2. Kapitel

Der Nachbarsjunge stand am Zaun und sah mit großen Augen auf Droste, die sich schwanzwedelnd näherte. Man sah dem Kleinen an, dass er sich vor der großen Schäferhündin fürchtete. Obwohl der hohe Zaun zwischen ihm und dem Tier stand, wich der Knabe angstvoll zurück, als Droste stehenblieb und ihn ansah.

Wilma versuchte, den starren Blick des Kindes zu ignorieren.

"Hallo Nachbar", grüßte sie den Jungen betont fröhlich. "Heute keine Schule?"

Der Knabe schüttelte nur stumm den Kopf, ohne den Hund aus den Augen zu lassen.

"Beißt der?" fragte er schließlich mit hoher, dünner Stimme, in der die nackte Panik schwang.

Wilma seufzte unterdrückt.

"Aber Schatz, das habe ich dir doch schon x-mal gesagt", begann sie vorsichtig. "Droste hat noch nie jemanden gebissen. Sie ist froh, wenn du ihr nichts tust."

Der Junge machte einen zögernden Schritt vorwärts, stockte jedoch in der Bewegung und wich erneut zurück. Und dann fuhr er herum und floh ins Haus, so schnell ihn seine Beine trugen.

Wilma sah ihm kopfschüttelnd hinterher. Der Junge tat ihr leid. Sie schätzte ihn auf ungefähr sieben, acht Jahre, wobei sie sich allerdings auch täuschen konnte, denn er war ein dürres, blasses Kerlchen, das nach Wilmas Meinung für mindestens sechs Wochen an die See geschickt und aufgepäppelt werden sollte.

Er sprach selten, und wenn er sich mal im Garten aufhielt, dann saß er am liebsten unter dem großen Kirschbaum an der Terrasse und träumte vor sich hin.

Eine Mutter schien er nicht zu haben. Oder anders ausgedrückt, sie schien nicht in der Nachbarvilla zu leben. Vielleicht war sie verstorben oder die Eltern des Jungen waren geschieden.

Auch Freunde, die ihn besuchten, sah sie nie. Als Wilma den Knaben bei ihrem Einzug am Zaun stehen sah, hatte sie erwartet, jeden Nachmittag kreischende Kinderhorden durch den Nachbarsgarten toben zu sehen. Aber das Gegenteil war der Fall.

Die benachbarte Villa stand wie ausgestorben in dem gepflegten Garten. Keine Stimmen, keine Musik und leider auch niemals ein fröhliches Kinderlachen, schallten aus dem Haus. Nur unnatürliche Stille, die Wilmas Misstrauen weckte.

Ja, es schien ihr zuweilen sogar, dass die Vögel, die sonst überall in den Bäumen hockten und ihre fröhlichen Lieder piepsten, das Nachbargrundstück mieden. Aber das war natürlich nur eine Täuschung – trotzdem – irgendetwas stimmte nicht dort drüben.

Ich muss unbedingt versuchen, mit dem Jungen Kontakt zu knüpfen, dachte Wilma, während sie ihr eigenes Grundstück betrat.