Kommt, liebe Kinder, und lauft diesen Palio.

Und lauft ihn so, dass nur einer ihn besitzen kann.

Hl. Katharina von Siena

1347–1380

 

 

Prolog

 

Samstag, 14. Juli, einen Monat und zwei Tage vor dem Palio

 

Angelo blieb unerwartet stehen, griff nach Marias Hand und zog sie an sich. »Manchmal kann ich mein Glück immer noch nicht fassen«, sagte er leise, fast ein wenig ehrfurchtsvoll.

Ob die Ehrfurcht mit seinem unfassbaren Glücksgefühl zusammenhing oder mit der Umgebung, konnte Maria nicht erkennen. Sie entschied sich aber für das Glück. Denn so war es ihr bedeutend lieber. Obwohl die Umgebung – das Haus ihrer Familie –, wie sie wusste, durchaus einen ähnlichen Effekt haben konnte.

Ehrfurcht war wohl das, was die meisten Menschen angesichts des Palazzo Morelli empfanden. Das prunkvolle Gebäude aus dem frühen neunzehnten Jahrhundert hinterließ mit seinen zahlreichen Zimmern und den langen, dunklen Fluren bei jedem den Eindruck jahrhundertealter Macht und Reichtum.

»Ich bin der glücklichste Mann der Welt, seit ich mit dir zusammen bin«, fuhr Angelo mit seiner Schwärmerei fort.

Maria lächelte und schmiegte sich zärtlich an ihn. Für andere Frauen wäre der Jockey mit seiner Körpergröße von knapp einem Meter siebzig und einem Gewicht von nur zweiundfünfzig Kilo vermutlich nicht gerade der Inbegriff eines stattlichen Mannes gewesen, der Sicherheit und Geborgenheit vermitteln konnte. Doch die zierliche Maria fühlte sich durchaus wohl und beschützt, als Angelo sie jetzt umarmte und innig küsste. Sie legte ihren Kopf in den Nacken und erwiderte seinen Kuss voller Hingabe. Ihr war, als würde sich ihr ganzer Körper wie von selbst Angelo entgegenstrecken und sie konnte das Blut in ihren Adern pulsieren hören.

Als sie sich nach endlosen Minuten voneinander lösten, lachte Angelo laut auf. »Dass ausgerechnet ein Adler mir so den Kopf verdrehen muss. Und dann auch noch die Tochter des capitano* …«

(* Die kursiv gesetzten Begriffe werden im Glossar erklärt.)

»Dass ausgerechnet ein Drache mir so den Kopf verdrehen muss. Und dann auch noch ein Jockey«, konterte Maria.

Und damit war wohl genau das auf den Punkt gebracht, was das einzige Handicap ihrer ansonsten so wunderbaren Beziehung darstellte: Maria Morelli gehörte zur contrada dell’ aquila, zum Stadtviertel des Adlers, und Angelo Barucci war in der contrada del drago, dem Stadtviertel des Drachen, geboren. Damit war eine Heirat von vornherein ausgeschlossen. Eigentlich. Doch zum Glück lebten sie ja nicht mehr im 19. Jahrhundert. Und deswegen stand der Termin für ihre Hochzeit in neun Monaten auch schon fest.

»Okay, unentschieden«, sagte Angelo grinsend und zog Maria mit sich fort, ohne ihre Hand loszulassen.

Der Tag neigte sich bereits seinem Ende zu und durch die kleinen Fenster fiel nur noch wenig Sonnenlicht. Die dunkle Holzvertäfelung an den Wänden des langen Flurs, der zu Marias Zimmer im ersten Stock des Palazzo führte, verschluckte den letzten Rest Tageslicht und sorgte für eine diffuse Stimmung, der die etwa dreißig großformatigen Ölgemälde in schweren goldenen Rahmen auch nichts entgegensetzen konnten.

Es war nun wahrlich nicht das erste Mal, dass sie Hand in Hand hier entlanggingen, aber zum ersten Mal fiel Angelo eins der Porträts in Marias Ahnengalerie besonders auf. Es war das Bildnis einer wunderschönen jungen Frau. Der intensive, leicht melancholische Blick aus den gemalten braunen Augen zog ihn plötzlich in seinen Bann. Vielleicht lag es an dem warmen Licht, das genau in diesem Moment von dem gegenüberliegenden Fenster auf das Porträt fiel und ihm eine gewisse Lebendigkeit verlieh. Vielleicht auch an etwas ganz anderem. Auf jeden Fall blieb Angelo stehen und betrachtete das Antlitz der jungen Frau, das ihm auf merkwürdige Weise vertraut schien.

»Sonderbar«, sagte er leise.

»Was ist denn sonderbar?«, wollte Maria wissen.

»Hängt dieses Bild schon immer hier?«

Maria lachte leise. »Ja, seit …« Sie beugte sich vor und kniff ein wenig die Augen zusammen, um trotz der Dunkelheit die kleine Inschrift auf der glänzenden Messingtafel lesen zu können, die unter dem Porträt angebracht war. »… seit ungefähr hundertdreißig Jahren. Hier steht es, siehst du?« Sie deutete auf das Schild.

 

Eva Maria Morelli, 1879.

