17. KAPITEL

Bob Myerson reichte Rory eine Flasche Bier und setzte sich dann in den Korbsessel. Die Bäume vor Bobs Wohnzimmerfenster waren schwer behangen mit Louisianamoos, und als Rory dem pensionierten Detective den Anlass für seinen Besuch erklärte, haftete sein Blick an den blasslila Trieben.

“Ich glaube, Sie werden enttäuscht sein”, sagte Bob.

“Schon möglich”, erwiderte Rory. “Aber ich muss es wenigstens versuchen. Sie waren näher an dem Fall dran als irgendwer sonst. Ich habe die Polizeiberichte gelesen, aber ich will es aus Ihrem Mund hören. Was ist Ihrer Meinung nach wirklich passiert?”

Das Haus des Detectives lag in den tiefen Wäldern von Colington Island. Trotz der Nähe zu Kill Devil Hills hatte Rory sich verfahren und verspätet. Um achtzehn Uhr war er mit Grace im Poll-Rory verabredet, um mit ihr und der Cato-Familie essen zu gehen. Sogar Zack wollte mitkommen, aber das hatte ihn auch einige Überredungskunst gekostet. Rory hatte geglaubt, den Besuch bei dem Detective noch schnell vorher erledigen zu können, doch wegen seiner Irrfahrt und der Begeisterung des alten Mannes, über Football zu sprechen, wurde die Zeit allmählich knapp.

Der Detective seufzte. “Ich fürchte, wir haben nicht viel aufgedeckt. Damals gab es in dem Bezirk einen Haufen junger Mädchen, und es schien, als zeigte jedes von ihnen mit dem Finger auf ein anderes. Aber ohne weitere Beweise konnten wir keine zu einer ärztlichen Untersuchung zwingen. Wenn es also eines jener Mädchen war, ist es ungeschoren davongekommen.” Er zuckte die fleischigen Schultern, und Rory konnte sich gut vorstellen, dass der Detective zu seinen College-Football-Zeiten, von denen er schon viel zu viel zum Besten gegeben hatte, ein gefürchteter Spieler gewesen war. “Aber ehrlich gesagt”, fuhr Bob fort, “glaube ich nicht, dass es eine von ihnen war.”

“Wer, glauben Sie, war es dann?”

Bob nahm einen Schluck Bier und stützte die Flasche dann auf seinem nackten Knie ab. “Zu jener Zeit waren zwei junge Frauen als vermisst gemeldet”, sagte er. “Eine kam aus North Carolina – ein Stückchen landeinwärts –, die andere aus Virginia. Keine wurde je gefunden. Ich vermute, dass eine von ihnen Shelly Catos Mutter war. Die Eltern des Mädchens aus North Carolina ahnten, dass ihre Tochter schwanger war, wussten jedoch nicht, in welchem Monat. Ich glaube, dieses Mädchen war schon weiter, als sie dachten, und sicher war sie mutlos und verängstigt. Ich nehme an, sie hat das Baby in jener Nacht oder gegen Morgen direkt am Strand bekommen und sich dann im Meer das Leben genommen.”

“Aber hätte der Ozean die Leiche dann nicht angespült?”

“Oh, man kann niemals vorhersagen, was der Ozean mit einem Körper macht.” Bob trank noch einen Schluck.

“Wo bekomme ich Informationen über die vermissten Mädchen?”, fragte Rory.

“Ihre Namen müssten im Polizeibericht stehen.”

Nur vage konnte sich Rory an ein oder zwei verschwundene Mädchen erinnern. Er würde die Berichte wohl oder übel nochmals lesen müssen.

Bob hielt seine nun leere Flasche hoch. “Noch eins?”, fragte er.

“Nein, danke.” Rory stand auf. “Ich muss jetzt gehen. Ich bin noch zum Essen verabredet.”

Bob brachte ihn zur Tür. “Sie sind ein Nachbar der Familie mit dem Baby, stimmt's?”, fragte er. “Von den Catos?”

“Ja, stimmt. Mit ihnen treffe ich mich jetzt auch.”

