In der Traumzeit lag die ganze Erde im Schlaf.

Nichts wuchs. Nichts bewegte sich.

Alles war ruhig und still.

Oodgeroo

 

Prolog

 

 

Ray strich Emily unbeholfen über die blonden Locken. Er traute sich kaum, sie anzuschauen. Als fürchtete er sich vor ihren Tränen. 

»Du wirst sehen«, sagte er und versuchte, Zuversicht und Gelassenheit in seine Stimme zu legen, »es dauert nicht lange und wir können wieder zusammen sein.« 

Emily bemühte sich tapfer zu nicken, aber das machte es für Ray nur noch schwerer. Der kleine Engel versuchte seinetwegen stark zu sein. Emily wollte es ihm leicht machen! Und zeigte ihm dabei nur noch deutlicher, wie alleingelassen sie sich fühlte. 

»Es ist bestimmt toll in Melbourne«, fuhr Ray fort. »Du wirst sehen …« Er merkte, dass er sich wiederholte. »Ich komme dich bei Tante Amy besuchen, sobald ich kann.« 

Jetzt bohrte Emily ihre großen runden blauen Augen in seine und zog lautstark die Nase hoch. »Versprichst du es?« 

Ray versuchte zu lächeln. »Ich verspreche es.« 

»Und wo wirst du wohnen?«

Ray zog die Schultern hoch. Ja, wo würde er wohnen? Jedenfalls nicht bei Tante Amy, die nur Platz für 8-jährige blond gelockte Engel hatte, aber nicht für 16-jährige mit erstem Bartwuchs. Auch dann nicht, wenn beide Kinder ihrer verstorbenen Schwester waren. Oder vielleicht gerade deswegen nicht. Tante Amy machte wenigstens keinen Hehl daraus, dass sie Ray seine Ähnlichkeit mit seiner Mutter vorwarf. Warum das allerdings so war, darüber konnte Ray nur spekulieren. Er ahnte aber, dass sich Tante Amy als Kind immer zurückgesetzt gefühlt hatte, dass sie davon überzeugt gewesen war, weniger geliebt zu werden als ihre kleine Schwester. Und da Emily mehr dem Vater mit seinem sanften Wesen ähnelte als der Mutter, die immer dickköpfig gewesen war, hatte er jetzt die schlechteren Karten. 

»Ich werde schon etwas finden«, antwortete er schließlich. »Mach dir meinetwegen keine Sorgen.« 

In diesem Augenblick trat Tante Amy aus dem Haus, Emilys kleinen Koffer in der rechten Hand, der alles enthielt, was das Mädchen besaß. Hinter ihr zog der Reverend Father Smith die Haustür ins Schloss und verriegelte sie anschließend sorgfältig. Er drückte mehrfach gegen das morsche Holz, um sich zu vergewissern, dass sie auch wirklich verschlossen war. Schließlich würde das Haus jetzt voraussichtlich für einige Zeit leer stehen und sollte nicht zum Ziel für Randalierer oder Obdachlose werden. 

Ray widerstand dem Impuls, sich auf den Reverend zu stürzen und ihm den Schlüssel aus der Hand zu reißen. Den Schlüssel zu seinem Zuhause. Er würde es nie wieder betreten. Andere Menschen würden kommen und in dem kleinen Haus wohnen. Eine Mutter, ein Vater, zwei Kinder vielleicht. Ein Junge und ein Mädchen. So wie es früher auch bei ihnen gewesen war. 

»Emily, mein Schatz.« Tante Amy beugte sich ein wenig zu dem Mädchen hinunter. »Es wird Zeit. Du musst jetzt in die Kutsche steigen.« Sie versuchte, Emily am Ärmel ihres dünnen Kleidchens mit sich zu ziehen, doch Emily entwand sich ihrem Griff und schlang ihre Ärmchen um Ray. 

Ray spürte ihre Tränen an seiner Schulter, als er Emily in die Luft hob und fest an sich drückte. Er schloss die Augen, um Tante Amys Blicken zu entgehen, die ihn mit hochgezogenen Augenbrauen musterte, als täte er etwas Verbotenes. »Mach’s gut, mein kleiner Engel«, flüsterte er seiner Schwester ins Ohr. 

»Kommst du bald und holst mich nach Hause?«

Ray räusperte sich, um die Tränen zurückzuhalten. »Ja, ich komme bald«, antwortete er endlich und ignorierte absichtlich den zweiten Teil von Emilys Frage. Wie gern hätte er ihr gesagt, dass er sie bald, ganz bald nach Hause holte. Aber es gab kein Zuhause mehr. Er wusste ja nicht einmal, wohin er selbst gehen sollte. Das Haus, in dem sie bislang gewohnt hatten, gehörte ihnen nicht. Nicht mehr. Es würde verkauft werden, um die Schulden zu bezahlen, die Rays und Emilys Vater angesammelt hatte. Falls jemand es haben wollte, denn es war nicht gerade in allerbestem Zustand. 

Das Kutschpferd schnaubte und Tante Amy stieß ungehalten die Luft aus. »Jetzt wird es wirklich Zeit, Liebes«, sagte sie und zupfte an Emilys Arm. 

Ray setzte seine kleine Schwester auf den Boden und sah zu, wie sie sich von Tante Amy widerwillig und stolpernd zur Kutsche zerren ließ, den Blick unverwandt zurück auf ihn gerichtet. Er versuchte zu lächeln, obwohl ihm nicht im Geringsten danach zumute war. Viel lieber hätte er Tante Amy zur Seite geschubst, Emily geschnappt und wäre mit ihr davongelaufen. 

Aber wohin?

Der Reverend hob Emily in die Kutsche und half anschließend Tante Amy hinauf, die sich dicht neben das Mädchen setzte und den Arm um es legte. Es sah nach einer beschützenden Geste aus und doch diente sie wohl mehr dem Zweck, Emily am Fortlaufen zu hindern. 

Der Kutscher schnalzte mit der Zunge und das Kaltblut setzte sich langsam in Bewegung, während der Reverend neben Ray trat und ihm tröstend eine Hand auf die Schulter legte. 

Ray sah der Kutsche hinterher, bis sie in einer Staubwolke hinter der nächsten Wegbiegung verschwunden war. Erst dann wurde ihm bewusst, dass sich Tante Amy noch nicht einmal von ihm verabschiedet hatte.

Der dunkle Geist des Palio
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