28
Der Verkehr war grauenhaft, was aber nicht zu ändern war. Es war sechs Uhr abends, und zusammen mit genügend Pendlern, um erfolgreich eine Diktatur irgendwo in der Dritten Welt zu stürzen und ein mittelgroßes Land neu zu bevölkern, quälte Brenna sich über die Autobahn.
Sie fragte sich, ob vielleicht auch Willis Garvey irgendwo in dem Gedränge steckte, denn sie hatte mindestens ein Dutzend schwarz schimmernder Esplanades gesehen, als sie den West Side Highway Richtung Autobahn hinaufgekrochen war, und seit sie die Stadt hinter sich gelassen hatte, hatte sich die Zahl der SUVs nicht nur verzehn-, sondern mindestens verzwanzigfacht.
Garvey hatte angeblich bis sechzehn Uhr gedreht und sich dann sofort auf den Weg zurück nach Tarry Ridge gemacht, weil dies einer der Abende mit seinem Sohn und seiner Tochter war. Das zumindest hatte seine Haushälterin Morasco am Telefon erzählt. Die Stimme eines Polizisten, die durch einen Hörer drang, hatte sie anscheinend deutlich weniger gestört als das Erscheinen einer fremden Frau vor ihrer Tür, die von ihr hatte wissen wollen, ob es vielleicht eine Verbindung zwischen ihrem Boss und einer ermordeten Hausfrau gab.
Sechzehn Uhr. Morasco und Brenna waren davon ausgegangen, dass es vielleicht vierzig oder fünfundvierzig Minuten dauern würde, bis er abgeschminkt und wieder in seinen normalen Straßenkleidern wäre, und dann noch einmal eine halbe Stunde, bis er sich von seinen Kollegen verabschiedet und seinen Wagen geholt hätte und auf dem Weg nach Hause war. Deshalb käme er wahrscheinlich gegen sechs zu Hause an.
Das kam Brenna gerade recht. Maya hatte ihr um fünf gesimst, dass sie noch mal bei Larissa übernachten wollte, und im Gegensatz zum letzten Mal hatte sie sofort ja gesagt. Sei brav, hatte sie knapp zurückgesimst, und hüte dich vor ihrer Mom hinzugefügt.
Da sie Morasco um sechs bei Garvey treffen wollte, hatte sie ihren Wagen aus der Garage geholt, sich von Trent verabschiedet und auf den Weg gemacht, wo sie inzwischen seit über einer Dreiviertelstunde in der Hölle des Berufsverkehrs gefangen war. Und jetzt schob sich auch noch ein gottverdammter goldener Chevy Cavalier wie ein erregter Brahmabulle von hinten an sie heran. »Wenn du noch ein bisschen näher kommst, landest du auf meinem Vordersitz«, murmelte sie erbost in ihren Rückspiegel.
Sie warf einen Blick auf ihre Uhr. Zehn nach sechs. Seufzend rief sie bei Morasco an, doch auf seinem Handy sprang die Mailbox an. »Gehen Sie ruhig schon mal alleine rein, wenn Sie nicht schon drinnen sind. Der Verkehr ist einfach grauenhaft.«
Kaum aber hatte sie aufgelegt, als sie Licht am Ende des Tunnels sah. Knapp eine halbe Meile vor ihr teilte sich die Autobahn, und ein Teil der Autos fuhr Richtung Whitestone Bridge, während der andere den Merritt Parkway nahm. Die meisten Wagen fuhren Richtung Whitestone, Brenna aber musste auf den Parkway abbiegen.
Dem Himmel sei Dank. Dort hätte sie endlich freie Fahrt.
Kaum dass die Straße etwas freier war, trat sie aufs Gaspedal, doch der Cavalier blieb weiter direkt hinter ihr, als hätte er keine andere Wahl. »Fahr doch auf die Überholspur!«, brüllte sie.
Sie beschleunigte noch mehr, und genau in diesem Augenblick beherzigte der Cavalier den Ratschlag, scherte aus und rammte dabei ihre Stoßstange. »Verdammt noch mal!« Sie lenkte ihren Sienna auf die Standspur und schaltete die Warnblinklichter an. Hatte sie an diesem Tag nicht schon genug Ärger gehabt? In der sicheren Erwartung, dass der Cavalier verschwunden war – schließlich hatte ein Verkehrsunfall mit Fahrerflucht ihr gerade noch gefehlt –, blickte sie sich um. Okay, zumindest hielt er ebenfalls.
