12. Kapitel
Roger hob schnuppernd die Nase, als er die geräumige Diele betrat. Er hatte richtig vermutet. Es roch nach Karotteneintopf mit Steckrüben und Majoran. Igitt! Wenn Roger etwas noch mehr hasste als Karotten, dann waren es Steckrüben.
Sein Vater liebte hingegen alle Arten von Wurzelgemüse. Deshalb hatte Frau Kleintrecht in der letzten Herbst/Wintersaison kiloweise Steckrüben eingefroren, damit der Hausherr auch im Frühjahr und Sommer seine geliebten Rüben essen konnte.
Roger hegte den Verdacht, dass der gesamte Froster im Keller mit diesem Ekelzeug vollgestopft war.
"Roger?" Marga Kleintrecht klapperte mit Topfdeckeln und Besteck, während sie nach dem Jungen rief. "Roger, bist du es?"
Der Junge verzog das Gesicht. "Ja." Es klang lahm.
"Na, Gott sei Dank!" Marga hörte auf, mit dem Kochgeschirr zu klappern. "Geh' nur schnell und wasch' dir die Hände. Dein Vater wartet im Esszimmer auf dich. Du weißt, dass er es hasst, wenn du zu spät kommst."
"Noch dazu, wo wir heute Besuch erwarten", fügte sie seufzend hinzu, worauf Roger das Gesicht verzog.
Sein Papa führte ein sehr zurückgezogenes Leben und die wenigen Bekannten, die er hatte, waren allesamt scheußlich langweilig und sprachen eigentlich immer bloß über ihre Geschäfte.
"Wer kommt denn?"
"Was weiß ich." Marga hob die Schultern. "Nun mach schon, Junge, deine Langweiligkeit macht mich ganz kribbelig."
Kopfschüttelnd sah die Haushälterin zu, wie Roger ächzend wie ein alter Mann, seinen Schulranzen neben dem Garderobenschrank abstellte und ins Badezimmer schlich."
Simon Hartmann war ein gutaussehender Mann, der seine Gefühle hinter einem zur Maske erstarrten Gesicht versteckte.
Nicht ein Lächeln zeigte sich auf den strengen Zügen, als Roger endlich das Speisezimmer betrat. Marga trug gerade den gefürchteten Eintopf auf. Simons Miene blieb unnahbar, obwohl der Duft des Mahls durchaus seinen Appetit anregte.
"Wo kommst du jetzt her?" fragte er seinen Sohn, der mit gesenktem Kopf vor seinem Stuhl stehen blieb.
Roger Biss sich verzweifelt auf die Lippen. Wenn er dem Vater die Wahrheit erzählte, würde dieser schimpfen, weil Roger eigentlich mit keiner fremden Person reden durfte. Log er, würde es Papa gewiss merken und auch ärgerlich werden.
Was also sollte der Junge tun?
Simon kräuselte ungeduldig die Lippen. "Meine Güte, erhalte ich heute noch eine Antwort?"
Roger beschloss, die halbe Wahrheit zu sagen.
"Mir war auf einmal so schwindelig, da habe ich mich in ein Bushäuschen gesetzt und gewartet, bis es mir wieder besser ging."
So, das war keine ausgesprochene Lüge. Rogers kleine Seele fühlte sich frei von jeder Schuld. Aber als der Junge den besorgten Ausdruck auf dem Gesicht seines Vaters sah, begann er doch, sich zu schämen.
"Hast du dein Schulbrot wieder nicht gegessen?" forschte Simon beunruhigt. Der Junge war so blass und schmal, dass man fürchten musste, das nächste Windchen könne ihn fortblasen.
"Doch!" Roger sah ihn offen an. "Ich habe alles aufgegessen, auch den Apfel."
Simon nickte. Plötzlich wirkten seine Züge milder.
"Wenn das noch mal vorkommt, gehen wir besser zum Arzt", meinte er, immer noch leicht beunruhigt. "So, jetzt setze dich und iss."
Obwohl sich beim Anblick des Eintopfes Rogers Magen beinahe umstülpte, setzte er sich artig auf seinen Stuhl und breitete die Serviette über den Knien aus.
Angewidert sah er zu wie sein Vater zur Kelle griff und ihm eine Portion auf den Teller häufte. Es war nicht viel, aber Roger kam es vor wie ein riesiger Karotten-Steckrübenberg, der mit jedem Bissen, den er in sich hineinzwängte, noch zu wachsen schien.
Die Mahlzeit verlief schweigend. Simon war mit seinen Gedanken bei geschäftlichen Dingen, Roger dachte an das Rechenheft in seinem Ranzen. Wann würde der Vater die bewusste Frage stellen?
Aber der Papa schien heute tatsächlich mit ganz anderen Dingen beschäftigt zu sein. Als Roger sich nämlich endlich ein Herz fasste und fragte, ob er aufstehen und in sein Zimmer gehen dürfte, blickte Simon ihn wie erwachend an, dann nickte er.
"Ja, gut, geh nur", erlaubte er großzügig. "Du hast zwar nicht aufgegessen, aber ich will mal nicht so sein." Er lächelte verschwommen. "Mach deine Hausaufgaben ordentlich."
"Ja, Papa." So schnell er konnte, sauste Roger aus dem Esszimmer und die Treppe hinauf auf sein Zimmer.
Simon sah ihm traurig hinterher. Täuschte er sich oder fühlte sich sein Sohn in seiner Gegenwart immer unwohler? Der Junge hatte während des Essens nicht einen einzigen Ton von sich gegeben. Dabei musste er doch eine Menge zu berichten haben. Zum Beispiel was er in der Schule erlebt hatte.
Seufzend faltete Simon seine Serviette zusammen und erhob sich ebenfalls. In den nächsten Tagen würde er sich einmal mit Roger zusammensetzen und ein ernsthaftes Gespräch – von Mann zu Mann sozusagen – mit ihm führen.
Doch jetzt hatte er anderes zu tun. Das Familienleben musste leider noch ein bisschen warten.