Die Farbe des Himmels,

die Kraft des Meeres.

Motto der Welle (onda)

 

 

12

 

Dienstag 14. August, zwei Tage vor dem Palio

 

Als Maria am nächsten Morgen erwachte, hatte sie Kopfschmerzen und einen steifen Nacken. Sofort waren alle Erinnerungen an den gestrigen Abend wieder da: das Proberennen; Angelos Sturz, von Fernando verursacht; der Streit mit ihrem Verlobten.

Noch auf dem Nachhauseweg hatte sie mehrfach versucht, Angelo auf seinem Handy zu erreichen, doch er hatte es ausgeschaltet. Da schlenderte sie durch ihre festlich geschmückte Heimatstadt, überall in den Straßencafés saßen fröhliche junge Menschen, aßen, tranken und lachten bis weit nach Mitternacht, und sie selbst fühlte sich am Boden zerstört. Wie gern hätte sie mit Angelo an einem dieser Tische gesessen und den Sternenhimmel genossen.

Den einen oder anderen Gesprächsfetzen hatte sie aufgeschnappt. Darunter auch eine Diskussion über die Vorkommnisse beim Proberennen. Ein junger Mann ereiferte sich über diese fantini, die nichts Besseres waren als bezahlte Söldner, die ihr Fähnchen nach dem Wind richteten. Ungebildelte, oftmals dumme, auf jeden Fall aber unehrliche Burschen, die er aus tiefstem Herzen verachtete. Und dieser völlig unnötige Unfall zeigte seiner Meinung nach nur, aus welchem Holz diese bastardi geschnitzt waren.

Maria war kurz davor, dem arroganten Schnösel ihre Meinung zu sagen, besann sich aber im letzten Moment. Irgendwie hatte er ja recht. Zumindest, was Fernando anging.

Jetzt schüttelte Maria die Gedanken an den gestrigen Abend ab und schlug ihre Bettdecke zurück. Was sie nun dringend brauchte, war eine heiße Dusche. Vielleicht gingen davon ja auch die Kopfschmerzen weg.

 

Es dauerte immer eine Weile, bis das Wasser, das aus der uralten Leitung kam, heiß wurde, und Maria vertrieb sich die Zeit, indem sie ihr Gesicht über dem Waschbecken mit Wasser kühlte. Ihre Augenlider fühlten sich geschwollen an. So, als hätte sie die ganze Nacht über geweint.

Als die ersten Nebelschwaden über die Duschwandabtrennung waberten, schlüpfte Maria unter den heißen Wasserstrahl und genoss die Wärme, die sie durchströmte. Wie erhofft, löste sich ein Teil ihrer Verspannungen. Doch auch unter der heißen Dusche konnte sie an nichts anderes denken als an den Streit mit Angelo. Obwohl sie verstand, warum er aufgebracht reagiert hatte, fühlte sie sich durch seine ablehnende Haltung verletzt. Schließlich hatte nicht sie ihn vom Pferd gestoßen. Und ihr Vater hatte ihr noch gestern, während sie ihn zur Rede stellte, versichert, dass Fernando nicht auf sein Geheiß hin so übertrieben hart in dieses Proberennen gegangen war. Im Gegenteil. Filippo hatte sich den Jockey nach dem Rennen zur Brust genommen und ihm gesagt, was er von seiner Aktion hielt: nichts!

Doch Angelo hatte sie so brüsk zurückgewiesen, als wäre Maria an allem schuld. Dabei hatte sie ihn nur beruhigen und ihm ihre Loyalität versichern wollen. Sie wusste zwar, dass er aufbrausend sein konnte und sie hätte ihm auch sofort verziehen, wenn er sich wenigstens anschließend bei ihr gemeldet und um Verzeihung gebeten hätte. Aber sie hatte bis jetzt noch nichts von ihm gehört und schlimmer noch, er hatte sogar sein Handy ausgeschaltet!

An diesem Punkt ihrer Überlegungen angekommen, spürte Maria wieder den Wunsch zu weinen in sich aufsteigen. Teils aus Wut, teils aus dem Gefühl heraus, zutiefst gekränkt worden zu sein, teils aber auch aus Angst davor, dass sich die Sache nicht mehr so leicht einrenken ließ. Sie brauchte nur an ihre Vorfahrin Eva Maria zu denken. Aber sie gehörte nun einmal nicht zu den Frauen, die bei jeder Gefühlsregung zu heulen anfingen. Selbst wenn sie es manchmal vielleicht gern wollte.

