70

»Antonia?«

Die Stimme kam von weit her und klang gedämpft. Aber sie war eindeutig zu hören.

»Wach auf.«

Sie drehte den Kopf auf die Seite, von der die Stimme kam. Sie holte tief Luft. Ihr Brustkorb schmerzte.

»Ich will dir was zeigen.«

Sie schlug die Augen auf und sah nur dunkle Schatten und unscharfe Konturen. Aber bevor sie erkannte, was es war, wurde sie von einem Übelkeitsanfall übermannt, der so schlimm war, wie sie es noch nie erlebt hatte. Ihr Blick verschwamm, sie kniff die Augen zu, und in ihrem Kopf stürzten wilde Visionen durcheinander.

Schwer atmend wartete sie ab, dass der Anfall vorüberging. Allmählich realisierte sie, dass sie offenbar geschlafen hatte. Aber wo sie sich jetzt befand und was am gestrigen Tag vorgefallen war oder an irgendeinem anderen Tag …

Sie hustete und schluckte. Ihre Kehle war ausgetrocknet, es schmerzte. Die Übelkeit ließ nach, also versuchte sie noch einmal, die Augen zu öffnen. Diesmal spürte sie keinen Schmerz, aber es blieb dunkel. Nach einer Weile merkte sie, dass sie nicht in ihrem eigenen Bett lag. Auch das Zimmer kannte sie nicht. Dann bemerkte sie die Person, die auf sie herabschaute.

Zuerst bewegten sich ihre Augen, um den Mann zu fixieren, dann drehte sie langsam den Kopf zu ihm herum. Sie brauchte eine Weile, um die Gesichtszüge in dem düsteren Zwielicht zu erkennen. Und dann noch ein paar Sekunden länger, um sie zu identifizieren.

Plötzlich, als die Erinnerungen an den Überfall in ihrer Küche wiederkehrten, wollte sie sich aufrichten und aus dem Bett springen, aber die Schmerzen, die durch ihren Körper brandeten, hielten sie davon ab. Er packte sie an den Schultern und drückte sie nach unten, beugte sich zu ihr, bis sein Gesicht sich dicht vor ihrem befand.

Sein Atem roch verdorben. »Schön, dass du wieder da bist.«

Sie wollte um Hilfe rufen, aber die Laute blieben ihr im Hals stecken. Als sie versuchte, ihn wegzuschieben, fühlten sich ihre Arme wie tonnenschwere Gewichte an. Schwer atmend ließ sie sich zurückfallen.

»Hast du Probleme?« Barclay ließ sie los. »Fühlst dich benommen? Anscheinend wirken die Medikamente noch. Aber ich habe hier etwas, das dich wiederbeleben wird.«

Er wandte sich ab, und sie nutzte die Gelegenheit, den Raum mit den Augen nach einer Waffe abzusuchen.

»Sieh mal, was ich gefunden habe.« Barclays Stimme kam jetzt von weiter hinten. Mühsam hob sie den Kopf, sie brauchte drei Anläufe, vor ihren Augen verschwamm alles, aber dann …

Mike.

Er saß zusammengesunken in der Ecke. Sein Kopf hing zur Seite, und er reagierte nicht, als Barclay ihn an der Schulter packte und schüttelte. War er …?

Barclay bemerkte ihren Gesichtsausdruck. »Oh, er lebt … noch. Fühlt sich nur ein bisschen benommen, nachdem ich ihn mit dem Taser aufgeweckt habe. Stimmt’s, Mike?«

Ihre Halsmuskeln versagten den Dienst, und ihr Kopf fiel wieder aufs Kissen.

»Oh nein, so läuft das nicht.« Barclay kam eilig zu ihr herüber. »Du wirst schön zusehen, wie er stirbt, ob du willst oder nicht.«

Hawkins riss sich zusammen. Es musste doch eine Möglichkeit geben, Mike zu retten. Sie drehte den Kopf und bemerkte, dass sie sich in einem Zimmer im Krankenhaus befanden. Offenbar war sie hierhergebracht worden, nachdem er sie überfallen hatte. Ihr Blick glitt über die Wand auf der Suche nach einem Alarmknopf. Aber bevor sie ihn gefunden hatte, erschien Barclays Gesicht wieder über ihr.

Er griff nach einer Fernbedienung, die durch ein Kabel mit dem Bett verbunden war, und drückte einen Knopf. Der Motor jaulte auf, und die Matratze hob sich an. Einige Sekunden später befand sie sich in einer fast aufrechten Position und starrte direkt in die Ecke, in der Mike lag, der sich noch immer nicht bewegte. Sie stöhnte. Ihr Oberkörper fühlte sich an, als ob ein Lastwagen darübergefahren wäre.

»Gut.« Barclay ließ die Fernbedienung wieder aufs Bett fallen. »Ich sag dir, wie wir es machen: Zuerst schaust du zu, wie ich deinen Freund töte, und dann erlöse ich dich und mache auch mit dir Schluss. Noch Fragen?«

Sie warf einen Blick zur Tür. Wo waren denn die Krankenpfleger? Irgendwann musste doch jemand kommen, um nach ihr zu sehen. Sie und Mike mussten überleben. Sie waren doch die einzigen Personen, die die wahre Identität des Adventkillers kannten.

