21

Drei Tage vor Weihnachten war es eine wahre Tortur, am späten Abend in einer Filiale von Debenhams einkaufen zu wollen.

Hawkins kämpfte sich durch die Menschenmassen, die alle viel zu sehr von dem weihnachtlichen Geplänkel in Anspruch genommen wurden, um an ihrer Unhöflichkeit Anstoß zu nehmen. Sie steuerte auf die Parfümabteilung zu, und der Sinatra-Schmalz wurde durch Bublé-Gesäusel ersetzt.

Sie machte rasch ihr Ziel ausfindig und stellte sich vor einem Make-up-Stand an, hinter einem genervten Paar, dessen vierjähriger Sohn lautstark darauf aufmerksam machte, dass er keine Lust auf Weihnachtseinkäufe hatte, auch wenn sein Vater die ganze Zeit versuchte, ihn zu beruhigen.

Die Mutter des Vierjährigen befand sich in einem intensiven Gespräch mit der Verkäuferin, derentwegen Hawkins gekommen war. Sie entschied, dass sie die beiden nicht unterbrechen wollte, denn gerade tippte die Verkäuferin den Preis von vier Parfümflaschen ein.

Es hatte keinen Sinn, eine Zeugin vorab zu verärgern, indem man ihr die Kommission versaute.

Kaum war sie ein paar Minuten untätig, befasste sich ihr Gehirn wieder mit dem aktuellen Fall. Der Tag war nur halb erfolgreich gewesen. Während die Techniker sich über den Laptop hermachten, hatten Hawkins und Connor Informationen über die beiden vorherigen Liebhaber Jessica Andertons eingeholt.

Der erste war ein ziemlich widerlicher TV-Moderator, der im Kinderprogramm auftrat. Er hieß Douglas Donald, auch Dee Dee oder Donald Doug genannt, und hatte ein felsenfestes Alibi, weil er die letzten beiden Wochen im Rahmen einer Big-Brother-Promi-Show eingeschlossen in einem Haus verbracht hatte. Er war außerdem der Favorit der Wettbüros für das morgige Finale.

Der zweite kam schon eher infrage. Anderton hatte nichts außer seinem Namen nennen können. Er hieß Thomas Evans und arbeitete als Motorrad-Kurier für eine Firma, die Jessica des Öfteren beauftragt hatte. Connor versuchte, seine aktuelle Adresse ausfindig zu machen, bislang aber ohne Erfolg.

Hawkins hatte sich inzwischen mit der Theorie angefreundet, dass der Mörder mindestens eins seiner Opfer in einem Chatroom im Internet kennengelernt hatte. Sie beauftragte Barclay damit, alle relevanten Personen zu fragen, ob die ersten beiden Opfer Internetforen besucht hatten. Nummer zwei, Tess Underwood, kam in dieser Hinsicht durchaus infrage, aber problematisch wurde die Theorie, wenn man sich das erste Opfer anschaute. Hawkins konnte sich nicht vorstellen, dass eine ältere Frau wie Glenis Ward schlüpfrige Internetseiten frequentiert hatte. Aber das konnte man ja nie wissen.

Wenigstens sorgten die neuesten Hinweise dafür, dass der heutige Bericht an Kirby-Jones über die Ermittlungsfortschritte diesen Namen wirklich verdiente.

Aber im Augenblick war der inspirierende Funke, den Hawkins immer spürte, wenn sie sich dem Durchbruch näherten, leider noch nicht da. Die meisten Menschen glauben, kriminalistische Arbeit hätte vor allem mit genauer Kenntnis der Gesetze oder besonderen Ermittlungsmethoden zu tun, aber sehr oft kam man der Wahrheit durch fleißiges Faktensammeln, Hartnäckigkeit und Intuition näher.

Und darauf hatte sie sich bisher immer verlassen.

