Als Erste die Selva auf dem Campo.
Motto des Waldes (selva)
14
Dienstag, 14. August, abends, zwei Tage vor dem Palio
Meist wird nach der Akutphase eine Koronarangiografie durchgeführt, um festzustellen, ob das Risiko eines Zweitinfarkts durch PTCA gesenkt werden kann. Hyperchloesterinämie und Hypertonie als Risikofaktoren müssen konsequent behandelt werden.
Schwungvoll klappte Maria das Buch zu. Sie hatte diesen verdammten Absatz jetzt dreimal gelesen, ohne auch nur ein einziges Wort zu verstehen. Es war wohl besser, einzusehen, dass sie sich im Augenblick nicht auf die Pflege bei Herzerkrankungen konzentrieren konnte, solange ihre eigene Herzerkrankung nicht geheilt war.
Wo, zum Henker, blieb nur Angelo? Er wollte schon vor einer halben Stunde hier sein! Sie musste sich selbst zu mehr Verständnis ermahnen, dass er jetzt, zwei Tage vor dem Palio, eine Menge Dinge zu erledigen hatte.
Ungehalten stieß Maria die Luft aus und stand von ihrem Bett auf. Mit etwas Abstand kamen ihr die Ereignisse an diesem Morgen selbst ein wenig unglaubwürdig vor. Sicher würde ihr Angelo irgendeine plausible Erklärung anbieten: Lichtreflexe, Spiegeleffekte, spezielle Eigenschaften von Wasserdampf … Was auch immer. Und bestimmt würde es ihr besser gehen, sobald sie ihm alles erzählt hatte und er ihre Ängste und Sorgen mit einem liebevollen Lächeln hinwegwischte und ihr versicherte, dass nichts und niemand sie jemals trennen würde. Nicht einmal ein Geist. Und schon gar kein belangloses Pferderennen.
Voller Ungeduld schritt sie auf und ab, öffnete schließlich ihre Zimmertür und machte sich auf den Weg in die Eingangshalle, damit sie Angelo öffnen konnte, sobald er klingelte.
Der lange Flur im ersten Stock des Hauses war stockfinster. Selbst bei Tageslicht herrschte hier nur Dämmerlicht. Doch jetzt war es draußen bereits dunkel und Maria konnte kaum ihre Hände vor den Augen sehen. Sie kannte diesen Flur seit ihren Kindertagen, trotzdem kam er ihr in diesem Moment unheimlich vor. Sie betätigte den Lichtschalter, der neben ihr an der Wand war, und mit einem surrenden Geräusch gingen an der Decke die modernen Spotlights an und beleuchteten die Porträts der Ahnengalerie.
Auch das von Eva Maria.
Zum ersten Mal bemerkte Maria, dass ihre Vorfahrin sie direkt anzublicken schien. Wie die Mona Lisa. Selbst als sie genau vor dem Gemälde stehen blieb, schienen Eva Marias Augen sie immer noch zu mustern. Allerdings fehlte ihr das Lächeln, das das berühmte Bild Leonardo da Vincis auszeichnete. Im Gegenteil sah Eva Maria sehr ernst aus. So als wüsste sie bereits von dem traurige Ende, das ihr bevorstand.
Völlig unpassend zu diesem Ernst drang jetzt ausgelassenes Gelächter durch die dünne Fensterscheibe zu ihr herauf. Neugierig wandte Maria sich um und blickte in den dunklen Garten hinab, der nur vom silbernen Mondlicht erhellt wurde. Erschrocken wich sie zurück in den Schatten. Um keinen Preis der Welt wollte sie von den beiden Menschen, die dort unten standen und sich so blendend miteinander unterhielten, entdeckt werden, während sie sie heimlich beobachtete! Maria drückte sich noch enger in den Schatten der Wand und versuchte gleichzeitig, weitere Blicke auf das Geschehen im Garten zu erhaschen.
Wie hübsch Antonia doch war. Ihr auffallend blondes Haar leuchtete mit dem Mondlicht um die Wette. Und selbst auf die Entfernung konnte sie sehen, wie sehr die junge Frau den Mann anhimmelte, der so dicht vor ihr stand, als wollte er sie jeden Augenblick in die Arme schließen.
Eifersucht und Misstrauen umklammerten Marias Herz wie ein Schraubstock. Da unten flirtete Angelo mit seiner Ex, während sie sehnsüchtig auf ihn wartete! Das liebende, sorgende Weib, voller Verständnis und Geduld! Während sie dachte, der arme Mann hätte so viel zu tun, dass er sie höchst widerwillig warten lassen musste, ließ er sich von der vollbusige Blondine schöne Augen machen! Dieser Mistkerl! Über dem vom Mondlicht beschienen Paar ragten die dürren kahlen Äste des Baums, an dem sich Eva Maria erhängt hatte, wie um Hilfe flehende Arme in den Nachthimmel.
