gefahr sind, dann musst du es ihr sagen, oder wenigstens ihrer Schwester, damit man sie untersuchen und behandeln kann. Das ist deine Pflicht, Grace.”
“Aber was, wenn sie nicht meine Tochter ist? Sie ist ziemlich sensibel. Ich will sie nicht unnötig verwirren.”
“Hat Shelly einen herzförmigen Haaransatz?”
Grace schüttelte den Kopf.
“Aber haben nicht alle Frauen in deiner Familie einen?”
“Die meisten, aber nicht alle.”
“Hast du je versucht, die Krankenschwester ausfindig zu machen? Sie scheint das fehlende Puzzleteil zu sein.”
“Es ist unmöglich, sie zu finden. Alles, woran ich mich erinnere, ist, dass sie Nancy heißt und vor zweiundzwanzig Jahren in einem Krankenhaus in Elizabeth City auf der onkologischen Station gearbeitet hat. Das ist nicht gerade viel.” Plötzlich wurde Grace von der Hoffnungslosigkeit ihrer Situation überwältigt. “Ich habe die … Freundschaft mit Rory Taylor ausgenutzt, um in Shellys Nähe zu sein. Ich kann es kaum glauben, aber ich habe es wirklich getan. Doch jetzt ist er mit Shellys Schwester zusammen, und ich habe keinen Grund mehr hinzufahren. Ich will Shelly wiedersehen. Sie fehlt mir schon jetzt.”
“Lass mich dir helfen”, bot Eddie an. “Lass mich dir etwas von der Last abnehmen, die du schon so lange mit dir herumträgst, ja?”
Sie wusste zwar nicht, wie er ihr helfen sollte, aber sie war zu müde, um allein weiterzukämpfen.
“Einverstanden”, sagte sie.
Sanft zog er sie an sich heran und bettete ihren Kopf an seine Schulter, und zum ersten Mal seit Pamelas Unfall entspannte sie sich in seiner Nähe.