Seit sie fünf Jahre alt war, war es ihr absolut logisch vorgekommen, im Falle eines Diebstahls oder der Beschädigung öffentlichen Eigentums zuallererst die Gleichaltrigen zu befragen, wenn man die Wahrheit herausfinden wollte. Einige ihrer Klassenkameraden hatten nachsitzen müssen, nachdem sie einer scheinbar bewundernden Antonia Hawkins ihre Tat gestanden hatten. Sie war nämlich schnurstracks zum Zimmer des Direktors gelaufen, um ihre Erkenntnisse weiterzugeben.

Sie war in der Schule nicht besonders beliebt gewesen.

Dieser angeborene Gerechtigkeitssinn hatte Hawkins dazu gebracht, Kriminalpsychologie zu studieren und sich dann für eine Karriere bei der Polizei zu entscheiden. Doch im Augenblick hätte sie ihre beruflichen Pflichten gern gegen etwas weniger Stressiges eingetauscht.

Vielleicht hatten die Mädchen in ihrer Klasse ja recht gehabt, als sie ihr zusammengeknüllte Zettel an den Kopf warfen, auf denen stand: Warum kämpfst du gegen die menschliche Natur?

Hawkins kam wieder in der Gegenwart an, als jemand ihr auf den Fuß trat. Der Mann war glücklicherweise recht klein, murmelte eine Entschuldigung und kämpfte sich schwer beladen mit Einkaufspaketen weiter durch die Menschenmasse.

Mit einem Mal fühlte sie sich schuldig, weil sie nicht zum Einkaufen gekommen war, und überlegte, ob sie die Gelegenheit nutzen sollte, um ein paar Geschenke zu besorgen. Nur für alle Fälle. Falls sie es doch noch zum Weihnachtsfest ihrer Eltern schaffte, sollte sie jedenfalls nicht mit leeren Händen dastehen. Diverse Geschenkideen kamen ihr in den Sinn: eine Kuscheldecke für ihre Schwester, Make-up für ihre Nichte, eine Heimanlage zum Bierbrauen für ihren Vater …

»Was kann ich für Sie tun?«

Hawkins drehte sich zum Tresen um und stellte fest, dass die Familie mit dem quengelnden Kind verschwunden war. Die lebhaft geschminkte Verkäuferin schaute sie ungeduldig an.

»Das können Sie vielleicht.« Sie zog ihre Marke hervor und warf erneut einen Blick auf das Namensschild der Verkäuferin: »Cherie Riley?«

Die Frau zögerte kurz. »Ja?«

»Gibt’s hier einen Ort, an dem wir uns ungestört unterhalten können?«

Cherie Riley fluchte leise vor sich hin, als sie den Code in das Zahlenschloss der Sicherheitstür dreimal eingeben musste, bevor es funktionierte. Sie hielt Hawkins die Tür auf und folgte ihr, so dass die beiden Frauen sich nun im Flur des Mitarbeiterbereichs gegenüberstanden. Betonwände zu beiden Seiten, Röhren unter der Decke, ein Ventilator der Klimaanlage surrte.

Riley war sehr schlank und, abgesehen von ihrem übertriebenen Make-up, absolut korrekt gestylt. Es gelang ihr ganz gut, gleichzeitig amüsiert und hilfreich zu erscheinen. Aber so argwöhnisch, wie sie Hawkins musterte, war dieser Besuch für sie keine große Überraschung.

Hawkins ließ sie als Erste das Wort ergreifen.

Riley schaute sich suchend um, als sollte das Schweigen ihrer Besucherin auf etwas hinweisen. Vielleicht bevorzugte sie einen diskreteren Ort oder wollte einfach nur einen Stuhl? »Wir können uns gern hier unterhalten.«

»Gut.«

Riley schaute sie fragend an. »Geht es um Jessica?«

»Ja. Wie gut kannten Sie sich?«

»Ich hab sie für ihre Fernsehauftritte geschminkt und so. Aber ich hab sie seit Juli nicht mehr gesehen. Ich weiß, dass sie tot ist, ich hab’s in den Nachrichten gehört.«

»Haben Sie sich zerstritten?«

»Ich dachte, wir wären Freundinnen, aber sie hat mich nur benutzt. Na ja, das ist ja nichts Ungewöhnliches.«