 

»Wer ist das?«, fragte Angelo, während er sich nun ebenfalls mit zusammengekniffenen Augen vorbeugte, um die Schrift zu entziffern.

»Wieso? Gefällt sie dir?«, fragte Maria kokett.

»Sie sieht dir ähnlich.«

»Und nicht nur das«, sagte Maria. »Sie trug außerdem den gleichen Namen wie ich.«

Angelo richtete sich wieder auf. Er konnte in diesem diffusen Licht ohnehin nicht erkennen, was auf der kleinen Tafel stand. Also ließ er es sich wohl besser von seiner Verlobten erklären. »Sie hieß Maria?«

»Nun, genau genommen hieß sie Eva Maria Morelli. Sie wurde 1858 als einzige Tochter meines Urururundsoweitergroßvaters geboren. Außerdem hatte er noch zwei Söhne.« Maria betrachtete nun selbst das Bild ihrer Vorfahrin. »Das Porträt stammt von 1879. Es muss also kurz vor ihrem Tod gemalt worden sein. Sie wurde nämlich nur zweiundzwanzig Jahre alt.«

»Warum? War sie krank?«

Maria schüttelte den Kopf. »Nein«, antwortete sie, »sie erhängte sich an einem Baum im Garten. Und zwar an dem Tag, der eigentlich ihr schönster werden sollte.«

Angelo runzelte die Stirn. »Das ist aber eine gruselige Geschichte«, meinte er. »Wieso hat sie das getan?«

»Sie liebte einen jungen Mann, sein Name fällt mir gerade nicht ein, aber ihr Vater war gegen die Verbindung, obwohl er ihr, aus welchen Gründen auch immer, zugestimmt hatte. Jedenfalls war der Verlobte Eva Marias auch Jockey. So wie du. Er stammte aus der contrada della pantera und …«

Angelo unterbrach sie: »Ein Panther! Ausgerechnet der Erzfeind des Adlers!«

Maria schüttelte den Kopf. »Nein, damals waren der Panther und der Adler noch Verbündete. Sie wurden erst durch diese Geschichte zu Feinden.«

Angelo nickte verstehend. Er wusste, wie es lief: Manchmal waren es uralte Fehden, an die sich kaum noch jemand erinnerte, die für Feindschaft zwischen den einzelnen Stadtvierteln sorgten.

Maria fuhr fort: »Auf jeden Fall war Eva Marias Vater der capitano des Adlers. Und ihr Verlobter sollte für den Panther den Palio gewinnen.«

»Das ist ja verrückt«, sagte Angelo grinsend. »Das ist ja genau wie bei uns!«

Maria lächelte versonnen. »Ja, du hast recht! Das ist mir noch gar nicht aufgefallen.« Sie schüttelte den Kopf, als könnte sie es nicht recht glauben. »Auf jeden Fall hat meiner Familie das natürlich nicht gepasst. Es heißt, mein Urururundsoweitergroßvater habe seinen Schwiegersohn in spe mit unlauteren Methoden um den Sieg gebracht. Das wiederum hat den jungen Mann – und mit ihm natürlich die gesamte contrada della pantera – derart erzürnt, dass er die Verlobung aufkündigte und in einer Nacht-und-Nebel-Aktion die Stadt verließ. Eva Maria hat ihn nie wiedergesehen …«

»… und hängte sich aus Trauer auf«, beendete Angelo die Geschichte an Marias Stelle.

Maria nickte. »Ja, am 28. August 1880. Zwölf Tage nach dem Palio. Dem Tag, an dem eigentlich die Hochzeit stattfinden sollte.«

»Verrückt«, sagte Angelo nachdenklich. Dann kam ihm ein weiterer Gedanke. »Wo hängte sie sich denn auf?«, fragte er und war sich gleichzeitig nicht sicher, ob er die Antwort überhaupt hören wollte. »Doch nicht etwa hier in diesem Garten?«

Marias Nicken bestätigte seine Befürchtungen. »Doch, genau hier.« Mit einer Kopfbewegung wies sie auf das kleine Fenster, hinter dem im Dämmerlicht die Wipfel der uralten Bäume im Garten der Familie Morelli vom Wind sanft hin und her bewegt wurden. »Angeblich hat der Baum danach an jedem 28. August eines Jahres all seine Blätter auf einmal verloren.«

»Das hört sich wirklich schauerlich an!«

»Und es wird noch schauerlicher«, sagte Maria mit unheilvoller Stimme. »Denn es heißt, Eva Marias Geist habe fast vierzig Jahre lang, und zwar genau bis zum Todestag ihres Vaters, in diesen Mauern gespukt. Erst danach fand ihre geschundene Seele Ruhe.«

»Uaaaa«, machte Angelo, hob die Hände und verzog das Gesicht zu einer Grimasse.

In diesem Augenblick schwang hinter ihnen das Fenster auf und die leichte weiße Gardine davor wehte im Abendwind wie der Rock einer Tänzerin, die sich in den Armen ihres Liebsten dreht.

Maria und Angelo zuckten zusammen und wandten sich erschreckt um, als erwarteten sie, jeden Moment Eva Marias Geist im weißen Gewand durch das offene Fenster hereinschweben zu sehen. Dann lachten sie, ein wenig verunsichert, und Maria schloss das Fenster wieder.

Der dunkle Geist des Palio
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