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Die letzten Schritte waren die Hölle.
Er überquerte die Straße vor seiner Wohnung, ging durch das grelle Licht der Straßenlaterne und dann den Weg durch den Vorgarten. Für einen Außenstehenden sah er aus wie ein ganz normaler Nachtschwärmer am Neujahrsmorgen. Nichts anderes.
Nichts anderes.
Es war ihm gelungen, seine Haltung zu bewahren und sich fortzubewegen, langsam, aber stetig, den ganzen Weg zurück. Sein Instinkt hatte ihn geleitet, er hatte kaum registriert, dass er den Weg von ihrer zu seiner Wohnung zurücklegte. In dieser Nacht war ihm nicht bewusst geworden, wie lange es dauerte und welche Route er einschlug.
Als er den Eingang erreichte und die Tür aufschloss, brach alles in ihm zusammen.
Er stolperte durch den Flur, und die Tränen schossen ihm in die Augen. Er ging in die Küche. In einen Raum, in dem rein gar nichts von ihr vorhanden war, nicht die geringste Spur.
Es hatte nichts geholfen. Sie waren immer noch da.
Die vergifteten Gedanken.
Wie war er nur darauf gekommen, dass er diese Gefühle ignorieren konnte?
Er brauchte Schutz, einen stillen Ort, um sich ganz in ihr zu verlieren. Er suchte in seiner Tasche nach ihrer Halskette und hielt sie fest. Dann ließ er sich auf einen Stuhl fallen.
Er schaute sich um, suchte nach etwas Tröstendem. Aber alles schien sich über ihn lustig zu machen. Er hatte schon einmal einige persönliche Dinge von ihr besessen, die er aus ihrem Büro gestohlen hatte. Aber er musste sie wegtun, ihr Besitz hätte ihn verraten, wenn sie …
Seine Hand umklammerte das Schmuckstück, unter seinem Daumen spürte er den glatten Edelstein. Er hörte nicht, wie der Stuhl knarrte, als er sich vor- und zurückwiegte, auch nicht sein leises unglückliches Wimmern, als die Tränen ihm wieder übers Gesicht liefen.
Er schaute sich verzweifelt um und wurde die Gedanken an sie nicht los.
Der nur halb erledigte Abwasch war nicht von ihr, die Schmutzspuren auf dem Fußboden kamen nicht von ihren Schuhen. Das leere Glas auf dem Tisch hatte nie ihre Lippen berührt.
Und würde es auch nie tun.
Dann sah er sie, genau so, wie er sie immer in seinen Träumen erblickt hatte. Sie stand am Ende eines langen Korridors. Lichter blinkten in regelmäßigen Intervallen auf und erleuchteten den Gang zwischen ihnen. Er winkte. Sie lächelte und forderte ihn auf näher zu treten.
Voller Freude ging er auf sie zu. Aber als er das erste Licht erreichte, erlosch es. Und so war es auch mit dem zweiten. Er ging schneller, versuchte den Lichtern zuvorzukommen, aber sie erloschen immer früher, je schneller er lief. Nun rannte er durch den schmalen Gang, näherte sich seinem Ziel, aber die Lichter erloschen noch rascher, und es wurde immer dunkler. Er versuchte, seine Schritte zu beschleunigen, strengte sich bis aufs Äußerste an, aber kurz darauf wusste er nicht mehr, wohin. Er rief ihr zu, sie solle fortgehen, vor den Schatten fliehen, aber anscheinend hörte sie ihn nicht. Sie blieb, wo sie war, lächelnd, mit erhobener Hand.
Und dann ging auch das letzte Licht aus.
Die Dunkelheit schlug über ihm zusammen. Er lief weiter, aber dann stolperte er, stürzte und blieb auf dem Boden liegen.
Er rappelte sich auf und tastete in der Dunkelheit nach der Wand. Als seine Finger etwas berührten, gingen die Lichter wieder an.
Und er prallte zurück.
Sie lag vor ihm auf dem Boden, bleich und leblos, als wären alle Farbe und alles Leben aus ihr gewichen. So hatte er sie heute Nacht verlassen.