Wieder musste sie husten. Sie räusperte sich. Irgendwie musste sie ihn hinhalten.

»Warum?«, krächzte sie.

»Warum?« Barclay schien überrascht, dass sie sprechen konnte. Aber er klang vollkommen überzeugt, als er sagte: »Nach so langer Zeit hast du das noch immer nicht herausgefunden?«

Sie wurde abgelenkt von dem, was hinter ihm geschah. Hatte Mike sich etwa bewegt?

»Tut mir leid, John.« Hastig schaute sie woandershin. »Aber ich verstehe es einfach nicht.«

»Detective Chief Inspector«, sagte er höhnisch. »Und keinen blassen Dunst. Soll ich mich jetzt etwa rechtfertigen? Glaubst du wirklich, ich würde Menschen so etwas antun, wenn sie es nicht verdient hätten?«

Er schlug mit der Faust auf die Bettdecke und verfehlte ihr Bein nur um wenige Zentimeter. »Es geht, verdammt noch mal, um Respekt – ist das denn so schwer zu verstehen? Ihr blöden Schlampen verachtet mich doch! Aber da habt ihr euch den Falschen ausgesucht. Ich bin nicht einer dieser Vollidioten, die alles hinnehmen und nicht aufmucken. Wenn ihr mich erniedrigt, dann müsst ihr dafür bezahlen. Und wenn ich allen anderen nebenbei auch noch eine Lektion erteile, dann umso besser.«

Er hielt inne. Sein Gesicht lief rot an.

Das war gut. Ganz offensichtlich wollte er, dass sie seine Beweggründe verstand. Und je länger sie ihn ablenkte …

»Willst du Einzelheiten hören?« Barclay beugte sich zu ihr. »Soll ich dir erzählen, wie ich einmal in der Schule beinahe ertrunken wäre, weil Glenis Ward glaubte, man könnte einem Fünfjährigen schwimmen beibringen, indem man ihn einfach ins Wasser wirft? Oder dass ich ins Heim kam, nachdem meine Mutter sich umgebracht hatte, und Tess Underwood dort immer so tat, als würde sie nichts merken, wenn die großen Jungs mich verprügelten? Oder dass Jessica Anderton mich vor der ganzen Schule blamierte, weil sie sich nicht mit mir verabreden wollte? Kümmerlicher kleiner Kerl, er hat ja keine Mutter mehr.«

Mit einem Mal passte alles zusammen. Die Opfer konnten nicht miteinander in Verbindung gebracht werden, weil sie alle mit speziellen negativen Erlebnissen zu tun hatten, die John Barclay in seiner Kindheit und Jugend erleiden musste. Und er hatte jedes seiner Opfer auf eine Art getötet, die dem Schmerz entsprach, der ihm zugefügt wurde. Er hatte Glenis Ward ertränkt, weil sie ihn beinahe ertrinken ließ. Er hatte Tess Underwood totgeschlagen, weil sie zuließ, dass er verprügelt wurde. Und Jessica hatte ihm das Herz gebrochen.

Genau wie sie …

Barclay wandte sich ab. Er zitterte.

»John.« Sie versuchte, ihn am Arm zu fassen, um ihn irgendwie von Mike abzulenken. Sie warf einen kurzen Blick in dessen Richtung und sah, wie er ein Bein bewegte.

Anscheinend kam er wieder zu sich. Sie musste weitermachen.

»Und was ist mit … Summer Easton?« Die Worte kamen nur schwer über ihre Lippen, als die Schmerzen in ihrer Brust stärker wurden.

Barclay wirbelte herum. Seine Augen füllten sich mit Tränen. »Summer Easton? Die Frau, die behauptet hat, sie könne Kontakt mit meiner Mutter im Jenseits aufnehmen? Ich habe die Uhr, die ich von meinem Vater geerbt habe, weggegeben, nur ihretwegen! Sie hat mir eingeredet, sie würde negative Energien transportieren.«

Er fasste in seine Jacke und zog ein Messer heraus. Es war die gleiche Waffe, die er schon mal benutzt hatte, um ihr Schnittwunden zuzufügen.

»Genug geredet.« Er legte die Klinge an ihren Hals. »Jetzt wird dein Freund sterben.«

Hawkins drehte den Kopf zur Seite. Sie spürte die gleiche grauenhafte Angst wie bei ihrer letzten Begegnung. Ihr Blick fiel auf die Fernbedienung, die auf dem Bett lag.

Darauf befand sich der dreieckige Notrufknopf.

Sie schaute wieder zu Barclay hin, der sie noch eine Sekunde lang anstarrte, bevor er zurücktrat und sich umdrehte.

Im gleichen Moment stürzte Mike sich auf ihn.