Scheint ein Mietwagen zu sein, ging es ihr durch den Kopf, während sie aus ihrem Wagen stieg, um sich den Schaden anzusehen. Irgendein auswärtiger Idiot, der die Unfallversicherung bezahlt hat und auch etwas davon haben will.
Aber warum musste gerade jetzt so was passieren? Ausgerechnet jetzt? Sie spürte eine hochgewachsene Gestalt in ihrem Rücken – sicher ihren Unfallgegner –, aber ehe sie den Typen auch nur fragen konnte: »Was zum Teufel haben Sie sich bloß dabei gedacht?«, nahm sie zwischen ihren Schulterblättern etwas Hartes, Kaltes wahr. Der Lauf einer Pistole, wusste sie und drehte ihren Kopf gerade weit genug, um im Licht eines vorbeifahrenden Wagens ein Gesicht dicht hinter sich zu sehen. Es war hässlich-schön, mit einem breiten Kiefer und mit einem Muttermal.
Adam Meade zog Brennas Handy aus der Vordertasche ihrer Jacke. »Los, steig wieder ein«, wies er sie an, und sie gehorchte ihm.
Sie hatte keine andere Wahl, und so nahm sie wieder hinter ihrem Lenkrad Platz. Meade ließ seinen Mietwagen einfach am Straßerand stehen, stieg mit seiner Waffe zu ihr in den Sienna, zwang sie zurück auf die Straße und gab dort die Richtung vor.
Morasco hörte Brennas Nachricht ab, als er vor Willis Garveys bombastischer, hochzeitstortengleicher Villa aus dem Wagen stieg. Sie stand noch im Stau und käme deswegen zu spät.
Er stieß einen Seufzer aus und betrachtete das Haus. Obwohl die Vorhänge vor dem enormen Fenster des Salons geschlossen waren, brannten zugleich sämtliche Lampen in dem Haus, und so konnte er die Silhouetten zweier Menschen ausmachen. Er drückte auf den Klingelknopf, und schon nach wenigen Sekunden wurde ihm die Tür von einem Typen aufgemacht, der abzüglich des Rüschenhemds und der atemlosen, Korsett tragenden Frau in seinen Armen wie der Titelheld eines der Liebesromane aus dem Supermarkt aussah.
»Mr Garvey?«
Der Adonis runzelte die Stirn. »Ja …«
»Detective Nick Morasco von der Polizei in Tarry Ridge.«
Garvey starrte ihn volle zwanzig Sekunden lang an. »Tut mir leid«, stellte er schließlich fest. »Aber sollte ich wissen, worum es geht?«
»Ich hätte nur ein paar kurze Fragen, falls Sie nichts dagegen haben.«
Garvey nickte knapp.
Morasco folgte ihm ins Haus, durch eine Eingangshalle in einen Salon, der der Alptraum jeder Haushälterin war – alles in dem Raum war blendend weiß. Irgendwo aus der oberen Etage drang ohrenbetäubende Musik – der Bass ließ die Decke über seinem Kopf erbeben, die Stimme einer Frau sang ein ums andere Mal Das ist nicht mein Name, und das Ganze wurde noch von schrillem, mädchenhaftem Lachen untermalt.
Irgendwie kam sich Morasco wie im Keller eines Nachtclubs vor.
»Meine Tochter hat eine Freundin zu Besuch«, erklärte Garvey ihm das Offensichtliche.