Energisch drehte sie den Wasserhahn zu und die heiße Quelle versiegte. Sie öffnete die gläserne Duschabtrennung, griff nach dem Handtuch, das an einem Haken an der Wand hing und wollte es sich gerade um die Brust wickeln, als ihr Blick auf den Spiegel über dem Waschbecken fiel und sie mitten in der Bewegung innehielt. Ihr Herz begann zu rasen und ihre Hände zitterten plötzlich.

Wie von Geisterhand geschrieben stand auf dem vom Wasserdunst beschlagenen Spiegel der Schriftzug:

 

STATI ATTENTI, MARIA!

SEI GEWARNT, MARIA!

 

Maria lief in ihrem Zimmer auf und ab wie ein Raubtier im Käfig. Was hatte das alles zu bedeuten? Wer ließ ihr eine solche Warnung zukommen? Oder war der Satz eher als Drohung zu verstehen? Wer konnte das getan haben? Wer hatte überhaupt die Möglichkeit dazu? War Gianluca etwa noch einmal in ihr Haus eingedrungen? Hatte sich seine Liebe zu ihr jetzt endgültig in tödlichen Hass verkehrt? Es gab kaum eine Frage, die Maria sich nicht stellte. Selbst die Möglichkeit, dass es eine Nachricht aus dem Jenseits war, verfasst von Eva Maria, zog sie in Erwägung, wies sie dann aber entschieden wieder von sich. Nein, an so etwas konnte sie einfach nicht glauben.

Je länger Maria nachdachte, desto absurder kam ihr das alles vor. Hatte sie sich die Schrift womöglich nur eingebildet?

Sie zögerte, allerdings nur kurz. Vor wenigen Minuten hatte sie das Badezimmer mehr oder weniger fluchtartig verlassen. Doch jetzt wollte sie es genau wissen.

Vor der Tür zum Bad atmete sie einmal tief durch, dann stieß sie die Tür auf und schaute unverwandt auf den Spiegel. Der Nebel vom Duschen hatte sich bereits verflüchtigt. Und mit ihm die Schrift. Doch als sie jetzt gegen den Spiegel hauchte, wurde ein Teil des Textes wieder sichtbar:

 

STATI AT…

 

Sie hatte sich also nichts eingebildet. Doch falls Angelo auf die Idee kommen würde, ihr zu unterstellen, sie hätte sich das alles nur ausgedacht, wollte sie auf Nummer sicher gehen. Deshalb schaltete sie die Dusche zum zweiten Mal an diesem Morgen ein, ging dann in ihr Zimmer und kehrte mit ihrem Handy in der Hand zurück.

Der neuerliche Duschnebel ließ die Schrift abermals deutlich hervortreten. Maria stellte sich mit ein wenig Abstand vor den Spiegel, drehte ihr Handy und drückte auf den Auslöser. Hoffentlich konnte man die Schrift auf dem Foto erkennen! Am besten schickte sie das Foto direkt an Angelo, verbunden mit der Bitte, sich möglichst schnell bei ihr zu melden. Doch als sie jetzt das Foto aufrief und es betrachtete, lief ihr ein Schauer über den Rücken und ihre Nackenhaare sträubten sich wie bei einem verängstigten Tier. Sie hatte wahrhaftig keinen Faible für Übersinnliches. Doch das, was sie nun sah, ließ sie an ihrem Verstand zweifeln: Auf dem Foto konnte man zwar kaum die Schrift auf dem Spiegel ausmachen, dafür blickten ihr zwei Gesichter aus dem fotografierten Spiegel entgegen. Ihr eigenes, versteckt hinter der Handykamera, und ein schemenhaft Verschwommenes, das ihr, der Fotografin, über die Schulter zu blicken schien. Ein Gesicht, wie aus dem Wasserdunst geformt, der in dem Badezimmer in der Luft hing. Es war eindeutig das Gesicht einer traurigen jungen Frau: Eva Maria.

 

Maria glaubte nicht, dass Angelo auch nur ein Wort von dem, was sie auf seine Mailbox gesprochen hatte, verstehen würde. Aber zumindest die Dringlichkeit eines Rückrufs konnte er ihrem Schluchzen wohl entnehmen. Jetzt wollte sie allerdings keine Sekunde länger in diesem Spukhaus bleiben. Eilig raffte sie ihre Unterlagen zum Lernen zusammen und hetzte dann durch den dunklen langen Flur, vorbei an der Ahnengalerie und dem Porträt der jungen Frau, die sie vor wenigen Minuten so abgrundtief erschreckt hatte. Den Blick hielt sie gesenkt. Sie wollte Eva Marias Antlitz nicht so schnell wiedersehen. Am liebsten wollte sie es niemals wiedersehen – weder als Bild an der Wand und erst recht nicht in ihrem Badezimmer!