Die beiden Männer prallten lautstark gegen die elektronischen Geräte, die rechts neben dem Bett standen. Hawkins streckte die Hand aus und drückte auf den Alarmknopf. Das rote Licht leuchtete auf. In wenigen Augenblicken würde jemand hier sein.

Neben dem Bett kniete Barclay über Mike, der mit dem Rücken auf dem Boden lag und die Handgelenke seines Angreifers mit beiden Fäusten umklammerte. Aber er war noch immer benommen von dem Stromstoß, und Barclay nutzte den Vorteil. Das Messer, das er in der einen Hand hielt, kam Mike immer näher.

»John«, rief Hawkins und erinnerte sich an das, was Barclay vorhin über die Uhr seines Vaters erzählt hatte. »Denk an deinen Vater. Er würde das nicht wollen.«

Barclay ignorierte sie und drückte das Messer immer weiter hinunter. Die Spitze kam Mikes Kehle schon bedrohlich nahe.

Ein piependes Geräusch lenkte sie ab. Vor dem Fenster in der Tür tauchten die Gesichter eines Mannes und einer Frau auf, die ganz offensichtlich die elektronische Verriegelung betätigt hatten. Kurz glaubte Hawkins, sie seien gerettet, aber dann bemerkte sie den Stuhl, der die Klinke blockierte und verhinderte, dass jemand hereinkam.

Sie schaute wieder zu Barclay, der jetzt mit seiner freien Hand etwas unter dem Mantel suchte. Sie zuckte zusammen, als er eine Pistole hervorzog und damit auf die Personen draußen vor der Tür zielte.

»Zurück!«, schrie sie, als Barclay zweimal feuerte. Das Glas zersprang in tausend Stücke.

Die Gesichter verschwanden, und Barclay richtete die Waffe nun auf Mike. Aber die kurze Ablenkung hatte diesem die Möglichkeit gegeben, neue Kräfte zu sammeln. Er schmetterte seine Faust gegen Barclays Schläfe, der daraufhin durchs Zimmer geschleudert wurde und auf dem Rücken landete. Das Messer fiel zu Boden und verschwand irgendwo hinter den beiden Männern. Die Pistole rutschte in die andere Richtung.

Direkt unter ihr Bett.

Mike rappelte sich auf und warf sich auf seinen Gegner.

Hawkins nahm ihre ganze Kraft zusammen und rutschte zum Rand des Bettes. Im gleichen Moment sah sie, wie Barclay Mike mit der Faust ins Gesicht schlug.

Ihre Arme und Beine zitterten unkontrolliert, und sie war kurz davor, sich zu übergeben.

Dies war ihre einzige Chance. Der brennende Schmerz in ihrer Brust war nahezu unerträglich. Sie hatte Schwierigkeiten, etwas zu fixieren. Sie schnappte zweimal nach Luft, dann ging es wieder. Sie konzentrierte sich darauf, alles in einer einzigen Bewegung zu tun, und ließ sich über den Bettrand fallen.

Sie versuchte, den Aufprall mit dem einen Arm abzufangen, aber es gelang ihr nicht, und sie hörte, wie etwas in ihrem Brustkorb brach, als sie aufkam.

Sie schaute sich um, versuchte die Auseinandersetzung hinter sich auszublenden und entdeckte die Pistole zwischen den Rädern des Bettes.

Connors Dienstwaffe.

Sie streckte die Hand aus und packte sie. Dann drehte sie sich auf den Rücken und stemmte sich mit dem Ellbogen seitlich hoch, um die Pistole auf die Silhouetten der im Dunkeln miteinander ringenden Männer zu richten.

Ihr Blick war getrübt, und es war nicht hell genug. Sie konnte die beiden nicht voneinander unterscheiden. Auf keinen Fall wollte sie riskieren, Mike zu treffen. Sie schloss die Augen und rieb verzweifelt mit Daumen und Zeigefinger ihrer freien Hand darüber.

Irgendwo hinter dem zerschossenen Fenster waren Stimmen zu hören, aber es war niemand zu sehen.

Jetzt konnte sie wieder klar sehen und die Einzelheiten der beiden Kämpfer auseinanderhalten. Der eine saß rittlings auf dem anderen und wandte ihr den Rücken zu. In der einen Hand hielt er den Taser. Die Elektroschockpistole war eingeschaltet, wie an einem flackernden Lichtpunkt zu erkennen war, bereit, einen Stromschlag auszusenden.

Der Rückstoß der Pistole war heftig, als sie zwei Kugeln in den Rücken des aufrecht Sitzenden schoss. Eine Sekunde später brach die Gestalt zusammen.

Sie wartete einen Moment lang, ob sie ihn vielleicht verfehlt hatte, und behielt die Waffe im Anschlag.

Dann spürte sie nur noch das Pochen des Bluts in ihren Adern, und das Bild vor ihren Augen zerfiel in unzusammenhängende Einzelteile, bis nur noch gezackte weiße und schwarze Linien übrig blieben.

Es gelang ihr, noch zehn Sekunden lang bei Bewusstsein zu bleiben, dann wurde sie ohnmächtig.

Der Adventkiller
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