Geh und komm als Sieger wieder.
Segnungsspruch der Pferde
Epilog
Samstag, 28. August 1880, und Dienstag, 28. August, zwölf Tage nach dem Palio
Eva Maria schaute mit starrem Blick aus dem Fenster ihres Schlafgemachs und reagierte nicht einmal, als Isabella sie ansprach. Ihre Wangen waren eingefallen, ihre Gesichtshaut aschgrau. Auch als in diesem Moment jemand an die Tür zu ihrem Zimmer klopfte und, ohne eine Aufforderung abzuwarten, eintrat, wandte sie nicht einmal den Kopf.
Signore Morelli winkte Isabella hinaus, besann sich dann jedoch und hielt sie am Ärmel zurück, als sie an ihm vorbei durch die Tür schlüpfen wollte.
»Wie geht es ihr?«, wollte er wissen und deutete mit einer Kopfbewegung auf seine Tochter, die unverändert am Fenster saß und ihm den Rücken zuwandte.
»Schlecht, Herr, es geht ihr schlecht«, antwortete Isabella. »Sie hat seit Tagen nichts gegessen und sitzt nur am Fenster und schaut hinaus.«
»Was erwartet sie denn, dort zu sehen?«
Isabella konnte ein leichtes Stirnrunzeln angesichts dieser aus ihren Augen völlig überflüssigen Frage nicht ganz unterdrücken. »Sie wartet auf ihren Verlobten, Herr. Auf Signore del Pianta.«
Signore Morelli grunzte ungehalten und ließ Isabella los. Raschen Schrittes entfernte sich das Dienstmädchen, während Morelli hinter seine Tochter trat und ihr eine Hand auf die Schulter legte. Doch nicht einmal diese unerwartete Berührung veranlasste Eva Maria, ihren Blick von den Wiesen, Feldern, Hügeln und Wäldern am Horizont abzuwenden.
»Eva«, sagte ihr Vater und seine Stimme klang ungewöhnlich sanft.
Mit leeren Augen wandte sie sich zu ihrem Vater um.
»Eva«, wiederholte Andrea Morelli, »du musst allmählich wieder zur Besinnung kommen.«
Eva Maria antwortete nicht.
Signore Morelli seufzte. »Er wird nicht zurückkehren.«
Eva Maria schwieg.
»Dieser Bastard ist froh, dass er einen Weg gefunden hat, sich seiner Verantwortung zu entziehen.«
Jetzt loderte ein kleines Feuer in Eva Marias sonst so abwesend blickenden Augen auf. Sie erhob sich und schaute ihrem Vater geradewegs ins Gesicht. »Wieso gebt Ihr ihm die Schuld? Ihr seid es doch gewesen, der ihn fortgetrieben hat! Ihr mit Euren Ränkespielen und …«
»Eva!« Die Stimme des Vaters nahm wieder ihren gewohnt harschen Ton an.
»Ich weiß, was man sich in der Stadt erzählt«, fuhr Eva Maria unbeirrt fort. »Wie viel hat es Euch gekostet? Was habt Ihr dem barbarasco gezahlt, damit er den Weg für Euren Handlanger freimacht?«
»Schweig!«, fuhr Signore Morelli seine Tochter an und seine Wangen färbten sich rot vor Zorn. »Nichts von dem, was du hier andeutest, wird sich jemals beweisen lassen!«
Eva Maria schüttelte den Kopf. »Ich brauche keine Beweise, um die Wahrheit zu erkennen.«
»Du gibst mir die Schuld für etwas, das du selbst zu verantworten hast. Aber ich werde dich dennoch nicht fallen lassen.« Signore Morelli seufzte, als fiele es ihm schwer weiterzusprechen. »Ich habe Vorkehrungen getroffen. Es gibt Möglichkeiten, deinen Fehltritt rückgängig zu machen. So könntest du noch einmal von vorne beginnen. Und wenn die Mitgift groß genug ausfällt …«
Eva Maria sog scharf die Luft ein. »Ihr wollt mich losschlagen wie ein Stück Vieh? Die Mitgift erhöhen, um den Makel der Braut auszugleichen?«
»Es wird keinen Makel geben.«
Eva Maria legte unwillkürlich eine Hand auf ihren Bauch. Und ihre Stimme klang schneidend: »Nein, Ihr habt recht, es gibt wahrhaftig keinen Makel. Nur einen Keim der Liebe in mir. Und niemals werde ich Euren Plänen zustimmen. Niemals!«
»Wenn das so ist«, antwortete ihr Vater, »dann kann ich nichts mehr für dich tun.«
»Nein«, sagte Eva Maria, »das könnt Ihr wohl nicht.« Und ohne ein weiteres Wort wandte sie sich ab und starrte wieder aus dem Fenster, bis sie hörte, wie ihr Vater die Zimmertür hinter sich schloss.
