23

Sie standen draußen vor der Tür, und Brenna stellte die Alarmanlage wieder an, als ihr plötzlich ein Gedanke kam. »Dieses Mädchen, das bei Nelson angerufen hat. Wenn sie wirklich Iris ist … oder jemand, der sie kennt … dann war sie es vielleicht auch, die Carol gebeten hat, hierherzukommen und zu holen, was auch immer hinter diesem Bild versteckt gewesen ist. Ich meine … wer sonst hätte wissen sollen, dass da etwas war?«

»Vielleicht. Oder vielleicht hat ihr auch Tim O’Malley was davon erzählt«, wiegelte Morasco ab.

Das rote Lämpchen der Alarmanlage blinkte auf, und sie wandten sich zum Gehen. »Sie glauben nicht, dass Iris tatsächlich zurückgekommen ist«, stellte Brenna fest.

Er zuckte mit den Schultern. »Ich wäre natürlich froh, wenn diese Anrufe von ihr gekommen wären. Aber unglücklicherweise wäre das bestimmt zu schön, um wahr zu sein.«

»Gott, Sie sind einfach ein Nihilist. Werden Sie doch mal ein bisschen locker. Geben Sie doch endlich einfach den Jack Paar.«

Er lächelte, während im selben Augenblick ein Wagen mit quietschenden Reifen in die Neff’sche Einfahrt bog. Dann fiel krachend eine Tür ins Schloss, und man hörte das Knirschen von Schritten auf dem Weg.

Brenna sah Morasco an. Eilig schob er eine Hand unter den Aufschlag seiner Jacke, und sie dachte an Carol, eine Frau, die beinahe so pedantisch wie ihr Mann gewesen war und die dieses Haus so schnell verlassen hatte, dass ihr nicht mal mehr die Zeit geblieben war, die Bilder wieder in der Reihenfolge aufzuhängen, wie sie von ihr vorgefunden worden war. Und die nicht einmal, um ihre Brieftasche und ihren Führerschein zu holen, hierher zurückgekommen war. Was in aller Welt hatte sie so erschreckt?

War vielleicht überraschend irgendwer hier aufgetaucht?

Die Schritte wurden lauter. Brennas Herz schlug bis zum Hals …

… und dann hörte sie eine Stimme.

»Hallo!«

Sie erkannte sie sofort, doch noch während sie entspannt die Schultern sinken ließ, stieg ein Gefühl des Ärgers in ihr auf. »Was macht die denn hier?«

Morasco runzelte die Stirn, rief dann aber ebenfalls »Hallo!«, und schon kam die andere um die Hausecke gebogen und hielt ihre Handtasche so fest, als risse sie ihr anderenfalls irgendjemand aus der Hand.

»Hallo, Detective«, grüßte sie.

»Brenna Spector, Brenna, das ist –«

»Mrs Chandler«, beendete Brenna seinen Satz.

Gayle hob überrascht die Brauen. »Kenne ich Sie?«

»Wir sind uns schon mal begegnet.«

»Gayle ist die Maklerin«, klärte Morasco Brenna auf und wandte sich dann wieder an die andere Frau. »Brenna ist Privatdetektivin und arbeitet für Nelson Wentz.« Und mit einem leichten Lächeln fügte er hinzu: »Wenn sie ein Gesicht einmal gesehen hat, vergisst sie es nie mehr.«

Ehrlich gesagt, sah Gayle noch fast genau wie vor elf Jahren aus, als sie vor ihrem Haus von Brenna angesprochen worden war. Vielleicht waren die Hüften etwas breiter, und sie hatte ein paar zusätzliche Falten um die Mundwinkel herum, aber davon abgesehen sah sie mit ihrer glänzenden Frisur, den großen goldenen Knotenohrringen und dem leisen, selbstgefälligen Lächeln völlig unverändert aus. »Ich wollte nur sichergehen, dass Sie problemlos reingekommen sind.«

Brenna sah sie an. »Dann waren also Sie diejenige, die Carols Brieftasche im Haus gefunden hat.«

Gayle fiel das Lächeln aus dem Gesicht. »Ja … die arme Carol.«

»Sie waren ihre beste Freundin.«

Gayle blickte Morasco an. »Das würde ich nicht sagen. Aber wir waren im selben Buchclub, und ich hatte sie sehr gern.«

»Nelson hat gesagt, dass Sie das waren.«

Der Ausdruck ihrer Augen wurde hart.

»Nelson hat gesagt, dass Sie ihre beste Freundin waren«, sagte Brenna noch einmal.

