PROLOG

Die Übelkeit kam völlig überraschend.

Er taumelte, sein Blick verschwamm, und er streckte instinktiv die Hand aus, um sich abzustützen. Die Hand fand einen Halt irgendwo jenseits dieses Gefühlswirrwarrs, das sein Denken verlangsamte. Der bohrende Schmerz in seiner verletzten Schulter quälte ihn.

Wurde er jetzt ohnmächtig?

Er rieb sich die Augen und kämpfte gegen die gleichzeitig auftretenden Folgen von Verletzung und Erschöpfung an. Dann beugte er sich über das Waschbecken und wusch sich das Gesicht. Das kalte Wasser weckte seine Lebensgeister. Er richtete sich auf und wusste jetzt, dass er nicht die Besinnung verlieren würde. Er sah auf das Messer, das aus seiner linken Schulter ragte. Blut breitete sich um die Wunde aus. Seine Zeit war begrenzt, er musste sich beeilen.

Er drehte sich wieder zu ihr um.

Sie lag verdreht da, wie das Opfer eines Autounfalls, das sich schon im Koma befand, bevor es einige Meter vom Ort des Aufpralls entfernt liegen blieb. Nur dass diese Frau hier, abgesehen von ihrer scheinbaren Leblosigkeit, keineswegs bewusstlos war.

Weit davon entfernt.

Sie starrte ins Leere und nahm ihn womöglich gar nicht mehr wahr. Dann musste sie husten und bäumte sich auf wie eine ferngesteuerte Puppe. Blut rann aus ihrem Mundwinkel.

Er spürte einen Anflug von Mitleid, aber er blieb stark.

Er sah zu, wie ihre Panik wuchs. Ihre Haut wurde blass, ihr Brustkorb wogte auf und ab, ihr Atem ging flacher, sie schnappte verzweifelt nach Luft.

Aber ganz genau konnte man es immer an dem Blick erkennen.

Ihre Pupillen weiteten sich, die Iris beider Augen schimmerten hell unter den zuckenden Lidern. Dann kam sie ganz plötzlich zur Ruhe.

Noch vor einigen Wochen hätte dieser Umstand ihn überrascht, aber inzwischen hatte er das mehrfach beobachtet. Diese immergleiche vergebliche Anstrengung, zu der sie am Schluss alle Zuflucht nahmen.

Sie versuchte zu sprechen.

Er trat in ihr Blickfeld und konnte seine freudige Erwartung kaum noch unterdrücken. Weit hinten in seinem Bewusstsein tickte die alte Standuhr unerbittlich und wies darauf hin, dass die Stunde gekommen war.

»Es wird Zeit«, stellte er fest und beugte sich über sie. »Ich weiß, was du jetzt versuchst, aber es ist zu spät für Reue und Umkehr. Du hast deine Entscheidung längst schon getroffen.« Er griff nach der Rolle mit dem Klebeband.

»Ich sehe zwar, dass du im Augenblick keinen Laut von dir geben kannst, aber das hier wird eine Weile dauern, und ich möchte nicht, dass du mittendrin doch noch zu schreien anfängst.«

Er zog ein Stück vom Band ab und klebte es über ihren Mund, führte es sorgfältig um ihren Kopf herum und riss das Ende ab.

Dann griff er nach dem Messer in seiner Tasche.

Nach dem Messer.

Ihre Augen weiteten sich, sie schaute ihn bittend an, flehte, er solle aufhören, und forderte ihn damit nur heraus.

Hatte sie ihn wirklich verschmäht?

Er spürte, wie ihm etwas über das Gesicht rann. Ein Schwindel ergriff ihn, er stellte fest, dass er schwitzte. Seine Gedanken trübten sich. Wollte er ihr das wirklich antun?

Der einzigen Frau, die er je geliebt hatte?

Nein, er ließ sich nicht davon abbringen. Wie konnte sie es wagen, das, was zwischen ihnen gewesen war, als Druckmittel zu verwenden?

Er rieb sich die Augen, Demütigung und Wut vermischten sich. Aber ein Teil von ihm wollte, dass sie verstand.

»Ich weiß, dass du Angst hast.« Er beugte sich über sie. »Aber eines Tages werden die Menschen meine Taten begreifen. Es ist ganz einfach. Der Wandel fordert Opfer. Du musst für die große Sache sterben.«

Verstand sie das? Ihr Blick sagte nein. In ihren Augen stand nichts als Hass.

Aber warum? Jetzt, nachdem er ihr alles offenbart hatte?

Sie hatte kein Recht dazu.

Wütend packte er ihre Bluse, zerrte daran, und die Knöpfe flogen über den Fußboden. Er griff nach dem Messer und ließ seine Spitze über ihren Rumpf gleiten. Beobachtete, wie die scharfe Klinge drohte, die zarte Haut zu ritzen.

Eine letzte Chance?

Sie schaute ihn durchdringend an, ihre Abscheu nur zu deutlich.

Nein.

Die rasiermesserscharfe Spitze ritzte die Oberfläche, feine Blutstropfen erschienen, wo das Messer die Haut durchtrennte und auf Fleisch traf.

Er hielt inne und begutachtete das schmale rote Rinnsal, das seitlich über ihren Brustkorb lief, ergötzte sich an der Panik, die sein Opfer ergriff.

Dies war die letzte Gelegenheit einzulenken. Doch er wusste, dass dies nicht infrage kam. Dies war der große, schicksalhafte Moment.

Ein letztes Mal ließ er seinen Blick über ihre makellose Haut gleiten.

Und machte den ersten Einschnitt.

Der Adventkiller
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