20. Kapitel
Erst unterwegs fiel ihr ein, dass sie überhaupt nicht wusste, wo sich die Firma befand, in der Simon Hartmann arbeitete. Mühsam versuchte Wilma, sich an die Worte der Sekretärin zu erinnern, mit denen sich diese am Telefon gemeldet hatte.
Es war irgendetwas mit Medi gewesen – Medi – Medi – Medi – und was weiter?
Wilma änderte die Richtung und fuhr die nächste Poststelle an. Zum Glück besaß diese Stadt noch ein Postamt, in das man gehen und seine Briefe und Pakete versenden konnte. Und es gab die "Gelben Seiten" in denen Wilma nun hektisch nach einer Firma zu suchen begann, deren Namen irgendwie mit Medi... begann.
Wegen der Namenswahl vermutete Wilma, dass es sich um einen Hersteller medizinischer Geräte oder Instrumente handelte. Aufmerksam lass sie die Eintragungen. Es war ein mühseliges Unterfangen, aber schließlich hatte sie fünf in Frage kommende Kandidaten gefunden.
Um die Sache abzukürzen, zog Wilma ihr Handy heraus und wählte die erste Nummer. Das Glück war ihr hold. Nach dem dritten Klingelzeichen meldete sich die freundliche Stimme, die ihr schon einmal ans Ohr geklungen war.
"Entschuldigung, verwählt", sagte Wilma rasch, legte auf und notierte sich die Adresse.
Sie lag im neuen Industriegebiet der Stadt. Die langgestreckten, mit Glasvorbauten und geometrischen Farbakzenten aufgemöbelten Zweckbauten, sowie der weithin leuchtende Namenszug des Unternehmens waren schon aus der Ferne leicht zu erkennen.
Nun, wenigstens stieg sie keinem armen Schlucker aufs Dach. Wilma presste die Lippen zusammen, während sie auf das Gebäude zufuhr. Dieses Imperium wartete auf den kleinen Roger. Wenn sie den Jungen auch nur halbwegs richtig einschätzte, fürchtete er sich eher vor dem Gigantismus, den die Neubauten ausstrahlten, als dass er das Werk seines Vaters bewunderte.
Wie mochte sich der Junge fühlen, wenn ihm immer wieder vorgehalten wurde, dass sein Vater dies alles geschaffen und für ihn aufgebaut hatte? War das nicht ein gewaltiges Erbe, das erdrückte?
Sie hatte das Gelände erreicht. Ohne noch lange über ihr Tun nachzudenken, stieg Wilma aus und marschierte auf das gläserne Portal zu.
Sie hatte einen Pförtner erwartet, der sie schon am Eingang abfangen und hinauswerfen würde, aber Wilma gelangte ohne Schwierigkeiten in die oberste Etage.
Hier wurde sie von einer leidlich hübschen Sekretärin empfangen, die jedoch gar nicht dazu kam, Wilma irgendeine Frage zu stellen. Wilma spazierte zu allem entschlossen einfach an ihr vorbei, verweilte kurz, um sich für eine der drei Türen zu entscheiden, die von dem Vorraum abgingen und marschierte dann zur größten.
Sie hatte sich nicht getäuscht. Als sie in den Raum spazierte, sah Simon Hartmann überrascht von seiner Computertastatur auf.
"Sie???" Völlig verdattert starrte er zur Tür, dann wieder zu Wilma.
"Ja, ich!""Entschuldigung." Die Türklinke flog Wilma in den Rücken, was sie überrascht aufschreien ließ. Das Gesicht der Sekretärin erschien im Rahmen. "Aber ich konnte die Dame nicht aufhalten. Sie ist einfach..."
"Schon gut", unterbrach Simon sie ungeduldig. "Lassen Sie uns alleine."
"Ja, Herr Hartmann." Verschüchtert zog sich die Dame zurück.
"Was wollen Sie?" fuhr Simon seinen ungebetenen Gast an, nachdem sich die Tür hinter der Sekretärin geschlossen hatte. "Falls Sie gekommen sind, um mir eine Standpauke zu halten, können Sie gleich wieder gehen. Ich finde Ihr Verhalten schlichtweg impertinent."
"Und ich finde Ihr Verhalten schlichtweg herzlos und unverantwortlich!" schleuderte Wilma ihm entgegen. "Ihr Sohn liegt mit beinahe vierzig Grad Fieber im Bett und Sie halten es noch nicht einmal für nötig, nach Hause zu fahren und nach ihm zu sehen. Ja, Sie fragen noch nicht einmal nach ihm."
Simon hob hochmütig die Brauen.
"Ich habe bereits mit Doktor Baumann gesprochen."
"Ach, haben Sie das?" Wilma war mit wenigen Schritten an seinem Schreibtisch. "Na, wunderbar! Und damit ist für Sie die Sache erledigt, nicht wahr? Sie haben Ihre Pflicht getan. Aber ein Kind braucht mehr als..."
"Halten Sie mir keine Vorträge!" unterbrach Simon sie wütend. "Und geben Sie mir um Gottes Willen keine Ratschläge. Ich weiß selbst am besten, was meinem Jungen gut tut."
"Das wissen Sie nicht!" widersprach ihm Wilma mutig. "Sie glauben, es zu wissen. Und Sie sind derartig von Ihrer Allwissenheit überzeugt, dass Sie keine andere Meinung gelten lassen wollen."
"Ich brauche mir Ihre beleidigenden Unterstellungen nicht länger anzuhören!" ging Simon auf Wilma los. "Mal ganz ehrlich, ich habe genug von Ihnen. Ihre Tante war schon eine Plage, aber Sie sind die Krönung. Wenn Sie jetzt nicht auf der Stelle mein Büro verlassen, werfe ich Sie eigenhändig hinaus."
"Tun Sie das!" schrie Wilma aufgebracht zurück. "Aber bis Sie mich vor der Tür haben, müssen Sie sich noch anhören..."
"Ich will Ihre Frechheiten nicht mehr hören!"
"Was ich Ihnen zu sagen habe!" führte Wilma ihren Satz unbeirrt zu Ende. "Wenn Sie der verantwortungsvolle Vater wären, den Sie mir vorspielen wollen, dann wüssten Sie, dass Roger Ihre Liebe braucht."
"Hören Sie auf."
"Nein!" Wilma baute sich vor Simons Schreibtisch auf. "Sie wissen nichts, aber auch gar nichts über Ihren Sohn", hielt sie Simon vor. "Hat er Ihnen erzählt, dass seine Lehrerin ihn dumm nennt? Und wissen Sie, dass diese Person ihn alleine nach Hause gehen ließ, obwohl er so krank ist? Nein, das..."
"Ich bin mit Rogers Lehrerin sehr zufrieden!" schrie Simon dazwischen. "Der Junge braucht eine starke Hand. Mit ihrem Getue verzärteln Sie ihn nur."
"Mein Gott, was sind Sie doch für ein aufgeblasener Ignorant!" Wilma schüttelte den Kopf. "Jeder darf auf Ihrem Kind herumtrampeln und Sie..."
"Jetzt reicht es!" Ehe Wilma reagieren konnte, war Simon aufgesprungen und hatte sie gepackt.
Mühelos hob er sie hoch und trug sie zur Tür. Aber so schnell gab Wilma nicht auf. Sie musste unbedingt alles sagen, was ihr auf der Seele brannte und sie wollte, dass Simon Hartmann klein beigab. Koste es was es wolle!
Sie musste ihn nur irgendwie stoppen.
Aber wie?