Maria hastete weiter. Kurz vor dem Treppenabsatz lag das Schlafzimmer ihres Vaters. Gerade als sie daran vorbeigehen wollte, schwang die Tür vor ihr lautlos auf und eine weiße Gestalt trat ihr unvermittelt in den Weg.

Mit einem entsetzten Aufschrei ließ Maria ihre Papiere fallen, als sie der Silhouette einer jungen Frau gewahr wurde.

Auch Antonia, die einen Stapel frisch gewaschener, gebügelter und gestärkter weißer Leinentücher auf den Armen trug, zuckte kurz zusammen. Dann hatte sie sich wieder gefangen. »Signorina Morelli? Alles in Ordnung?«, erkundigte sie sich.

Mit zitternden Händen hob Maria ihre Arbeitsblätter auf. »Jaja«, antwortete sie. »Selbstverständlich ist alles in Ordnung. Ich habe mich nur erschreckt.«

»Das tut mir leid«, sagte Antonia. »Ich wollte Sie ganz bestimmt nicht erschrecken.«

Maria zwang sich zu einem Lächeln, das ihr mehr schlecht als recht gelang. »Kein Problem, Antonia. Ich danke Ihnen«, fügte sie hinzu, als das Dienstmädchen ihr den letzten Bogen Papier vom Boden reichte. Dann setzte sie hoch erhobenen Hauptes ihren Weg fort.

Antonia sah ihr mit sorgenvoller Miene hinterher.

 

Als Maria ihren Lieblingsplatz im Garten erreichte, legte sie ihre Mappe neben sich auf die Bank, schloss für einen Moment die Augen und reckte ihr Gesicht der wärmenden Sonne entgegen. Sie spürte, wie sie sofort ruhiger wurde. Bei diesem Wetter war es schwer, an Geister zu glauben. Trotzdem konnte sie das Bild der wie durchscheinend wirkenden jungen Frau, die ihr über die Schulter schaute, nicht aus dem Kopf kriegen. Sie öffnete die Augen und ihr Blick fiel auf den Baum, der seine kahlen Äste wie Hilfe suchend dem Himmel entgegenstreckte. Sie würde mit Signore Zanolli, dem Gärtner, darüber reden müssen. Gewiss hatte er eine logische Erklärung dafür, warum der Baum im Hochsommer all seine Blätter abwarf. Und gewiss würde Angelo ihr sagen können, warum sich aus dem Wasserdampf der Dusche ausgerechnet das Gesicht von Eva Maria geformt hatte. Ganz bestimmt gab es für all das eine logische Erklärung!

Maria seufzte und öffnete ihr Krankenpflegebuch an einer x-beliebigen Stelle; es konnte sicherlich nicht schaden, wenn sie das eine oder andere schon mal durchlas. Schließlich sollte sie in zwei Wochen ihre Ausbildung zur Krankenschwester beginnen. Sie freute sich darauf, auch wenn sie die freie Zeit seit dem Abitur genossen hatte. Doch in den letzten Wochen waren ihr die Tage immer länger vorgekommen. Es wurde Zeit, sie wieder mit etwas Sinnvollem zu füllen. Müßiggang lag ihr einfach nicht.

Teufelsgrinsen. Umschreibt umgangsprachlich das Symptom Risus sardonicus, ein verzerrtes Grinsen durch Krämpfe der Gesichtsmuskulatur, bei Befall durch Clostridiun tetani, also Tetanus oder Wundstarrkrampf.

Maria studierte das Fallbeispiel, das in dem Buch mit dem Titel Pflege heute unter dem Text abgebildet war. Ein vielleicht elf- oder zwölfjähriger Junge hatte den Mund sichtbar unfreiwillig zu einem wahrhaftig diabolischen Grinsen verzerrt. Musste sie das Lehrbuch ausgerechnet an dieser Stelle öffnen? Es schien, als würde sie heute vom Reich der Schatten geradezu verfolgt! Geistererscheinungen, satanisches Grinsen. Was würde als Nächstes kommen?

Luigi.