»Mr Garvey«, fing Morasco an. »Woher kannten Sie Carol Wentz?«
Garveys Miene wurde starr. »Hören Sie, ich habe bereits dieser Ermittlerin, mit der Sie zusammenarbeiten, erklärt, dass ich diese Frau nicht kenne. Außer in den Nachrichten habe ich den Namen nie im Leben gehört.«
»Und warum haben Sie sie dann angerufen?«
»Wenn überhaupt, war sie es, die mich angerufen hat. Ich sie nämlich ganz sicher nicht.«
Morasco räusperte sich kurz. »Am 21. September haben Sie Carol Wentz dreimal nacheinander angerufen. Das erste Mal um drei Uhr nachts.«
Garvey starrte ihn reglos an. Über ihnen fragte die Sängerin, ob man sie Liebling nennen wolle, und jemand drehte die Lautstärke noch etwas weiter auf. »Macht ihr bitte etwas leiser, Mädchen?«, rief der Schauspieler und sah wieder Morasco an. »Tut mir leid, aber ich habe keine Ahnung, wovon Sie reden.«
Morasco zog die Anrufliste aus der Tasche und hielt sie ihm hin. »Das hier sind sämtliche Anrufe, die bei den Wentz eingegangen sind.« Er wies auf die Anrufe vom 21. September und sah Garvey fragend an. »Das hier ist Ihre Faxnummer, stimmt’s?«
Garvey starrte auf das Blatt und wurde unter seiner Sonnenbräune bleich. »Ich … ich weiß wirklich nicht, wie das passieren konnte.«
»Es ist sogar dreimal hintereinander passiert.«
Die Mädchen hatten die Lautstärke ihrer Musik etwas gedämpft, doch das fortgesetzte Bum-da-Dum des Basses gab Morasco das Gefühl, als ob er in einem riesigen Metronom gefangen war.
Garvey nahm ihm die Liste ab, hielt sie mit beiden Händen fest und starrte auf die Zahlen, als erwarte er, gleich etwas völlig anderes auf dem Blatt stehen zu sehen. Aber war das vielleicht alles nur gespielt? Wenn ja, dann war er wirklich, wirklich gut.
»Mr Garvey, wenn Sie mir bitte kurz erklären könnten, was Sie zu Carol Wentz gesagt haben –«
»Warten Sie. Einen Moment. 21. September … das war ein Montag, oder?«
Morasco nickte. »Gerade mal zehn Tage her. Dürfte Ihnen also nicht zu schwerfallen, sich noch daran zu erinnern.«
»Mädchen!«, brüllte Garvey plötzlich los. »Kommt mal bitte runter.«
»Gleich, Dad!«
»Sofort!«
Dankenswerterweise wurde erst einmal die Stereoanlage ausgestellt, und einen Moment später tauchten oben an der Treppe zwei heranwachsende Mädchen auf – die eine groß und blond und Garvey geradezu verblüffend ähnlich und die andere etwas kleiner, braunhaarig, bebrillt.
»Was gibt’s denn, Dad?«, fragte Garveys Doppelgängerin.
»Detective Morasco, das hier ist meine Tochter Emily.« Garvey sah die beiden Mädchen böse an. »Deine Freundin hat letzten Sonntag hier geschlafen.«
»Na und?« Emily blickte Morasco an. »Ist das vielleicht verboten?«
»Emily, sei bitte nicht so unhöflich.«
»In Ordnung, tut mir leid.«
Garvey atmete tief durch. »Emily, habt ihr beide von meinem Faxanschluss irgendwelche Telefonstreiche gespielt?«
Emilys Grinsen verflog. »Nein, Dad. Natürlich nicht.«
»Ich meine es ernst.«
Das Mädchen wandte sich der Freundin zu, der das Schuldbewusstsein überdeutlich anzusehen war. Irgendwas an ihrem Gesicht, irgendwas an ihren Augen erinnerte Morasco an irgendjemanden …
»Ich war das nicht«, erklärte Emily.
»Ich dulde keine Lügen.«
»Ich lüge nicht, Daddy.« Das blonde Mädchen sah ihn flehend an. »Das schwöre ich.«
»Ich halte den Beweis für euer Treiben in den Händen, Emily. Ich habe den Verbindungsnachweis –«
»Maggie war’s.«
Maggie … o mein Gott … Morasco starrte auf die großen Augen, den sorgenvoll verzogenen Mund, das dünne braune Haar … und dachte an blaue Plastikhaarspangen. Haarspangen mit Tinkerbell-Aufdruck und pinkfarbene Turnschuhe mit Klettverschluss, die gut dreißig Zentimeter über dem Boden baumelten.
»Tut mir leid«, stieß Maggie schluchzend hervor. »Es tut mir furchtbar leid. Es ist alles meine Schuld.«
Das winzig kleine, dreieinhalbjährige Mädchen auf dem Metallstuhl im Vernehmungsraum, auf dessen gelbem T-Shirt ein flauschiges weißes Kätzchen abgebildet war. Kleine Finger, die den Plastikbecher Wasser umklammerten. Die quietschende Stimme. Das schüchterne Lachen. Niemand hat Angst vorm Weihnachtsmann.
