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»Macht es Ihnen was aus, wenn ich Sie mit Vornamen anspreche?«
»Bitte sehr.«
Vaughn lächelte. »Ob Sie es glauben oder nicht, Antonia, ich bin auf Ihrer Seite.«
Hawkins musterte ihn. Er wirkte ehrlich. Auf jeden Fall fehlte ihm die Überheblichkeit ihres Vorgesetzten.
Er bat sie, ihn Tristan zu nennen, womit er indirekt darauf hinwies, dass sie die Rangunterschiede bei diesem Treffen ignorieren sollten. Seine Stimme war angenehm. Er klang vernünftig und machte deutlich, dass er daran interessiert war, mit ihr gemeinsam an diesem Fall zu arbeiten.
Die übliche hinterhältige Taktik, genau wie sie erwartet hatte.
In den zehn Minuten seit ihrer Ankunft im Konferenzraum neben der Einsatzzentrale hatte Hawkins Vaughn über die Einzelheiten der Operation Charter aufgeklärt. Ganz offensichtlich wusste er, was in den Medien vorging, und war von Kirby-Jones über den aktuellen Stand unterrichtet worden. Aber nun wollte er von ihr wissen, wie ihre Pläne für ein weiteres Vorgehen aussahen.
Sie zögerte mit der Antwort. Wenn alles, was sie tat, weiterberichtet und beurteilt wurde, war es vielleicht besser, überhaupt nichts zu sagen. Aber das würde ihren Rausschmiss wahrscheinlich nur beschleunigen. Vielleicht sollte sie auch einfach nur zugeben, dass sie keinen endgültigen Plan hatte.
»Ich kann durchaus verstehen, dass Sie mir gegenüber misstrauisch sind«, sagte Vaughn. »Sie möchten vermeiden, dass ich Dinge, mit denen ich nicht einverstanden bin, an Ihren Vorgesetzten weitergebe.«
»Der Gedanke ist mir natürlich gekommen.«
Sie hatte ihm noch nichts über Emilia Jeffries erzählt.
»Na schön.« Er hob beide Hände und signalisierte, dass er sich geschlagen gab. »Ich wollte eigentlich vermeiden, Ihnen Vorschriften zu machen. Aber wie wäre es, wenn ich Ihnen einfach mal darlege, was ich in Ihrer Situation tun würde?«
»Schießen Sie los.«
»Gut.« Vaughn griff nach einer der Zeitungen, die auf dem Tisch lagen, und hielt sie hoch. Die Schlagzeile lautete: HAT DIE GESELLSCHAFT NEMESIS ERSCHAFFEN? »Wir sitzen hier mitten in einem kollektiven Alptraum, richtig?«
»Ja.«
»Was ist also im Augenblick unser Hauptproblem?«
»Ich dachte, das wollten Sie mir erklären.«
»Richtig.« Er lachte. »Also, im Augenblick serviert Nemesis den Medien die Meldungen. Und bei uns hier gibt es offensichtlich eine undichte Stelle. Also bemühen wir uns, den Leuten so wenig wie möglich zu erzählen, um nicht über das hinauszugehen, was Maguire an die Presse gegeben hat. Ich schlage nun vor, wir drehen den Spieß um und sorgen selbst für Schlagzeilen.«
»Die Medien als Köder benutzen. Das hat mir unser Profiler auch schon vorgeschlagen.«
»Hunter, ich weiß. Und Sie haben seinen Rat nicht befolgt, weil Sie den Plan hatten, Nemesis ein mögliches Opfer online zu präsentieren. Ich wäre wahrscheinlich auf den gleichen Gedanken gekommen, aber die Situation hat sich gewandelt.«
Hawkins entschied, dass sie ihn nicht unterbrechen wollte, um ihn auf den neuesten Stand zu bringen. Mikes Online-Recherche nach Spuren von Nemesis hatte sie zu einigen interessanten Leuten geführt, von denen Hawkins sich vorstellen konnte, dass sie auch Swingerclubs besuchten. Aber keiner von ihnen ähnelte dem Erscheinungsbild des Mannes auf dem Video, das vor der Haustür von Summer Easton aufgenommen worden war.
»Im Augenblick sind wir doppelt ins Hintertreffen geraten«, fuhr Vaughn fort. »Ein Beamter ist ums Leben gekommen, ein anderer verschwunden. In den Augen der Öffentlichkeit stehen wir wie eine Horde Trottel da, und die Bürger von London mögen keine Verlierer. Kirby-Jones ist vor allem an der Wirkung nach außen interessiert. Also schlage ich vor, wir verderben dem Maulwurf das Geschäft und versuchen, die Öffentlichkeit wieder für uns zu gewinnen.«
»Und was ist mit den sonstigen Ermittlungen?«
»Machen Sie weiter wie gehabt. Daran ist nichts falsch. Die Informationen, die Sie gestern Abend über Crimewatch verbreitet haben, werden uns garantiert eine Menge neuer Spuren bringen. Halten Sie mich darüber auf dem Laufenden. Aber wenn wir Nemesis kriegen wollen, dürfen wir uns dieses Terrain nicht mehr streitig machen lassen. Die Nutzung der Medien dient dazu, unser Gesicht zu wahren und gleichzeitig eine Art psychologische Kriegsführung zu inszenieren. Ich werde also eine Stellungnahme zusammenbasteln, und wir können darüber sprechen, bevor ich sie rausgebe, okay?«
Hawkins verließ nachdenklich den Konferenzraum. Tristan Vaughn war intelligent, kannte alle wichtigen Leute in den Medien persönlich und schien ernsthaft daran interessiert zu sein, sie zu unterstützen. Seine Strategie, auch wenn sie das Ansehen der Polizei genauso wichtig nahm wie das Vermeiden weiterer Opfer, erschien ihr vielversprechend. Dennoch war er ein Favorit von Kirby-Jones. Und ihm würde er sich verpflichtet fühlen, falls es in Zukunft neue Konflikte gab.
Etwas anderes zu erwarten wäre lächerlich.