“Dann richten Sie dem 'Supergirl' Cato … wie heißt sie noch gleich?”

“Daria.”

“Ah ja. Richten Sie ihr bitte aus, sie soll wieder arbeiten. Mir ist zu Ohren gekommen, dass sie bei der Rettung schmerzlich vermisst wird.”

“Ich werde es ihr sagen”, versprach Rory, zweifelte jedoch daran, dass er es tatsächlich tun würde. Aus irgendeinem Grund erzählte Daria ihm nicht, warum sie ihren Job als Sanitäterin tatsächlich aufgegeben hatte; das spürte er jedes Mal, wenn sie darüber sprachen. Und vermutlich wäre sie nur mäßig begeistert, wenn sie irgendwer drängen würde, ihre Arbeit wieder aufzunehmen.

Rory entdeckte die Catos auf der überfüllten Terrasse hinter dem zur Bucht gelegenen Restaurant.

“Dort sind sie”, sagte er zu Grace und Zack, als sie die Terrasse betraten.

Daria und Shelly saßen mit einem Mann und einer Frau an einem großen runden Tisch. Die Frau ist wahrscheinlich Ellen, dachte Rory, und der Mann ihr Ehemann. Wer fehlte, war Chloe.

Er winkte, und Daria stand auf und winkte zurück. Hinter ihr lag die Bucht – ruhig und blaugrau im Licht der untergehenden Sonne.

“Da seid ihr ja”, sagte Daria. Ihre Haut war rein, auf dem gebräunten Gesicht war keine Spur von Make-up zu erkennen. Sie trug ein ärmelloses weißes Kleid, das ihr ausgezeichnet stand, und hatte das volle Haar zu einem Pferdeschwanz zurückgebunden. Keine Sägespäne heute.

“Hallo zusammen”, begrüßte Rory die Runde. “Das ist Grace. Ich glaube, bisher hat sie nur Shelly kennengelernt. Und das ist mein Sohn, Zack.” Er legte den Arm um den Jungen, um ihn ein Stück nach vorn zu schieben. Doch Zack bewegte sich keinen Zentimeter.

“Ich kenne sie schon”, sagte Zack.

“Na ja, du kennst Daria und Shelly, aber Ellen und ihren Mann hast du noch nicht getroffen, oder?” Rory gab sich Mühe, unbekümmert zu klingen. “Hi Ellen”, sagte er und log dann höflich: “Du siehst toll aus.”

“Hallo Rory”, erwiderte Ellen. “Lange nicht gesehen.”

Ellen hatte ein paar Pfund zugelegt. Von den drei Cato-Mädchen, die er aus dem Sandkasten kannte, hatte sie sich am meisten verändert. Die Haut in ihrem Gesicht war weniger straff. Ihr Haar war merklich grauer geworden und hatte seinen gesunden Glanz verloren. Chloe und Daria altern wesentlich anmutiger, dachte er.

“Das ist Ted”, stellte Ellen ihren Ehemann vor.

Ted stand auf und schüttelte Rory mit knochenbrecherischem Händedruck die Hand, und das, obwohl er ein so gemütlich aussehender Mann mit Rettungsring um die Hüften und freundlichen Augen war. “Es ist mir eine Ehre, Sie kennenzulernen”, sagte Ted. “Ich bin nämlich ein alter Rams-Fan.”

“Freut mich auch.” Rory lächelte.

“Setz dich doch, Zack”, sagte Daria einladend, und mit einem trotzigen Schulterzucken ließ er sich neben Shelly auf einen Stuhl fallen. Rory rückte für Grace den Stuhl neben Ted zurecht, er selbst setzte sich zwischen Grace und seinen Sohn.

“Wo ist Chloe?”, fragte er.

“Bei der Vesper”, antwortete Daria.

“In St. Esther's”, fügte Shelly hinzu.

“Ach so”, sagte er.

“Was für ein herrlicher Ausblick”, stellte Grace fest.

“Nur noch übertroffen durch das Essen”, meinte Ted.