»Ich habe zum Spaß bei Mrs Wentz angerufen. Aber es war nicht meine, sondern Emilys Idee.«
»War es nicht. Du hast mir schließlich von der Sache mit dem Chatroom erzählt.«
»Ich kann es einfach nicht glauben, Mädchen«, stellte Garvey fest. »Ich meine, ich fasse es einfach nicht.«
»Ich habe ihr gesagt, dass sie das lassen soll.«
Inzwischen hatte Maggie Tränen in den Augen. »Hast du nicht, Emily. Hör auf.«
»Mr Wentz dachte, dass Maggie … jemand anders ist«, erklärte Emily.
»Tut mir leid. Es tut mir wirklich leid …«
Carol dachte, dass du Iris bist. Wir alle dachten, dass du Iris bist. Morasco schüttelte den Kopf, starrte das Mädchen sprachlos an, sah an ihrem Gesicht, wie die Zeit vergangen war.
»Maggie?«, fragte er sie schließlich. »Maggie Schuler?«
Damals war sie dreieinhalb gewesen, und jetzt war sie vierzehn. Immer noch dasselbe kleine Mädchen, nur dass diesmal großes Unheil von ihr angerichtet worden war …
Brenna fuhr noch immer auf der Autobahn. Meade hatte seinen Arm auf die Rücklehne von ihrem Sitz gelegt und presste ihr den Lauf seiner Pistole ins Genick. Er hatte die Waffe entsichert – hatte sie gezwungen zuzusehen, wie er sie entsicherte, und ihr dann den Lauf wie einen kalten Kuss direkt oberhalb des Schlüsselbeins gegen den Hals gedrückt.
Ihr Gehirn versuchte, sie zu retten, und entführte sie zum Beispiel auf das Dach des Apartmenthauses in der 14., wo sie um Mitternacht des 18. April 1994 mit ihrem Ghettoblaster gesessen und REM gehört hatte. Jim hatte mit seinen Fingerspitzen ihre Wange und mit seinen Lippen ihren Mund berührt, doch kaum spürte sie die Sanftheit seines Kusses und empfand die unglaubliche Zärtlichkeit, die ihr die Brust zu sprengen schien, kaum hörte sie Michael Stipe, wie er dieser Stoff entwickelt seinen Zauber langsam sang … spürte sie wieder das Metall an ihrer Haut und kehrte abermals zu Meade zurück.
»Fahr hier ab«, verlangte Meade.
Inzwischen waren sie auf dem Deegan Expressway, und die nächste Ausfahrt führte in die Bronx. Trotzdem befolgte Brenna den Befehl, fragte aber gleichzeitig: »Was wollen Sie von mir?«
Er antwortete nicht.
Meade ließ sie eine lange Hauptstraße hinunterfahren und dann zweimal links und kurz hintereinander zweimal rechts in kleine Seitenstraßen biegen, bis sie in eine trostlose Gegend kamen, die direkt am Wasser lag. Sie waren an der Pelham Bay. Gott im Himmel. War das, was im Augenblick geschah, ein grausamer Scherz des Schicksals, oder hatte Meade es so geplant? Von hier aus konnte Brenna City Island sehen.
»Anhalten!«
Als sie auf der Standspur hielt, riss ihr Meade die Schlüssel aus der Hand.
»Aussteigen!«, wies er sie an, und als sie tat wie ihr geheißen und sich von ihm durch die Gegend schubsen ließ, auf das schwarze Wasser sah und die Waffe zwischen ihren Schulterblättern spürte, wurde Brenna nochmals in der Zeit zurückversetzt.
Es war der Abend des 7. September 1981, und statt einer dunklen, ruhigen Stimme hörte sie das schrille Kreischen ihrer Mom …
»Verschwinde aus meinem Haus.«
»Clea hat zu mir gesagt, dass ich dir nichts verraten darf. Deshalb habe ich dir nichts erzählt. Weil Clea mich gezwungen hat, ihr zu verspre–«
»Sie ist jetzt seit zwei Wochen weg, Brenna. Inzwischen könnte deine Schwester tot sein.«
»Mom, es tut mir leid.«
»Wenn sie tot ist, ist das deine Schuld. Es ist deine Schuld, dass sie verschwunden ist. Also verschwinde auch du aus meinem Haus.«
Brennas Uhr zeigt 9 Uhr 45. Obwohl schon September ist, ist die Luft noch warm und schwül. Brenna macht die Haustür auf, geht den Bürgersteig hinunter, biegt dann nach links ab und läuft hinunter bis zur Bucht.