Wieder blickte Gayle Morasco an. »Tja nun, ich werde nur kurz gucken, ob die Tür richtig verschlossen ist, und dann mache ich mich wieder auf den Weg.«

»Weshalb hat Carol Sie in der letzten Woche ihres Lebens angerufen?«, fragte Brenna sie.

»Was?«

»Laut Verbindungsnachweis ihres Handys hat sie einmal anderthalb Minuten mit Ihnen telefoniert.«

»Oh, richtig«, sagte Gayle. »Sie hat angerufen, um zu fragen, ob ich unser Buch für den Buchclub schon fertig gelesen hätte. Die Jahre der Veränderung.«

»Weil Sie Buchclubfreundinnen waren.«

Gayle bedachte sie mit einem argwöhnischen Blick. »Genau.«

Morasco runzelte die Stirn.

»Wohingegen Sie und Lydia Neff einander wirklich nahegestanden haben«, führte Brenna weiter aus.

Gayle blinzelte verwirrt. »Ich habe seit zwei Jahren nicht mehr mit Lydia Neff gesprochen.«

»Ich habe nicht gesagt, Sie stehen, sondern Sie standen einander nahe«, rief ihr Brenna in Erinnerung.

»Ja … na und?« Abermals wandte sich Gayle dem Polizisten zu. »Ist dies eine offizielle polizeiliche Vernehmung?«

»Kann ich Sie etwas fragen?«, kam Brenna einer Antwort des Mannes zuvor.

»Kann ich etwa nein sagen?«

»Warum haben Sie Carol erzählt, Lydia und Nelson hätten ein Verhältnis?«

Gayle klappte die Kinnlade herunter. »Was?«

»Sie waren mit Lydia Neff befreundet. Derart eng, dass sie immer genau wussten, was sie gerade tat. Nachdem Iris verschwunden war, wussten Sie zum Beispiel, dass sie jeden Morgen zum Meditieren in die Wohnanlage Waterside gefahren ist.«

»Und das wissen Sie, weil …«

»In der Woche des 18. Oktober 1998 sind Sie meines Wissens nach viermal zu Lydia gefahren. Am 21. um halb zwölf mittags kamen Sie mit einer Tüte von Duncan Donuts und zwei großen Kaffees und blieben zwei Stunden dort. Am 22. brachten Sie ihr einen Auflauf und blieben anderthalb Stunden dort … Das heißt, dass es eine wirklich enge Freundschaft war.«

Gayle starrte Morasco an. »Was ist nur mit ihr los?«

»Sie hat eben ein gutes Gedächtnis«, klärte er sie schulterzuckend auf.

»Aber ein Jahr zuvor haben Sie Carol Wentz erzählt, Lydia hätte ein Verhältnis mit ihrem Ehemann.«

»Ich –«

»Lassen Sie mich Ihnen etwas sagen, Gayle. Falls ich eine Sache mit Bestimmtheit weiß, dann, dass man nichts, was je geschehen ist, einfach irgendwann auslöschen kann.«

»Was soll das heißen?«

»Es soll heißen, dass aus einer Unwahrheit, die man irgendwann erzählt, auch fünf, zehn, zwanzig Jahre nach dem Tag, an dem man sie erzählt hat, nicht die Wahrheit wird.«

»Ich lüge nicht.«

»Wenn man etwas Falsches tut, wenn man jemanden verletzt, tröstet man sich gern damit, dass man sich sagt: ›Die Zeit vergeht. Irgendwann werden die Leute es vergessen, und dann wird es so sein, als wäre diese Sache nie passiert‹, richtig?« Brenna knirschte mit den Zähnen, denn ihr Zorn auf diese Frau nahm sekündlich zu. »Aber was geschehen ist, ist geschehen, Gayle. Und auch wenn es die ganze Welt vergisst, bleibt diese Tatsache bestehen. Vor zwölf Jahren haben Sie Carol Wentz, aus welchem lächerlichen Grund auch immer, eine bösartige, grauenhafte Lüge aufgetischt.«

»Habe ich nicht.«

»Also bitte!«

»Das habe ich nicht!«

»Ihre Lüge hat Carol mehr verletzt, als Sie sich jemals hätten vorstellen können. Sie hat bei ihr zu einer Besessenheit geführt, infolge derer sie wahrscheinlich ermordet worden ist.« Brenna funkelte sie wütend an. »Die Zeit heilt keine Wunden, Gayle. Manchmal verschlimmert sie sie sogar noch.«