Maria schauderte und wandte sich ab. Erneut fiel ihr Blick auf das Porträt der jungen Frau, die ihren Namen trug und die ihr so ähnlich sah und die … das gleiche Schicksal hatte? Sie machte zwei zaghafte Schritte auf das Ölgemälde zu und berührte es sacht. »Willst du mir eine Warnung zukommen lassen?«, flüsterte sie in der Stille des leeren Hauses und kam sich augenblicklich albern vor.
Pling machte es leise, die Deckenbeleuchtung erlosch und ließ Maria allein in der Dunkelheit zurück. Sie wandte sich um und wagte einen neuen Blick aus dem Fenster. Jetzt konnte sie die zwei Gestalten im Garten, die sich gerade voneinander verabschiedeten, noch besser erkennen. Angelo hielt Antonia an den Händen und küsste sie auf die Wangen. Ihre Finger entglitten einander nur widerwillig, fast streichelnd, hielten sie sich ein wenig zu lange fest.
Maria spürte, wie ihr Blut in Wallung geriet. Brüsk wandte sie sich ab und eilte zurück in ihr Zimmer.
Als es kurz darauf an der Haustür schellte, verschränkte sie ihre Arme vor der Brust und blickte starr geradeaus. Wenn es auf der Welt einen Menschen gab, den sie jetzt nicht sehen wollte, dann war das Angelo.
Doch Angelo gab nicht auf. Er schellte noch einmal und noch einmal. Schließlich zog er seinen eigenen Schlüssel aus der Tasche und schloss die Haustür selbst auf. Vielleicht schlief Maria schon und hörte ihn nicht? Dabei war seine Sehnsucht nach ihr so groß wie nie zuvor. Er musste sie endlich in die Arme schließen! Vorsichtig klopfte er nur Sekunden später an ihre Zimmertür.
Und als sie vor ihm aufschwang, gab sie den Blick auf eine wahre Rachegöttin frei. Mit zornesroten Wangen funkelte Maria ihn an und Angelos erster Gedanke war, wie schön sie aussah, wenn sie wütend war.
»Du Mistkerl!«, schleuderte sie ihm zur Begrüßung entgegen.
Überrascht riss er die Augen auf.
»Was bildest du dir eigentlich ein? Ich sitze hier und warte auf dich und du machst es dir im Mondenschein mit dem Hausmädchen gemütlich? Wie romantisch!«
»Wovon redest du?«
»Jetzt tu doch nicht so scheinheilig! Ich habe alles gesehen!« Wütend stemmte sie die Fäuste in die Taille.
»Was hast du gesehen?«
»Dich und Antonia! Küsschen hier, Küsschen da …«
»Wir haben geredet, sonst nichts.«
»Ach so, geredet habt ihr! Und dafür muss sie so nah vor dir stehen, dass sie dir ihre Titten fast ins Gesicht drückt, ja?«
Angelo schüttelte angewidert den Kopf. Er konnte es nicht leiden, wenn sich Maria so vulgär ausdrückte. »Ich weiß ehrlich gesagt nicht, was du von mir willst«, antwortete er mit beherrschter Stimme. »Natürlich rede ich mit Antonia, wenn ich sie sehe. Warum sollte ich das auch nicht tun? Immerhin waren wir fast ein Jahr zusammen. Da ist man nun mal vertraut miteinander. Aber sie hat mir ganz bestimmt nicht ihre ›Titten‹ ins Gesicht gedrückt.«
Maria schnaubte. »Vertraut«, stieß sie hervor »Ihr habt geflirtet! Verkauf mich doch nicht für blöd!«
Angelo verzog die Mundwinkel. »Ich verkaufe dich nicht für blöd. Und ja, kann sein, dass ich ein bisschen geflirtet habe, na und? Was ist denn schon dabei? Tust du das etwa nie? Das hat doch nichts mit uns zu tun! Schließlich bin ich nicht fremdgegangen, oder so. Maria …« Er streckte die Arme nach ihr aus.
Doch Maria wandte sich von ihm ab.
Angelo legte die Stirn in Falten. Das Letzte, was er jetzt gebrauchen konnte, war eine zickige Freundin, die ihm zusätzlich das Leben schwermachte. »Weißt du was?«, sagte er und seine Stimme hatte jegliche Wärme verloren. »Langsam reicht es mir. Erst dein Vater und jetzt du! Der Name Morelli ist noch lange kein Freifahrtschein für schlechtes Benehmen! Wenn du wieder zu Verstand gekommen bist, kannst du dich ja bei mir melden! Gute Nacht!« Er knallte die Tür hinter sich zu und Maria lauschte seinen energischen Schritten, die sich durch den Flur entfernten und sie allein zurückließen.
Erst jetzt fiel ihr ein, worüber sie eigentlich mit Angelo hatte reden wollen: Nicht Antonia war das Thema, das sie beschäftigte, sondern die Schrift auf dem Spiegel und das unheimliche Gesicht, das ihr erschienen war. Doch dafür war es nun zu spät. Dabei hatte sie Angelo eigentlich um Vorsicht bitten wollen. Denn vielleicht galt die Warnung ja ebenso ihm wie ihr? Und vielleicht befand er sich in großer Gefahr …