Als die Sonne Stunden später hinter dem Horizont verschwand, saß Eva Maria immer noch am Fenster und blickte hinaus. Der Tag, der ihr schönster hatte werden sollen, neigte sich seinem Ende zu. Und anstatt wohlgemut in eine strahlende Zukunft zu blicken, saß sie alleine im Haus ihres Vaters und wog ihre Möglichkeiten ab.
Nein, verbesserte sich Eva Maria, allein war sie eben nicht. Und das veränderte vieles. Vielleicht sogar alles.
Ja, sie gab ihrem Vater die Schuld an den Geschehnissen. Und doch musste sie zugeben, dass Lorenzo sich auch anders hätte verhalten können. Ein Wort von ihm hätte genügt, und sie wäre ihm überallhin gefolgt. Bis ans Ende der Welt. War seine Liebe zu ihr nicht groß genug gewesen? Hatte ihr Vater am Ende recht und er hatte sie gar nicht gewollt? War er womöglich froh, seiner Verantwortung auf diese schäbige Weise zu entkommen?
Sie wandte sich um und betrachtete ihr Hochzeitskleid, das ausgebreitet auf ihrer Bettstatt lag. Es war weiß, wie es der neuen Mode entsprach. Und zeigte mit dieser Farbe nicht nur den sozialen Stand seiner Trägerin, sondern darüber hinaus ihre Unschuld.
Eva Maria lachte voller Bitternis bei diesem Gedanken. Wie lange würde sie ihr Geheimnis noch verbergen können? Und was würde geschehen, wenn ihr »Fehltritt«, wie ihr Vater es nannte, offensichtlich wurde? Die Worte Signore Morellis waren eindeutig gewesen: Wenn sie nicht bereit war, sich zu beugen und die Folgen ihres Leichtsinns wegmachen zu lassen, dann hatte sie von ihrer Familie keinerlei Unterstützung zu erwarten. Nicht von ihrem Vater und ebenso wenig von ihrer Mutter, die es niemals gewagt hätte, gegen ihren Mann aufzubegehren. Mit Schimpf und Schande würde man sie davonjagen. Und wo sollte sie dann hin?
Eva Maria strich mit den Fingern über den weichen Stoff des Kleides, betrachtete den voluminösen Rock, das spitzengesäumte Dekolleté. Langsam, mit bedächtigen Bewegungen, begann sie, sich auszuziehen und ihre Wäsche säuberlich gefaltet auf das Bett zu legen. Als sie nur noch ihre Unterwäsche trug, griff sie nach dem Hochzeitskleid und stieg hinein. Es war nicht leicht, beinahe unmöglich, sich alleine anzukleiden. Aber schließlich hatte sie es doch geschafft, wenn auch nicht alle Haken am Rücken richtig geschlossen waren. Sie drehte und wendete sich, als tanze sie zu einer Musik, die nur in ihrem Kopf spielte. Eine Tänzerin, die sich in den Armen ihres Liebsten drehte.
Der lange Rock streifte über den Boden, als Eva Maria zu ihrem Platz am Fenster zurückkehrte und wieder hinaus in die nun dunkle Nacht blickte. Der Mond hatte seinen Platz am Himmelszelt eingenommen und obwohl er nur halb voll war, erleuchtete sein silberner Schein den Garten und tauchte ihn in ein geheimnisvolles Licht.
»Eva Maria Morelli. Eva Maria del Pianta.« Es war kaum mehr als ein Flüstern. Die junge Frau mit dem blassen Gesicht spürte dem Klang der beiden Namen lange nach. Dies also war der Tag gewesen, an dem sie zu Signora del Pianta hätte werden sollen. Aber nun saß sie immer noch als Signorina Morelli hier.
Die Seele kann nicht leben ohne Liebe, sie muss etwas lieben, sie ist aus Liebe geschaffen.
Eva Maria konnte sich im Augenblick nicht erinnern, woher diese Zeilen stammten, die ihr in den Sinn kamen. Aber sie spürte die Wahrheit, die darin steckte. Ihre Seele bestand aus Liebe. Aus Liebe zu ihrem ungeborenen Kind. Aus Liebe zu einem Mann, der sie im Stich gelassen hatte. Und aus dieser Liebe heraus hatte sie gesündigt, als sie dem Verlangen ihrer Seele nachgegeben hatte. Aber stand nicht in der Bibel: »Die Folge der Sünde ist der Tod«?