Gayles Augen wurden feucht. Brenna sah Morasco von der Seite an, und er bedachte sie mit einem Blick, von dem sie nicht sagen konnte, ob er Schock, Angst, Bewunderung oder eine Mischung aller drei Empfindungen verriet. »Warum haben Sie Carol erzählt, Nelson und Lydia hätten ein Verhältnis?«

Gayle musste sichtlich schlucken, aber als sie wieder sprach, stieß sie die Worte zischend zwischen ihren Zähnen aus. »Weil es so war.«

»Ich bitte Sie.«

»Lydia hat es mir selbst erzählt. Sie sagte, es hätte eines Abends angefangen, als er sie vom Bahnhof heimgefahren hat. Sie hätten unterwegs noch angehalten, um etwas zu trinken, und der Wein wäre ihnen derart zu Kopf gestiegen, dass es einfach geschehen ist. Es hätte eine einmalige Sache bleiben sollen, aber dann ist es immer wieder … passiert.« Sie räusperte sich leise und fuhr fort: »Als sie es mir erzählt hat, war die Sache schon so ernst geworden, dass es ihr zu viel wurde. Lydia war klar, dass sie das Verhältnis schnellstmöglich wieder beenden sollte, wusste aber einfach nicht, wie.«

»Lydia Neff … und Nelson Wentz.«

»Ich habe ihr gesagt, dass sie einen viel besseren Mann bekommen kann als ihn«, erklärte Gayle. »Aber Lyddie meinte … dass sie mit ihm reden könnte wie mit keinem Menschen sonst.«

Brenna starrte sie mit großen Augen an. Jeder braucht diesen einen Menschen …

»Nur für mich klang es eher so, als ob er von ihr besessen wäre«, sagte Gayle. »Lyddie war vollkommen durcheinander, aber ich wollte mich nicht einmischen. Weshalb hätte ich das tun sollen? Ich habe Carol nur aus einem Grund davon erzählt. Um Lydia zu helfen. Ich habe es ihr erzählt, damit Nelson Lydia endlich in Ruhe lassen musste.«

Brenna sagte nichts, sondern sah die Frau, die sie bisher für eine oberflächliche Drama-Queen gehalten hatte, reglos an. Während eines Augenblicks tauchte vor ihrem geistigen Auge die Gayle von vor elf Jahren auf, mit ihrem pinkfarben glänzenden Lippenstift, dem hochgeklappten Kragen und den beiden nagelneuen Range Rovern, einem schwarzen und einem weißen, vor ihrer Tür. »Lyddie fährt dort jeden Morgen hin, um am Brunnen zu meditieren. Wissen Sie, sie ist eine sehr spirituelle Frau.« Und Brenna hatte gedacht: »Eine von denen.« Einer dieser Menschen wie der Unternehmer Roger Wright. Eine dieser schillernden Personen, denen es niemals an irgendetwas fehlte und die unter Glas aufgewachsen waren, damit nicht auch nur der allerkleinste Schmerz sie je befiel.

Gayle wischte sich eine Träne aus dem Gesicht. Innerhalb von wenigen Sekunden war sie äußerlich um zehn Jahre gealtert, und der ganze Glanz und die ganze Selbstgefälligkeit, die sie zuvor verströmt hatte, lösten sich in Wohlgefallen auf. »Nelson Wentz ist ein sehr zorniger Mensch«, erklärte sie.

Und langsam begann Brenna, ihr zu glauben.

Dann wandte sich Gayle zum Gehen, blieb aber noch einmal stehen, drehte sich zu ihnen um und stellte mit zitternder Stimme fest: »Wenn Sie über Wunden sprechen wollen, schlage ich Ihnen vor, dass Sie mit Ihrem Mandanten reden. Ich kann mir nämlich vorstellen, dass er sich mit diesen Dingen erheblich besser auskennt als ich.«

Ohne ein Wort zu sagen, kehrten Brenna und Morasco zu ihren Fahrzeugen zurück. Sobald sie allerdings an ihrem Sienna standen, lehnte sie sich gegen die Tür und sah Morasco an.

Noch immer gingen ihr Gayles Worte durch den Kopf.

Gayle war keine Drama-Queen. Ihre Freundin hatte ihr von einer Affäre erzählt, in der sie gefangen war und aus der sie keinen Ausweg sah. Einer Affäre mit Nelson Wentz. Und nach Aussage von Gayle war Nelson Wentz ein sehr zorniger Mensch.

