27. KAPITEL

Rory hatte sich überlegt, Pfarrer Macy anzurufen, um mit ihm über Shellys Adoption zu sprechen, doch der Priester kam ihm zuvor und lud ihn zu einem “ernsten Gespräch” ein, wie er es nannte. Am Tag der Verabredung nahm Rory Shelly, die zur selben Zeit in St. Esther's sein musste wie er, zur Kirche mit. Wie üblich plapperte sie im Wagen munter drauflos. Die meiste Zeit sprach sie von Zack, als wüsste sie, dass er zu Rorys Lieblingsthemen gehörte.

“Er ist ein großartiger Volleyballspieler”, sagte sie, als Rory auf die Route 158 einbog. “Zwar nicht so gut wie ich, aber immer noch ziemlich gut.”

Rory musste lachen. “Du bist genauso wie deine Schwester, weißt du das eigentlich? Sie hat mich in jeder Sportart geschlagen. Und auch sie wurde nicht müde, es zu erwähnen.”

“Du kannst gleich hier reinfahren.” Shelly deutete auf den Parkplatz bei der Kirche. “Park einfach, wo du willst.”

Der Parkplatz war nahezu leer, und so wählte Rory eine Parklücke, die ganz in der Nähe des kleinen Bürogebäudes lag. Ob Shelly den Grund für seinen Besuch beim Pfarrer kannte? Wenn ja, ließ sie es sich nicht anmerken.

Durch die geöffnete Haupteingangstür des Gebäudes betraten sie den breiten Flur. Durch die Oberlichter und das große Fenster am anderen Ende des Korridors fiel das Sonnenlicht auf die Holzdielen, und die saubere und offene Atmosphäre des kleinen Gebäudes ließen Rory mit wachsender Zuversicht einem gemütlichen, freundschaftlichen Treffen mit dem Priester entgegensehen.

“Komm.” Shelly nahm seine Hand und zog ihn durch den Flur. “Ich stelle dich Pfarrer Sean vor.”

Das Büro des Priesters stand offen, und Pfarrer Macy saß mit dem Rücken zur Tür an seinem Schreibtisch. Er trug ein weites blaues Hemd.

“Pfarrer Sean?” Shelly klopfte leise an die Tür.

Der Priester wirbelte in seinem Drehstuhl zu ihnen herum. Als er Rory sah, stand er auf.

“Das ist Rory”, stellte Shelly ihn vor.

Der Priester durchquerte den Raum und hielt Rory zur Begrüßung die Hand hin. “Ich freue mich, Sie kennenzulernen, Mr. Taylor.”

Rory schüttelte ihm die Hand. “Es ist mir eine Ehre.”

“Ich hole mal den Staubsauger”, sagte Shelly zu Pfarrer Macy. “Und dann fange ich im Flur an, damit ich Sie und Rory nicht so sehr störe, okay?”

Pfarrer Macy tätschelte ihren Arm. “Gute Idee”, meinte er, und dann zu Rory: “Kommen Sie doch herein und nehmen Sie Platz.”

Rory folgte ihm in sein Büro und setzte sich auf das Sofa, während der Priester wieder auf seinem Schreibtischstuhl Platz nahm und sich Rory zuwandte. Er sah jünger aus, als Rory erwartet hatte. Lachfältchen zierten seine äußeren Augenwinkel, doch im Moment lachte er nicht. Er lächelte noch nicht einmal, und Rorys Hoffnung auf ein herzliches Gespräch verflog.

“Ich kann gut verstehen, dass Sie nach Shellys biologischer Mutter suchen wollen”, begann Sean Macy.

“Es ist so: Shelly hat mir einen Brief mit der Bitte geschrieben, ihren Eltern nachzuspüren”, erklärte Rory. “Aber ich versuche auch, mir ein vollständiges Bild von der Situation zu machen. Nicht nur das Wer, sondern auch das Warum. Warum es passiert ist, das damit in Verbindung stehende menschliche Drama, wie die Frau mit ihrer Tat zurechtkommt und so weiter. Außerdem möchte ich den Fokus darauf legen, wie gut Shelly es in der Cato-Familie hat.”

Der Priester beugte sich nach vorn. “Und das wollen Sie auch, obwohl Sie um die starken Bedenken von Schwester Chloe und Daria wissen?”

Der Pfarrer ließ ihn wie einen Schuft aussehen. “Shelly ist zweiundzwanzig Jahre”, verteidigte er sich und fragte sich, wie oft er diese Diskussion wohl noch würde führen müssen. “Und sie selbst hat mich um des Rätsels Lösung gebeten.”

“Shelly hat noch nie gewusst, was das Beste für sie ist.”

“Das höre ich ständig”, langsam war Rory frustriert, “aber ich sehe dafür keinerlei Anhaltspunkte.”

Pfarrer Macy blickte finster drein. “Ich kenne Shelly sehr, sehr gut. Ich sehe sie mehrmals die Woche, und ich weiß, dass sie eine sensible junge Frau mit einem großen Bedürfnis nach Stabilität und Sicherheit ist. Und beides wird ihr von der Cato-Familie – und insbesondere von Daria – gegeben. In ihrer Vergangenheit herumzuwühlen wird diesen äußerst zerbrechlichen Halt bloß zerstören.”

“Bei allem gebührenden Respekt, Herr Pfarrer, ich finde, Sie sind gerade ziemlich melodramatisch.”

“Und ich finde, Sie sind halsstarrig. Sie sind nicht geneigt, irgendeine Kritik anzunehmen, die die Produktion Ihrer Sendung behindern könnte. Ihnen geht es doch nur ums Geld. Die Menschen, die Sie da mit hineinziehen, sind Ihnen doch völlig egal.”