Eva Maria erhob sich wieder und trat zurück ins Dunkel des Zimmers. Mit langsamen Bewegungen zog sie das Laken von ihrem Bett und zerschnitt es mit der Dochtschere, die neben der brennenenden Kerze auf ihrem Nachttisch bereitlag, in drei Bahnen. Das war nicht einfach, denn die Dochtschere war ihrer bescheidenen Aufgabe entsprechend stumpf. Aber sie hatte Zeit. So viel Zeit.
Sie flocht die drei Bahnen zu einem festen Strang und während sie ihrer Arbeit im Schein der flackernden Kerze nachging, spürte sie, wie ihr Herz immer leichter wurde, während ihr Entschluss sich festigte: Sie würde ihr Kind behalten. Die Frucht ihrer Liebe würde auf immer und ewig mit ihr verbunden bleiben. Nichts würde sie trennen können. Nicht einmal der Tod.
Im Garten herrschte tiefe Stille. Nicht einmal ein Vogel zwitscherte in dieser Nacht. Alles schlief. Keiner bemerkte die Frau in dem weißen Kleid, die ohne jede Eile ihre Vorkehrungen traf. Niemand schaute aus dem Fenster des Flurs im ersten Stock des Palazzo.
Auch nicht, als der umgeworfene Schemel mit einem dumpfen Knall auf den Rasen prallte und der Ast, der unvermittelt ein Gewicht zu tragen hatte, leise knirschte.
Es war, als befände sie sich zugleich innerhalb und außerhalb ihres Körpers. Sie konnte alles sehen und zugleich alles fühlen.
So war es also, wenn man starb.
Eine Weile verharrte sie zwischen dem Reich der Lebenden und dem Reich der Toten. In ihren Gedanken war sie ganz bei ihrem Kind. Und bis ihre Kräfte nachließen und die Ohnmacht von ihr Besitz ergriff, hatte sie beide Hände schützend auf ihren Bauch gelegt. Dann entspannten sich ihre Gesichtszüge und ihre Arme fielen schlaff zur Seite.
Maria war schon oft in den letzten Tagen gefragt worden, ob sie es nicht bedauerte, von den Festlichkeiten, die auf den Palio folgten, nichts mitbekommen zu haben. Und sie hatte jedes Mal mit Nein geantwortet. Nein, sie bedauerte nicht, den Umzug des Siegers durch die Stadt verpasst zu haben.
Auf ihren Wegen ins Krankenhaus war sie mehrmals Feiernden begegnet, die zum Zeichen der Wiedergeburt ihrer Contrade einen Babyschnuller an ihren fazzoletti trugen. Und dabei hatte sie an die armen Verlierer denken müssen, die zur Verbüßung ihrer Schande abführendes Rhizinusöl zu sich nehmen mussten, um sich von der Schmach zu reinigen.
Sie hatte Gespräche über den Verlauf des Palio mitbekommen, in denen es hieß, es sei zu erwarten gewesen, dass das Stachelschwein gewinnt, denn das Banner sei vornehmlich in den Farben dieser Contrade – Rot, Blau und Schwarz auf weißem Grund – gestaltet gewesen.
Ja, der Palio steckte eben voller Zeichen und Magie. Und der Sieg war alles, was zählte. Es gab nichts dazwischen. Es hieß alles oder nichts. Schwarz oder Weiß. Wie die Farben der Stadt.
Doch für Maria zählte in diesen Tagen anderes. Tag und Nacht saß sie an Angelos Krankenbett, hielt seine Hand und betete darum, dass er wieder ganz gesund werden würde. Dass seine schwere Gehirnerschütterung, seine geprellten Rippen und das gebrochene Bein völlig verheilen würden.
»Nein«, antwortete sie deswegen auch jetzt auf Angelos Frage, ob sie es nicht bedauerte, seinetwegen die Feierlichkeiten verpasst zu haben. »Nein, ich bedaure nichts.«
Sie sah zur Seite und strahlte Angelo dankbar an, der sich neben ihr schwer auf Krücken stützen musste, um das eingegipste Bein nicht zu belasten. »Wenn ich mir vorstelle, deine Verletzungen wären noch schwerwiegender gewesen …«
Angelo hob mühsam eine Hand und strich ihr liebevoll tröstend über die Wange. »Wie dumm wir waren«, sagte er, »uns wegen so einer Nichtigkeit derartig zu streiten.«
Maria antwortete nicht, doch in ihrem Blick lag die Aufforderung, weiterzusprechen, denn sie hatte das Gefühl, dass Angelo noch nicht alles gesagt hatte, was ihm auf der Seele lag.