Er schleppte sich mit einer riesigen Gießkanne ab, die – wenn sie bis oben hin gefüllt war – vermutlich genauso viel wog wie der Junge, der sie trug. Und nach dem Ächzen und Stöhnen zu urteilen, das er von sich gab, war sie bis oben hin voll.

»Puh«, machte Luigi, nachdem er die Kanne vor Marias Füßen abgestellt hatte, und ließ sich auf die Bank plumpsen.

Maria klappte ihr Buch zu und fragte: »Was hast du denn da drin?«

»Mein selbst erfundenes Pflanzenwachstumsmittel.«

»Und wohin gehst du damit?«

»Zu den Erdbeeren hinten im Beet. Hab ich doch erzählt. Ich will ein Mittel finden, das sie schneller wachsen lässt.«

»Und? Sind sie schon gewachsen?« Maria warf einen skeptischen Blick auf die stinkende Brühe, die vor ihr in der Kanne hin und her schwappte. Vielleicht sollte sie dieses Jahr mal auf Erdbeeren verzichten? Zumindest auf die aus dem eigenen Garten.

Luigi zuckte mit den Schultern und blickte stur geradeaus, während er antwortete: »Ich glaube, ich habe noch nicht die richtige Mischung gefunden.«

Maria erinnerte sich, dass dieses Wachstumsexperiment nicht das erste war, das den Jungen beschäftigte. Einmal hatte er versucht, eine besondere Gattung Regenwürmer zu züchten, die besonders groß werden sollten. Ungefähr so wie Schlangen. Allerdings hatte er das Projekt nach kurzer Zeit eingestellt. Ohne Ergebnis.

»Ich hab eine tote Maus gefunden«, verkündete Luigi jetzt mit leuchtenden Augen. »Willst du mal sehen?« Er griff bereits in seine Jackentasche.

Maria, die allein bei der Vorstellung, der Junge trage eine tote Maus in seiner Jacke mit sich herum, Schweißausbrüche bekam (und außerdem der Meinung war, dass sie für einen einzigen Tag genug Tote gesehen hatte), suchte hektisch nach einer Ausrede, um sich diesen Leichnam nicht auch noch anschauen zu müssen. Deshalb war sie außerordentlich froh, als der Ruf »Luigi!« durch den Garten schallte und ihr eine Antwort ersparte.

Luigi jedoch verzog enttäuscht das Gesicht.

»Dein Vater ruft dich«, stellte Maria überflüssigerweise fest.

»Hab ich gehört«, nuschelte Luigi.

In diesem Moment erschien Signore Zanolli, der bei dem Anblick seines Sohnes neben der Tochter des Hauses ein strenges Gesicht aufsetzte. »Luigi, ich habe dir doch gesagt, dass du nicht allein hier rumlaufen sollst. Guten Tag, Signorina.«

»Guten Tag, Signore Zanolli. Wie geht es Ihnen?«

»Oh danke, sehr gut. Und Ihnen?« Signore Zanolli war, ganz im Gegensatz zu seinem Sohn, immer ein wenig verlegen, wenn er mit Maria oder gar mit Signore Morelli sprach. Auch jetzt knetete er schüchtern seine Finger.

»Mir geht es auch gut. Und ich bin sehr froh, dass ich Sie treffe«, antwortete Maria und beobachtete interessiert, wie Signore Zanollis Gesicht die Farbe wechselte. Als er nichts erwiderte, fuhr sie fort: »Dieser Baum …« Sie deutete auf das Gerippe aus kahlen Ästen. »… haben Sie eine Ahnung, was mit ihm los ist?«

Signore Zanollis Blick huschte für einen Augenblick zu Luigi, der jetzt angelegentlich seine leeren Hände begutachtete, dann wandte er sich wieder an Maria. »Ehrlich gesagt weiß ich es auch nicht, Signorina, aber offensichtlich ist er krank.«

»Ja, das denke ich auch«, sagte Maria und versuchte, nicht zu viel Ungeduld in ihre Stimme zu legen. »Was für eine Krankheit könnte das denn sein?«

Jetzt zuckte der Gärtner die Schultern. »Vielleicht ein Befall von irgendwelchen Schädlingen …«

»Gibt es dafür Anzeichen?«

»Ich werde es mir mal genauer ansehen«, erklärte Signore Zanolli.