Es war nicht das erste Mal, dass man ihm vorwarf, bei seiner Suche nach geeignetem Material für “True Life Stories” die Gefühle anderer mit Füßen zu treten. Doch der Priester irrte sich. Er würde nichts tun, was Shelly verletzen könnte. Alle malten sie die möglichen negativen Auswirkungen seiner Recherche viel zu schwarz. Wieso nur? Ein plötzlicher Gedanke jagte ihm ein Kribbeln über die Haut. Die Proteste von Daria, Chloe und dem Priester waren so extrem, so heftig. Vielleicht steckte dahinter viel mehr als die bloße Sorge um Shellys Wohlergehen. Vielleicht wussten sie alle etwas, was er nicht aufdecken sollte.

Rory beugte sich nach vorn. “Was geht hier vor, Herr Pfarrer? Wovor fürchtet sich hier jeder? Dass ich was herausfinde?”

Der Priester schien überrascht von der Frage. “Das Einzige, worum wir uns sorgen, ist, dass Shelly durch Ihre Rechercheergebnisse verletzt werden könnte. Oder eben durch das, was Sie nicht herausfinden. Sie setzt so große Hoffnungen darin, dass allein ihr Zusammenbruch sie schon verletzen würde.”

“Shelly liegt mir wirklich sehr am Herzen. Sobald ich etwas finden sollte, von dem ich glaube, es würde ihr ernsthaft Schaden zufügen, ziehe ich mich zurück. Das verspreche ich.”

“Ich habe kein besonders großes Vertrauen in Ihr Urteil darüber, was ihr schaden könnte und was nicht.”

Rory stand auf. Das Treffen, kurz und herb, war zu Ende. “Ich schätze, es ist aussichtslos, Sie in dieser Angelegenheit um Unterstützung zu bitten”, sagte er. “Ich hätte gern etwas über Ihre Erinnerungen an Shellys Adoption gehört und darüber, wie Sie sich für den reibungslosen Ablauf eingesetzt haben.”

Der Priester bemühte sich gar nicht erst aufzustehen. “Sie haben recht, es ist hoffnungslos”, bekräftigte er. “Daria hat Shelly an jenem Morgen gefunden, und ich bin überzeugt, dass es Gottes Wille war. Es war Gottes Wille, dass Shelly Teil einer frommen Familie wird. Ein wahres Wunder. Und was mich betrifft, hat Shelly weder andere Eltern noch eine andere Familie.”

“In Ordnung.” Rory nickte kurz mit dem Kopf. “Vielen Dank, dass Sie mir Ihre Zeit geopfert haben.”

Er öffnete die Tür und verließ das Büro. Shelly saugte gerade den Hausflur, doch als sie ihn sah, schaltete sie das Gerät aus und kam zu ihm herüber.

“Ist er nicht nett?”, fragte sie.

“Ja”, log er. “Sehr.” Er warf einen Blick auf den Staubsauger. “Soll ich dich nachher nach Hause bringen?”

“Nein, danke. Ich gehe zu Fuß. Ich gehe gern zu Fuß.”

“Dann sehen wir uns später in der Sackgasse.” Er ging den Flur entlang und durch die Tür hinaus ins Freie und ließ Shelly mit einem ihrer zahlreichen Aufpasser zurück.

Durch das Fenster von Sean Macys Büro hatte man einen herrlichen Blick über die Salzmarsch und auf die Bucht, und noch lange, nachdem Rory gegangen war, saß der Priester einfach auf seinem Stuhl und beobachtete einen Reiher, der im Wasser inmitten von Seegras stand. Die kurze Begegnung mit Rory hatte ihn ermüdet, doch ihm war bewusst, dass dies nur ein Aspekt seiner Misere war. Noch nie zuvor hatte er sich so schlecht gefühlt, und auch das Gebet brachte ihm nicht mehr den ersehnten Trost oder Antworten.

“Pfarrer Sean?”

Beim Klang von Shellys Stimme wandte er sich vom Fenster ab. Da stand sie in der Tür, die hübsche gute Seele von St. Esther's, und er konnte nicht anders, als sie anlächeln.

“Kann ich jetzt bei Ihnen staubsaugen?”, fragte sie. “Oder störe ich Sie?”

“Nein, komm nur herein.” Er sah ihr aufmerksam zu, wie sie den Staubsauger in sein Büro rollte, ihn einschaltete und in einer Zimmerecke mit der Arbeit begann. Das blonde Haar hatte sie zum Pferdeschwanz zusammengebunden, was sie jünger wirken ließ als zweiundzwanzig.

Shelly.

Er wusste so viel von ihr. Vielleicht mehr als jeder andere. Dann drehte er sich wieder zum Fenster. Draußen in der Bucht, weit hinter der Marsch, war ein Segelboot zu erkennen, dessen Mast sich fast parallel zur Wasseroberfläche neigte.

Auf einmal erstarb das Geräusch des Staubsaugers, und als der Priester sich wieder umdrehte, starrte Shelly ihn an. Sie sah besorgt aus.

“Sie sehen schon wieder so unglücklich aus”, sagte sie.

Sean richtete den Blick auf die Papiere auf seinem Schreibtisch. Er wollte sie um keinen Preis mit seinen Problemen belasten; das hatte er noch nie getan. Doch in diesem Moment verspürte er das dringende Bedürfnis, mit ihr, der Hüterin seiner Geheimnisse, seine Sorgen zu teilen.