»Alles in Ordnung?«, wollte Morasco von ihr wissen.

»Dass ich mich immer an alles erinnere, heißt noch lange nicht, dass meine Einschätzung von Dingen und Personen immer richtig ist.« Sie sah ihn fragend an. »Korrekt?«

»Sie sind ehrlich und erwarten, dass auch andere es sind. Das ist eine positive Eigenschaft.«

»Jetzt klingen Sie wie mein Psychiater«, sagte sie. »Wie der Seelenklempner, bei dem ich vor vierzehn Jahren war. Inzwischen gehe ich nirgendwo mehr hin.«

»Ich habe Nelson Wentz vernommen, als ich zu Iris’ Verschwinden ermittelt habe, Brenna«, rief der Polizist ihr in Erinnerung. »Er hat damals erklärt, dass zwischen ihm und Lydia nie etwas gelaufen wäre. Und auch ich habe ihm die Behauptung abgekauft. Okay?«

»Dann hat er uns also beide hinters Licht geführt.«

»He. Zumindest stehen Sie nicht alleine als naiver Trottel da.«

Sie spürte, wie sie leise lächelte. »Trotzdem glaube ich noch immer nicht, dass er ein Mörder ist. Macht mich das zu einem noch größeren Trottel, als ich es bisher schon war?«

»Vielleicht.«

»Also stehe ich allein mit meiner Meinung da?«, wollte Brenna von ihm wissen, und mit einem Mal wurde in ihrem Hirn ein Schalter umgelegt, und sie war allein. Es war der Vorabend, und sie saß ganz allein an ihrem Küchentisch, nachdem Maya ins Bett gegangen war, blätterte in Nelsons Heftern und erinnerte sich an die fehlende Vernehmung aus der Polizeiakte. »Wissen Sie noch, was Sie gesagt haben, als ich von Ihnen wissen wollte, ob der damalige Polizeichef Griffin Nelson je vernommen hat?«

»Ja. Ich habe nein gesagt.«

»Hat diese Antwort auch gestimmt?«

Er sah sie stirnrunzelnd an. »Ich habe mit Nelson vor seinem eigenen Haus gesprochen. Er sagte, er hätte kaum je ein Wort mit Iris gewechselt. Und mit Lydia hätte er kein Verhältnis gehabt, sondern einfach eine enge Freundschaft unterhalten, weiter nichts. Ich habe ihm versprochen, dass die Sache unter uns bleibt, und niemandem davon erzählt.«

»Dann war er also nicht XY

Wieder runzelte der Polizist die Stirn. »XY

»Seite 22 aus der Akte. Das heißt, vor elf Jahren war es Seite 22. Jetzt beginnt auf Seite 22 die Vernehmung von Theresa Koppelson und …«

Morasco starrte Brenna an, als spräche sie urplötzlich Mandarin.

»Sie haben keine Ahnung, wovon ich rede.« Brenna sah ihn an, und er schüttelte den Kopf.

»Es geht um die Akte Iris Neff. Ich habe die verschwundene Vernehmung aus dem Gedächtnis aufgeschrieben und schicke sie Ihnen nachher per E-Mail zu.«

»Okay.« Er sah sie mit einem traurigen Lächeln an.

»Was ist?«

»Brenna«, sagte er. »Haben Sie jemals das Gefühl, ein besserer Mensch als alle anderen zu sein? Nicht nur klüger, sondern wirklich besser?«

»Nein.«

»Nun, das sollten Sie aber.« Er berührte sie so leicht am Arm, dass es kaum zu spüren war. Er sagte nichts mehr, aber die Sanftheit dieser Geste … Sehen Sie mich nicht so an, Detective Nick Morasco. Sehen Sie mich nicht so an, denn ich werde mich daran erinnern, und diese Erinnerung wird schmerzlich sein.

Während eines endlos langen Augenblicks standen sie einfach da und blickten einander reglos an. Bis Morasco schließlich wieder zu sprechen begann. »Es muss doch einen besseren Weg als diesen geben, um seine Kohle zu verdienen.«

Brenna blinzelte verwirrt.

Morasco wiederholte diesen Satz, wobei er klang, als hätte er eine Kiefersperre, und erklärte ihr: »Das war mein Jack Paar. Diesen Satz hat er gesagt, als er aus der Tonight Show ausgestiegen ist.«

Beide zwangen sich zu lachen, und mit einem kurzen »Tschüs« stieg Brenna ein und ließ den Motor ihres Wagens an.