Rory sah Zack zwar nicht an, spürte jedoch regelrecht, wie er wegen des Geplänkels die Augen verdrehte. Er wusste genau, dass Zack den Abend viel lieber mit Kara als an einem Tisch voll von Erwachsenen verbringen würde.

Grace hingegen hatte die Einladung mit großer Freude angenommen. Sie wolle die Catos gern kennenlernen, hatte sie gesagt. Und sie freue sich, Shelly wiederzusehen. Dennoch war Rory enttäuscht von Grace, und er hatte Tage gebraucht, um den Grund für dieses subtile Gefühl herauszufinden: Grace zeigte nur wenig Interesse an Zack. Sie stellte dem Jungen praktisch keine Fragen und sprach noch nicht einmal mit Rory über ihn. Rory hatte das Thema mehrmals angesprochen. Er hätte sich bei Grace gern einen Rat geholt, wie er seine Probleme mit Zack lösen könnte, doch Grace schien ihm kaum zuzuhören. Ihre Gleichgültigkeit kam überraschend und war ein Reinfall. Besonders nachdem sie Feuer und Flamme für Shellys Schicksal gewesen war. Wahrscheinlich hatte er zu viel von ihr erwartet. Sie musste sich schließlich mit ihrer eigenen Drangsal auseinandersetzen.

“He, Dar!” Ein gut aussehender Mann ging auf dem Weg zu seinem Tisch an ihnen vorbei und blieb kurz stehen, um sich hinunterzubeugen und Daria die Wange zu küssen.

“Hi Mike, wie geht's dir?”, fragte Daria.

“Ganz gut”, antwortete er und drückte leicht ihre nackten Schultern. “Du fehlst uns.”

“Ihr fehlt mir auch”, sagte sie.

Mike zwinkerte freundlich Shelly zu, begrüßte die restliche Runde mit einem Kopfnicken und ging dann quer über die Terrasse zu einer Frau und einem Pärchen.

“Einer deiner Kumpels?”, neckte Rory sie.

Sie zog die Nase kraus. “Genau. Ein Kollege von der Rettung.”

Sie bestellten den Hauptgang. Zuerst wollte Zack nichts, doch Shelly bestand darauf, dass er die Krebsküchlein probierte.

“Das sind die besten im ganzen Universum”, behauptete sie, woraufhin Zack sie bestellte – vermutlich, damit Shelly ihn nicht länger nervte.

Die Unterhaltung war oberflächlich, aber angenehm. Ted sprach über Football und Angeln, Ellen über die Einkaufstour, die sie für den nächsten Tag geplant hatte. Grace empfahl Ellen ein paar Geschäfte, die weiter südlich lagen. Rory und Daria stimmten in die Gespräche ein, wann immer sie konnten, und Rory entging Zacks beharrliches Schweigen keineswegs. Er suchte nach einem Weg, Zack in die Unterhaltung einzubeziehen, ohne dass es zu offensichtlich und gewollt aussähe, denn dadurch würde er nur Zacks Wut auf sich ziehen.

Da flüsterte Shelly Zack plötzlich etwas zu, und Rory stellte fest, dass er nicht die einzige Person am Tisch war, der das Unbehagen des Jungen unter all den Erwachsenen aufgefallen war. Sie flüsterte noch etwas, und auf Zacks Lippen zeigte sich ein flüchtiges Lächeln. Er flüsterte etwas zurück, und sie kicherte. Die Unterhaltung der Erwachsenen floss noch immer quer über den Tisch, doch Rory spitzte die Ohren, um zu hören, was Shelly und Zack besprachen.

“Welche?”, fragte Shelly gerade.

“Kara.”

“Die ist so süß.”

“Ja”, sagte Zack.

“Hattest du in Kalifornien auch schon mal eine Freundin?”

Rory lehnte sich ein Stückchen weiter zu ihnen hinüber und wartete gespannt auf die Antwort seines Sohnes.