Maria nickte. »Das wäre nett. Und ich wäre Ihnen auch dankbar, wenn Sie mir anschließend sagen könnten, was Sie herausgefunden haben.«

»Natürlich, Signorina«, versprach Signore Zanolli und schaute dabei wieder zu seinem Sohn. »Komm jetzt, Luigi. Wir wollen Signorina Morelli nicht länger stören.«

»Ich störe Maria nicht, stimmt’s?«, erwiderte Luigi, aber trotzdem folgte er seinem Vater ohne weitere Widerworte, wobei er sich weiterhin mit der schweren Gießkanne abschleppte.

Maria blickte den beiden lange hinterher. Besonders beruhigend klang die Antwort des Gärtners auf ihre Frage nach dem Baum nicht gerade. Aber vermutlich musste sie sich für den Augenblick damit zufriedengeben.

Sie griff nach ihrem Lehrbuch, legte es dann jedoch nur auf den Schoß, ohne hineinzublicken. Angelo hatte immer noch nicht zurückgerufen und allmählich wich Marias Sorge und Verletztheit einer unbändigen Wut. Was bildete sich dieser Idiot eigentlich ein? Wieso glaubte er, er könne so mit ihr umspringen? Sie hatte das unbändige Bedürfnis, mit jemandem über das zu reden, was ihr widerfahren war. Und natürlich dachte sie dabei in erster Linie an Angelo. Doch offensichtlich hatte er zurzeit Wichtigeres zu tun.

Vielleicht sollte sie mit ihrem Vater reden? Aber auch diese Idee schob sie schnell beiseite. Erstens war Filippo gerade ebenfalls nur mit dem Palio beschäftigt – auch jetzt musste er sich wieder auf die heute bevorstehende Kerzenprozession vorbereiten –, und zweitens konnte sie sich genau vorstellen, wie ihr Vater auf die Geschichte reagieren würde. Und auf diese Mischung aus Besorgnis über ihren Geisteszustand und Geringschätzung für ihre blühende Fantasie konnte sie getrost verzichten. In Momenten wie diesen vermisste sie ihre Mutter am meisten. Würde sie noch leben, könnte sie ihr bestimmt helfen! Eine Weile lang überlegte Maria, ob sie Claudia anrufen sollte. Doch auch diese Idee verwarf sie schnell wieder. Am Telefon erklären zu müssen, was in den letzten Tagen alles geschehen war, konnte sie sich ebenso wenig vorstellen. Vermutlich würde ihre Freundin sie nur für verrückt erklären, wenn sie es versuchte.

Entschlossen legte Maria ihre Arbeitsunterlagen zusammen. Sie konnte sich heute sowieso auf nichts konzentrieren. Wenn Angelo meinte, er könnte sie einfach so hängen lassen, dann hatte er sich verdammt noch mal geirrt.

Maria wusste, wo sie ihren Verlobten finden würde. Und dort würde sie ihn zur Rede stellen. Ob der Ort dafür nun passend war oder nicht. Basta!

 

Trommelwirbel und Trompeten begleiteten Maria, als sie sich gemeinsam mit den Mitgliedern ihrer Contrade – die meisten von ihnen in bunten Kostümen mit dem Wappen des Adlers – dem Dom näherte, wo der cencio aufgehängt werden sollte.

An der Kerzenprozession nahm sie normalerweise sehr gern teil. Obwohl es sich genau genommen nur um die Generalprobe für den Festzug am Tag des Palio handelte, genoss sie das Farbenmeer und die festliche Stimmung, während sich die Fahnenschwinger, Trommler und Repräsentanten der Contraden in ihren bunten Gewändern ihren Weg durch die Gassen Sienas bahnten, gefolgt von dem reich geschmückten, ochsenbespannten Triumphwagen, auf dem die Siegertrophäe, das Seidenbanner, ins Gotteshaus gebracht wurde. Wer nicht aus Siena stammte, der mochte die Kostüme der Männer, die mit kurzen Samtröckchen, passenden Strumpfhosen und voluminösem Kopfschmuck bekleidet waren, vielleicht albern finden. Für Maria gehörte dieses Erscheinungsbild zu dem größten Fest des Jahres einfach dazu.

Doch heute konnte sie das Spektakel nicht so recht genießen. Ständig drehte sie sich um und suchte in der Menschenmenge nach Angelos Gesicht. Sie hatte sich so viele Sätze zurechtgelegt, die sie ihm sagen wollte. Und sich bereits genüsslich seine Antworten ausgemalt, die selbstverständlich allesamt von Schuldeingeständnissen, Scham, Reue und Liebesschwüren handelten.