»Weißt du«, fuhr er fort, »an dem Abend, als du Antonia und mich beobachtet hast, da ging es in unserem Gespräch ausschließlich um dich.«
Maria zog überrascht die Augenbrauen hoch.
»Ja«, bestätigte Angelo und seufzte. »Antonia hatte mir gestanden, dass sie dir einen Streich gespielt hat. Sie hatte beim Saubermachen mit dem Finger deinen Namen auf den Spiegel im Badezimmer geschrieben.«
»Das war Antonia?!«
Angelo nickte. »Und sie bekam ein schlechtes Gewissen, als sie merkte, wie sehr sie dir damit zugesetzt hatte. Sie erzählte mir, du wärst totenbleich geworden und beinahe umgekippt. So als hättest du einen Geist gesehen, als sie dir mit einem Wäschestapel im Arm im Flur begegnete.«
Maria erinnerte sich an ihren Beinahezusammenstoß mit Antonia und ein Lächeln huschte über ihr Gesicht. Ja, sie hatte damals tatsächlich geglaubt, Eva Marias Geist zu begegnen.
»Ich fürchte, sie hat auch etwas mit dem kranken Baum zu tun. Vielleicht hat sie ihn mit irgendeinem Gift begossen oder so, aber das hat sie vehement bestritten. Ich weiß nicht, ob ich ihr glauben kann oder nicht.«
Ein flüchtiger Gedanke schoss Maria durch den Kopf. Er hatte etwas mit Luigi, dem Sohn des Gärtners, und seinen Experimenten zu tun. Aber der Gedanke flog so schnell vorüber, dass sie ihn nicht richtig fassen konnte.
»Antonia wird kündigen«, sagte Angelo in die Stille hinein. »Sie kommt wohl doch nicht damit zurecht, dass du und ich jetzt zusammen sind.«
Maria nickte. Sie hatte schon damit gerechnet, nachdem Antonia ihr in den letzten Tagen ständig aus dem Weg gegangen war.
»Da bleibt wohl nur noch die Frage, wer für die Beschädigung des Palio verantwortlich ist«, sagte Maria. Und wie das Bild der Frau, das ich fotografiert habe, in den Spiegel gekommen ist, dachte sie, scheute aber davor zurück, ihre Gedanken auszusprechen. Sie hatte das Foto aus ihrem Handy gelöscht und beschlossen, nicht mehr darüber nachzudenken. Auch wenn ihr das noch nicht immer gelang.
Mittlerweile waren sie am Ziel ihres Weges, der links und rechts von Grabstätten gesäumt war, angekommen. Es war heiß. Die Luft sirrte. Und kein noch so kleiner Windhauch regte sich. Schweigend blickten Maria und Angelo auf den Grabstein zu ihren Füßen.
Eva Maria Morelli
1.6.1858 – 28.8.1880
Ruhe in Frieden
So stand es in einer altertümlichen Schrift auf dem weißen Marmor.
Maria und Angelo fassten sich an den Händen. Hier standen sie, genau einhundertzweiunddreißig Jahre nach dem Tod der jungen Frau, und waren dankbar dafür, dass sie einander in Liebe verbunden waren und eine gemeinsame Zukunft vor ihnen lag. Nichts anderes hatte sich diese junge Frau gewünscht. Und war doch so bitter enttäuscht worden.
Irgendjemand, vielleicht der Friedhofsgärtner, hatte am Todestag der Verstorbenen eine Kerze entzündet und auf die Grabplatte gestellt.
Maria bückte sich und stellte den kleinen Rosenbusch, den sie in einem dazu passenden Blumentopf mitgebracht hatten, neben die Kerze auf die Marmorplatte. Dann erhob sie sich wieder. Mit einer Handbewegung strich sie sich eine Haarsträhne aus der glühenden Stirn. Doch als sie die Hand wieder sinken lassen wollte, verharrte sie plötzlich. Denn obwohl nicht der leiseste Wind wehte, erlosch in diesem Augenblick die Kerze und ein Zittern ging durch den Rosenbusch, als ob er von einer leichten Böe erfasst worden wäre.
Wie ein Gruß aus dem Jenseits.
Und ein Dank.