“Schon zwei”, antwortete Zack. Durch einen Blick ließ er seinen Vater wissen, dass er die Spionage bemerkt hatte, und wandte ihm dann den Rücken zu, um sein Gespräch mit Shelly ungestört fortsetzen zu können. Rory hörte nur noch Shellys Gekicher und ab und an Zacks Lachen. Er grinste in sich hinein und war Shelly unendlich dankbar. Sie macht ihre Sache hervorragend, dachte er. Sie hat bemerkt, wie unwohl Zack sich fühlt, und ihn aus seinem Schneckenhaus geholt.

Das Essen wurde serviert, und als sie ihre Teller zur Hälfte geleert hatten, wandte sich Shelly an Zack, diesmal jedoch laut genug, dass alle es hören konnten.

“Hast du dir schon die Drachenflieger angesehen?”

“Ja”, antwortete Zack, “und mein Dad und ich werden bald eine Stunde nehmen.” Er sah zu Rory. “Oder?”

“Ganz genau”, antwortete Rory, froh über die Gelegenheit, Shellys und Zacks vertrauliche Unterhaltung auf die Erwachsenenrunde ausweiten zu können. “Wir haben einer der Klassen zugesehen, und es sah nicht allzu halsbrecherisch aus.”

“Na”, sagte Ellen zu Rory, “hoffentlich hast du das deinem Körper auch gesagt.”

“Oh”, warf Shelly ein, “das wird sicher toll. Ich hätte es auch schon längst versucht, wenn da nicht diese Krampfanfälle wären. So ist es mir zu gefährlich. Aber Pfarrer Sean fliegt ständig Drachen.”

Pfarrer Sean?”, fragte Zack erstaunt. “Ist das ein Priester?”

“Jepp”, antwortete Shelly.

“Ein Priester, der Drachen fliegt?” Zack konnte es nicht fassen.

“Ich hoffe, Pfarrer Macy kann besser fliegen als predigen”, sagte Ellen.

Shelly schien diese Beleidigung überhaupt nicht wahrzunehmen. “Er fliegt schon, solange ich denken kann”, sagte sie. “Und vor einigen Jahren hat er sogar einen Wettkampf gewonnen. Oder, Daria?” Sie sah ihre Schwester fragend an.

“Ja, das stimmt”, bestätigte Daria. “Er hat den Sommerwettbewerb gewonnen. Der findet jedes Jahr statt. Der nächste ist in wenigen Wochen, und ich wette, er ist auch wieder mit von der Partie.”

“Wenn Pfarrer Sean nicht gewesen wäre”, sagte Shelly, “würde ich heute nicht mit euch allen hier sitzen.”

Ellen lachte. “Nein. Dann wärst du vermutlich irgendwo bei einer netten, normalen, vielleicht sogar wohlhabenden Familie. Sieh nur, wo du stattdessen gelandet bist.”

“Ellen”, lenkte Ted ein. Sein dünnes Stimmchen passte nicht zu seiner Statur. “Shellys Familie ist doch wirklich klasse.”

“Wieso würdest du dann nicht hier sitzen?”, fragte Zack Shelly. “Was hat Pfarrer Sean oder Macy oder wie auch immer er heißt denn damit zu tun?”

“Sean Macy, der Pfarrer, hat meinen Eltern damals bei Shellys Adoption geholfen”, erklärte Daria. “Er hat in unseren Herzen einen ganz besonderen Platz.”

“Dad hat erzählt, dass Daria dich als Baby am Strand gefunden hat.” Wieder wandte sich Zack an Shelly.

“Stimmt. Aber ich kann mich daran nicht erinnern.”

Rorys Gedanken schweiften für einen Augenblick ab. Vielleicht sollte er sich einmal mit Sean Macy unterhalten, wenn der doch eine so wichtige Rolle bei Shellys Adoption gespielt hat. Natürlich wusste er nichts über Shellys Herkunft, aber es wäre dennoch interessant, etwas über seine Erinnerung an jene Zeit zu erfahren. Und es klang, als sei der Pfarrer ein umgänglicher Mensch.

Grace griff nach ihrem Wasserglas, und Rory bemerkte das Zittern ihrer Hand.

Er lehnte sich zu ihr hinüber und flüsterte: “Geht es dir nicht gut?”