Zu Kreuze soll er kriechen, dachte Maria, während sie sich wie alle anderen vor dem Hochaltar des Doms aufstellte, auf dem jetzt die große weiße Kerze platziert wurde, die zuvor ebenfalls auf dem Ochsenkarren transportiert worden war. Gemeinsam mit Hunderten anderer verfolgte sie, wie das Seidenbanner mit dem Abbild der Madonna im Kirchenschiff aufgehängt wurde. Der Palio – das Objekt der Begierde.

Marias Objekt der Begierde stand, wie sie feststellen konnte, nur wenige Meter von ihr entfernt im Kreise seiner Anhänger aus der Contrade des Drachen. Und als würde er ihre Blicke spüren, drehte er sich in diesem Moment zu Maria um. Ihre Augen trafen sich. Sofort vergaß Maria alle zuvor so sorgfältig zurechtgelegten Sätze, als sie sah, wie sich sein Mund zu einem strahlenden Lächeln verzog. Nichts in seinem hübschen Gesicht deutete auf Wut oder Streit hin. Im Gegenteil schien ihr Anblick ihn zutiefst zu erfreuen. Auf der Stelle verpuffte ihr Zorn und ließ nichts weiter zurück als Verständnislosigkeit. Sie hatte geglaubt, Angelo würde ihr den Streit während des Proberennens übel nehmen. Vielleicht weil er glaubte, sie hätte gegen ihn Partei ergriffen. Doch jetzt kam es ihr eher so vor, als wäre er erleichtert, sie zu sehen. Und als hätten ihn ähnliche Befürchtungen gequält wie sie: dass sie ihm sein Verhalten nachtragen würde.

In diesem Moment hätte Maria nichts lieber getan, als sich in seine Arme zu stürzen. Doch zwischen ihnen standen Dutzende mehr oder weniger fremde Menschen, der Ort und der Anlass waren denkbar ungeeignet für jede Form von Aussprache. Sie musste sich also gedulden und bis zum Ende der Zeremonie warten.

 

Als Angelo dann endlich vor ihr stand, war ein Teil von Marias Streitlust zurückgekehrt. Immerhin hatte sie mehrere Nachrichten auf seiner Mailbox hinterlassen und wiederholt um Rückruf gebeten. Doch nicht einmal ihre Tränen hatten ihn dazu bewogen, sich bei ihr zu melden! Mit vor der Brust verschränkten Armen erwartete sie ihn auf dem Platz vor dem Domportal, äußerst gespannt zu erfahren, welche Begründung er für sein Verhalten hatte.

Strahlend und mit ausgestreckten Armen kam er auf sie zu, doch Maria gab sich unerbittlich und hielt ihm zur Begrüßung lediglich die Wange hin.

»Was ist?«, wollte Angelo wissen, dem Marias Reserviertheit natürlich nicht entging.

All die wunderbaren Sätze, die Maria sich zurechtgelegt hatte, waren plötzlich aus ihrem Kopf verschwunden. Stattdessen fragte sie einfach: »Warum hast du nicht zurückgerufen?«

»Zurückgerufen?« Angelo runzelte die Stirn. »Hast du denn versucht, mich zu erreichen?«

»Ich tue nichts anderes!«

»Mein Handy ist kaputt.«

Diese Antwort nahm Maria allen Wind aus den Segeln, obwohl sie für eine Sekunde nicht wusste, ob sie ihm glauben sollte. Doch hatte er ihr während der Dauer ihrer Freundschaft je einen Anlass gegeben, an seinen Worten zu zweifeln?

»Du hättest dich trotzdem irgendwie bei mir melden können«, antwortete sie und ihre Stimme klang schon etwas weicher.

»Ja, du hast recht«, gab Angelo zu. »Aber weißt du, so kurz vor dem Palio wollen natürlich alle was von mir. Ich hatte keine einzige ruhige Minute.«

Und wie zur Bestätigung seiner Worte legte ihm in diesem Augenblick der capitano del drago die Hand auf die Schulter. »Kommst du, Angelo? Wir müssen …«

Maria seufzte.

Angelo zuckte die Schultern. »Es tut mir leid«, sagte er leise. »Ich komme später bei dir vorbei. Dann reden wir, ja?«

Sie nickte stumm.

»Ich liebe dich«, flüsterte Angelo ihr ins Ohr – und war im nächsten Augenblick auch schon wieder verschwunden.

»Ich liebe dich auch«, erwiderte Maria leise.

Aber es war schon niemand mehr da, der ihre Antwort hören konnte.

Der dunkle Geist des Palio
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