Er dachte zurück an den ersten Einschnitt. Normalerweise war es ganz einfach. Der um Gnade bettelnde Blick seiner Opfer bestätigte ihm, wie effektiv seine Arbeitsweise war. Sie waren so ungeheuer verängstigt. Aber bei ihr war es anders gewesen: Seine Hände hatten zu zittern begonnen, und er hatte gezögert.
Als er sich zwang, sie aufzuschlitzen, als das Messer in die Haut eindrang, sah er das Feuer in ihren Augen. Diese bekannte Mischung aus Schmerz, Angst und Schock.
Hass.
Und zum ersten Mal spürte er dies alles auch. Seine Tränen mischten sich mit ihrem Blut, und er brach schluchzend über ihr zusammen. Er musste seine ganze Kraft aufwenden, um sie sich selbst zu überlassen.
Er zwang sich, diesen Gedankenfluss zu unterbrechen, schlug die Augen auf und schaute seine Hände an. Ein dünnes Rinnsal Blut drang aus der geballten Faust und tropfte auf seinen Schuh. Er starrte einen Moment darauf, bevor sein Gehirn wieder zu arbeiten begann. Er lockerte den Griff, die Kette rutschte heraus, und er sah die Stelle, wo der Verschluss seine Haut geritzt hatte.
Er hatte keine Gelegenheit gehabt, sich zu verabschieden.
War das sein Fehler?
Er griff sich an die Stirn. Er wollte diese Gedanken nicht haben. Warum nur hatte es so enden müssen? Sie sollte doch ihm gehören.
Wenigstens würde sie jetzt niemanden mehr betrügen.
Er stand auf, griff nach dem Glas auf dem Tisch und warf es quer durch die Küche gegen die Wand, wo es zersprang. Als die Scherben durch den Raum flogen, verließen ihn die Kräfte wieder, und er sank zurück auf den Stuhl.
Er suchte in seiner Jacke nach dem Bild, schaute darauf und sah das Gesicht der Frau, die er liebte.
Das war nicht gut. Der Schmerz sollte doch vergangen sein. Trotzdem war alles noch wie vorher. Er presste die Halskette gegen die Brust und suchte auf dem zerfledderten Foto nach Antworten. War er ihr diesmal wirklich nahegekommen, hatte er sie besessen?
Er erschauerte, als er sich an den letzten Augenblick mit ihr zusammen in ihrer Küche erinnerte. Sie hatte sich gefreut, ihn nach der langen Trennung wiederzusehen, und das hatte ihn ermutigt. Er hatte sogar versucht, ihr seine Mission zu erklären. Aber ihr Blick hatte sie verraten. Sie verstand ihn nicht. Eine Versöhnung war nicht möglich gewesen.
Und während er noch seine Erfolge beschrieb, hatte sie ihn ohne Vorwarnung angegriffen. Jetzt sah er wieder ihr Gesicht vor Augen. Es war wutverzerrt. Er hörte ihr hastiges Atmen. Spürte das kochende Wasser, das seinen Arm verbrühte, und das Taschenmesser, das sie ihm in die Schulter gerammt hatte.
Das Messer …
Mit einem Mal fühlte er echten physischen Schmerz. Er bemerkte das Brennen in seiner linken Schulter und stellte fest, dass er den Arm schon länger nicht mehr benutzt hatte. Stattdessen hielt er ihn schützend an den Körper gepresst. Das Adrenalin und die schwere Enttäuschung hatten den Schmerz überlagert.
Ganz vorsichtig hob er die Jacke an. Der Griff des Taschenmessers war umgeklappt und lag flach auf der Haut. Das bedeutete, dass die acht Zentimeter lange Klinge tief im Muskel steckte.
Sie hatte es auf einen Kampf ankommen lassen.
Glücklicherweise hatten seine Kleider das wenige Blut, das aus der Wunde geflossen war, aufgesaugt. Die übergeworfene Jacke hatte die verräterische Stelle geschützt und kaschiert. Er tastete die Haut um die Klinge herum vorsichtig ab, um zu prüfen, wie schmerzhaft es wäre, sie herauszuziehen. Der Bereich um die Verletzung war angeschwollen, das Fleisch fühlte sich weich an.