“Doch, doch”, flüsterte sie zurück. Dann sah sie unvermittelt quer über den Tisch zu Shelly. “Hast du gesehen, was ich trage?”, fragte sie und berührte sich am Hals.

Rory beugte sich vor. Grace trug eine Kette aus Muscheln, vermutlich eine von Shelly. Er war überrascht. Davon hatte sie ihm gar nichts erzählt.

“Die habe ich gemacht”, sagte Shelly.

“Ja, ich habe sie bei Shell Seeker gekauft, dem kleinen Laden im Süden von Nag's Head. Wie hast du das bloß hingekriegt? Die Teile sind so winzig.”

“Ach, wenn man den Dreh einmal raushat, ist es ganz einfach. Sie steht dir gut.” Dann wandte sie sich plötzlich wieder Zack zu. “Hast du schon mal Krebse gefangen? Dein Vater und Daria haben es neulich gemacht. Anscheinend haben sie sich als Kinder mit nichts anderem beschäftigt.”

Rory war überzeugt, dass Shelly nicht unhöflich sein wollte, aber sie hatte Grace praktisch mitten im Satz abgewürgt. Er merkte, wie Grace an seiner Seite ganz still wurde. Unter dem Tisch nahm er ihre Hand und war erleichtert, dass sie ihn nicht zurückwies. Bisher war ihre Beziehung rein platonisch gewesen. Sie hatten sich mehrmals getroffen, jedoch nur tagsüber, weshalb es noch zu keiner körperlichen Annäherung gekommen war. Und auch bei ihren Telefonaten war Grace immer sehr sachlich. Sie wollte lieber planen als lange Gespräche führen. Und bislang hatte sie jeglichen Vorschlag seinerseits, sie in Rodanthe zu besuchen, mit der Begründung abgelehnt, sie komme lieber nach Kill Devil Hills. Er hatte den Eindruck, dass Grace stets auf Distanz zu ihm blieb – körperlich wie emotional. Als er ihre Hand nahm, war er auf Widerstand gefasst gewesen, und umso mehr freute es ihn, dass sie sich nicht wehrte.

Die Kellnerin räumte den Tisch ab und nahm ihre Dessertbestellungen auf. Grace bestellte nichts.

“Daria könnte dich bestimmt nach wie vor problemlos beim Schwimmen schlagen, nicht wahr?”, sagte Ellen zu Rory.

“Ich habe sie immer gewinnen lassen”, antwortete er trocken.

Daria lächelte ihn an. “Das schreit ja förmlich nach einem Rückkampf.”

“Mal sehen”, erwiderte er. Er hatte in der vergangenen Woche einmal mit ihr im Fitnessstudio trainiert und fürchtete, sie könnte ihn noch immer schlagen.

“Erinnerst du dich noch daran”, fuhr Ellen fort, “als Daria sich ihr Bikinioberteil mit Toilettenpapier ausgestopft hat und im Wasser alles rausgefallen ist?”

Zack lachte und Daria stöhnte. “Ich habe versucht, es zu vergessen, Ellen”, sagte sie.

“Das weiß ich nicht mehr”, meinte Rory.

“Aber nur, weil du mich damals nicht beachtet hast”, erwiderte Daria.

Doch Rory konnte sich nur zu gut daran erinnern, wie Chloe einmal beim Bodysurfen ihr Bikinioberteil verloren hatte. Beinahe hätte er es zum Besten gegeben, doch dann fragte er sich, ob es nicht vielleicht armselig war, so etwas über eine Ordensschwester zu erzählen, und ließ es bleiben.

“Daria hat von deiner verrückten Idee erzählt, die Geheimnisse um Shellys Herkunft aufzudecken”, wechselte Ellen das Thema.

“Ich versuche es zumindest”, antwortete er. “Zufällig war ich erst heute Nachmittag bei dem Detective, der damals den Fall bearbeitet hat.” Er fing Darias düsteren Blick auf, und ihm wurde klar, dass er dieses Thema besser nicht in ihrer Gegenwart besprechen sollte. Sie war immer noch gegen die Sache, doch es fiel ihm schwer, Stillschweigen zu bewahren, wenn er sich in Gedanken kaum mit etwas anderem beschäftigte. Außerdem war Ellens Äußerung geradezu eine Aufforderung zum Erzählen gewesen.