»Wir müssen uns mit einem ihrer Exliebhaber unterhalten, Thomas Evans. Wissen Sie, wo wir ihn finden?«

Riley trat nervös von einem Fuß auf den anderen. »Von solchen Sachen weiß ich nichts.«

»Ach was. Sie wussten sehr gut, dass Jessica Affären hatte. Sie müssen jetzt niemanden mehr schützen. Das ist doch seit Tagen in der Presse zu lesen.«

»Lassen Sie mich damit in Ruhe, ja? Ich will nichts davon wissen. Die Zeitungen machen einen fertig. Das hab ich selbst schon miterleben müssen.« Sie ging auf den Ausgang zu.

Hawkins trat ihr in den Weg. »Warten Sie. Sie könnten uns immerhin helfen, Jessicas Mörder zu finden.«

»Ich bin ihr nichts schuldig.« Riley versuchte, um sie herumzugelangen.

»Was ist mit den anderen Opfern? Der Mörder wird wieder zuschlagen. Kommenden Sonntag. Selbst wenn Evans nichts damit zu tun hat, müssen wir ihn ausfindig machen.«

»So kriegen Sie mich auch nicht.«

»Na gut«, bluffte Hawkins. »Wenn Sie nicht reden wollen, wird es ein anderer tun. Jemand wie Marcus De Angelo zum Beispiel. Die Zeitungen sind bestimmt ganz erpicht darauf, seine Story weiterzuspinnen. Und soweit ich weiß, haben Sie ihn ganz gut gekannt.«

Riley starrte sie entgeistert an. »Was?«

»Was glauben Sie denn, wie ich Sie gefunden habe? Marcus hat uns von Ihnen erzählt und auch davon, dass Sie Thomas Evans kennen. Wenn wir der Presse nichts Neues liefern, über das sie schreiben kann, wird sie eben Klatschgeschichten bringen.«

Einige Minuten später stand Hawkins auf der Straße vor dem Kaufhaus und suchte nach einer Möglichkeit, dem Getümmel der Einkaufslustigen zu entgehen. Es war fast acht Uhr abends, aber wenn sie es schnell in ihr Büro schaffte, saßen die meisten aus ihrem Team sicher noch an ihren Schreibtischen.

Überstunden anhäufen.

Sie entdeckte eine Seitengasse und bahnte sich ihren Weg darauf zu. Gleichzeitig dachte sie über ihr gerade geführtes Gespräch nach. Genau genommen hatte sie Cherie Riley dazu genötigt, ihr bestimmte Informationen zu geben. Vor allem, als sie ihr etwas unterstellte, das sie nur vage vermutet hatte. De Angelo hatte ihnen mitgeteilt, wo sie die frühere Stylistin von Jessica Anderton finden konnten, aber er hatte nichts davon erwähnt, dass sie persönlich involviert war. Formal betrachtet hatte Hawkins das auch nicht behauptet.

Aber jetzt hatten sie einen Hinweis, wo sie Thomas Evans finden konnten.

Riley hatte zwar keine Adresse nennen können, aber sie wusste, dass Evans vor einem halben Jahr nach Guildford gezogen war. Dank dieser Angabe konnten die Ermittler nun konkretere Nachforschungen anstellen.

Nach Rileys Angaben war Evans eine Art Nomade, der hier und da Jobs annahm, für die er sich bar bezahlen ließ. Das hatte natürlich den unangenehmen Effekt, dass er bei keiner Firma oder Behörde registriert war, was die Möglichkeit, ihn ausfindig zu machen, deutlich beeinträchtigte.

Aber genau das war nach Hawkins’ Meinung jetzt dringend erforderlich. Dieser Lebensstil und die Tatsache, dass er kürzlich noch Kontakt zu einem der Opfer gehabt hatte, machten ihn auf jeden Fall zu einem Verdächtigen.

Da es nur noch drei Tage bis zum voraussichtlich nächsten Mord waren, musste dringend ein Ermittlungserfolg her.

Der Adventkiller
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