Er suchte die Küche nach etwas ab, womit er die Wunde säubern konnte, bevor er mit seiner funktionierenden Hand ungeschickt drei Blatt von der Rolle mit Küchenpapier abriss. Er faltete sie zu einer Kompresse, die er auf den Tisch legte. Er schüttelte die Jacke ab und zuckte zusammen, als der Stoff über die Brandwunde an seinem rechten Unterarm glitt. Dann musste er sich erst mal setzen und verschnaufen. Schließlich packte er den Messergriff.
Die Klinge in einer kontinuierlichen Bewegung herauszuziehen wäre der beste Kompromiss zwischen erträglichem Schmerz und dem Risiko, noch mehr Schaden anzurichten.
Er schloss die Augen und zog.
Sein Körper erbebte, er biss die Zähne zusammen, als die Klinge sich in der Wunde bewegte und das Metall über den Knochen schabte. Kalter Schweiß brach ihm aus, und er unterdrückte mit Mühe einen Aufschrei.
Schließlich war das Messer draußen, und er ließ es auf den Tisch fallen.
Sofort quoll das Blut aus der Wunde. Gut, dass er das Messer nicht herausgezogen hatte, als er noch in ihrer Wohnung war. Blutspuren am Tatort zu hinterlassen war immer ein Fehler.
Er zog sich aus, bis er mit nacktem Oberkörper dastand, und drückte die Papierkompresse auf die Wunde. Dann schaute er sich wieder die Waffe an. Abgesehen vom Blut war sie sauber und rostfrei, auch wenn man nie wissen konnte, ob sie nicht doch verunreinigt war.
Er musste die Wunde mit einem Desinfektionsmittel säubern und einen sterilen Verband anbringen. In den nächsten Tagen hatte er nicht nach draußen gehen wollen, aber jetzt blieb ihm keine andere Wahl. Die Verbrennung an seinem Unterarm war schmerzhaft, aber nicht weiter dramatisch, und den behelfsmäßigen Verband an der Schulter konnte er unter der Winterkleidung gut verbergen. Auf diese Weise könnte er es vermeiden, unerwünschte Aufmerksamkeit zu erregen.
Er spürte etwas an seinem linken Unterarm. Die Kompresse wirkte nicht mehr, und das Blut lief in einem schmalen Rinnsal bis zu seinem Ellbogen hinunter. Er drückte das Papier fester auf die Wunde und ging zum Ausguss.
Etwas im Nebenzimmer erregte seine Aufmerksamkeit. Der Fernsehapparat – offenbar hatte er ihn angelassen. Er trat zur Tür und starrte auf das Bild, das grellbunt in der Dunkelheit leuchtete. Es dauerte eine Weile, bis er erkannte, was dort gezeigt wurde, aber dann stolperte er ins Zimmer, griff nach der Fernbedienung und drückte auf den Lautstärkeknopf.
Am unteren Rand des Bildschirms lief ein Bildtext mit den neuesten Meldungen. Darüber war eine Reporterin zu sehen, die vor dem Eingang eines dunklen Hauses stand. Als er ihre Stimme hörte, war er sofort gebannt und vergaß das Blut, das von seinen Händen auf den Teppich tropfte.
»Ja, Stuart, dies ist die Straße, wo der Mordanschlag stattgefunden hat. Die Details sind noch nicht im Einzelnen bekannt, aber so wie es aussieht, wurde erneut ein Beamter der Metropolitan Police angegriffen, eine Polizistin, die ebenfalls mit dem Fall Nemesis befasst ist. Offenbar war der so genannte Adventkiller auch hier der Täter. Antonia Hawkins, die fünfunddreißigjährige Kriminalbeamtin, wurde vor drei Stunden in ihrer Wohnung in Ealing überfallen und trug Stichverletzungen davon …«
Bevor die Journalistin ihren Satz beendet hatte, griff er nach dem Mobiltelefon und wählte die Nummer seines Informanten. Als die Verbindung zustande kam und das Klingelzeichen zu hören war, riss er sich zusammen.
Er brauchte dringend Insiderinformationen, Details, die die Leute vom Fernsehen nicht wissen konnten. Und er brauchte sie jetzt sofort. Wenn das, was die Reporterin gesagt hatte, stimmte, dann hatte er einen katastrophalen Fehler begangen.
Dann hatte sie überlebt.