“Und was hat er gesagt?”, fragte Grace. “Was hat die Polizei damals herausgefunden?”

Die Kellnerin brachte den Nachtisch, und Rory lehnte sich auf seinem Stuhl zurück, damit sie die Mousse au Chocolat vor ihm platzieren konnte. Grace ließ seine Hand los, griff nach ihrem Wasserglas und nahm einen Schluck.

“Leider nicht viel, fürchte ich.” Rory sah entschuldigend zu Shelly hinüber. “Der Detective geht davon aus, dass Shellys Mutter eins der beiden jungen Mädchen war, die zu jener Zeit als vermisst gemeldet waren und niemals gefunden wurden.”

“Schon eigenartig, dass an jenem Morgen niemand gesehen hat, was passiert ist”, bemerkte Grace. “Gehen die Leute denn normalerweise nicht früh an den Strand? Um Muscheln zu suchen oder den Sonnenaufgang zu beobachten?”

“Am Tag zuvor hatte es ein schweres Unwetter gegeben”, erklärte Daria. “Da war seit mindestens vierundzwanzig Stunden niemand mehr am Strand. Ich war wohl die erste Person dort. Oder besser gesagt: die zweite.”

Ted beugte sich zu Rory hinüber, seine weichen, gemütlichen Gesichtszüge waren plötzlich von Anteilnahme gezeichnet. “Chloe und Daria finden, du solltest die Vergangenheit ruhen lassen”, sagte er leise, damit Shelly es nicht hörte. “Du solltest Shellys friedliches Leben nicht durcheinanderbringen.”

Ellen tat die Bemerkung ihres Mannes mit einer abfälligen Handbewegung ab. “Soll Rory doch allein merken, dass es sinnlos ist”, sagte sie. “Die Polizei hat damals alles auf den Kopf gestellt und nichts herausgefunden. Da wird man nach zweiundzwanzig Jahren erst recht nichts mehr finden.” Mit geheuchelter Zerknirschtheit sah sie Rory an. “Tut mir leid, Rory, aber ich glaube, das ist vergebliche Liebesmüh.”

“Möglicherweise”, gab er zu – jedoch nicht, weil er ihrer Meinung war, sondern um die Wogen zu glätten.

Auf der anderen Seite der Terrasse piepste ein Pager, kaum hörbar, doch Daria schreckte zusammen und blickte in die Richtung, aus der der Ton kam. Als Rory ihrem Blick folgte, sah er ihren Bekannten Mike, der ein kleines Mobiltelefon ans Ohr hielt. Daria tat, als konzentrierte sie sich wieder voll und ganz auf den Nachtisch, aber Rory wusste, dass sie Mike immer noch beobachtete. Ob sie in ihm vielleicht mehr als nur einen “Kumpel” sah?

Da erhob Mike sich von seinem Stuhl und ging schnurstracks auf Daria zu. Er legte ihr die Hände auf die Schultern, beugte sich zu ihr hinab und murmelte ihr etwas ins Ohr, laut genug, dass man ihn am gesamten Tisch verstehen konnte. “Auf der 158 ist ein Unfall passiert, irgendwo bei Meilenstein acht. Zwei Autos und ein Fahrrad. Komm mit.”

Daria schüttelte den Kopf.

“Wir haben nicht genug Leute”, beharrte Mike. Seine Finger hatten auf Darias Schultern weiße Druckstellen hinterlassen. “Ich bitte dich”, sagte er. “Wir brauchen dich.”

Wieder schüttelte sie stumm den Kopf, den Blick starr auf ihren Limonenkuchen gerichtet, woraufhin Mike von ihr abließ und aus dem Lokal stürmte. Alle hatten sich weiter unterhalten, und schon im nächsten Moment hob Daria den Kopf, lächelte und beteiligte sich wieder am Gespräch. Jeder plapperte, als wäre nichts Ungewöhnliches passiert. Allein Rory nahm die Tränen in Darias Augen wahr.