»Wo ist es?«, fragte Meade.
Brenna geht an den Häusern der Lindens, der Moskovitz, der Mangiones und der Conrads vorbei zum Tor des Strandes Center Street. Sie zieht ihre Schuhe aus und spürt den kühlen Sand unter ihren Füßen. Das Wasser in der Bucht sieht wie ein schwarzer Spiegel aus, in dem man die Großstadtlichter sieht. Sie geht ins Wasser, bis es ihr erst zu den Knöcheln und dann zu den Knien reicht. Sie wird nicht anfangen zu schwimmen. Sie wird sich nicht wehren. Das Wasser ist kalt, aber sie wird immer weitergehen …
»Wo?« Er stieß sie unsanft mit der Waffe an.
»Ich weiß nicht, wovon Sie reden«, hörte sich Brenna sagen.
»Doch, natürlich weißt du das.«
Das Wasser reicht ihr bis zur Hüfte, und die Strömung zerrt an ihr. Ich werde mich nicht wehren, sagt sie sich. Ich werde mich nicht wehren.
»Ich verstehe nicht.«
Jetzt geht es ihr bis zum Hals. Sie stemmt sich gegen die Strömung und erschaudert, denn der Tang streicht ihr um die Handgelenke und schlingt sich ihr um den Bauch. Vor sich sieht sie die Lichter der Stadt, flüstert »Lebt wohl« und macht die Augen zu. Gerade als sie untertauchen will, hört sie hinter sich ein platschendes Geräusch …
Während eines kurzen Augenblicks spürte sie die Waffe nicht.
Ein platschendes Geräusch und dann die Stimme ihrer Mutter: »Brenna! Brenna! Bitte, Liebling, nicht! Es tut mir leid! Bitte komm zurück!«
Meade rammte ihr die Waffe in den Bauch, und sie atmete pfeifend aus, bevor sie keuchend in die Knie ging. Wieder war sie in der Gegenwart.
»Wo ist es?«, wiederholte er.
Er will das Bild von Wright.
Brenna holte pfeifend Luft. Ihre Hände glitten über den Asphalt, auf dem sie lag – winzig kleine Kieselsteine, Scherben. Ja. Genau … Eine möglichst große Scherbe in der Hand versteckt, rappelte sie sich wieder auf.
Er packte ihren Arm und presste ihr den Lauf der Waffe unters Kinn. »Die Frage ist immer noch dieselbe. Du hattest nicht das Recht, dir dieses Gemälde anzueignen. Ich weiß, dass du es hast, und ich werde es mir wiederholen, ganz egal auf welchem Weg.«
»Das Gemälde?« Noch immer spürte sie den kalten Lauf an ihrem Hals. Es war eine große Waffe. Kaliber .45, und wenn er aus dieser Entfernung damit auf sie schoss, würde ihr Schädel explodieren. Doch trotz allem redete er weiter um den heißen Brei herum. Sprach nicht von dem Bild von Lydia Neff vor seinem Wagen oder von dem Bild von seinem nackten, verheirateten Boss. Sprach nicht von dem Beweis für das Verhältnis zwischen Lydia Neff und Roger Wright, sondern von der Kinderzeichnung, die dabei gewesen war. »Sie sprechen von den Dingen, die Carol Wentz aus Lydias Haus mitgenommen hat«, setzte sie langsam an.
»Ja.«
Gegen eine Waffe konnte sie nicht kämpfen, aber gegen einen Mann. Nach der Tracht Prügel, die sie vor elf Jahren durch einen untreuen Ehemann bezogen hatte, hatte sie gelernt, sich zu verteidigen, und zwar nach allen Regeln der Kunst. Hatte Errol dazu gezwungen, ihr die Stunden zu bezahlen. Weil das schließlich das mindeste gewesen war. Sie konnte einen Mann besiegen, selbst wenn der ein Profikiller war, direkt hinter ihr stand und ihr eine Waffe an die Kehle hielt. Dazu musste sie nur wissen, wo genau seine Augen waren …
»Ich habe die Fotos gesehen. Ich weiß genau Bescheid.« Brenna schob die Scherbe aus ihrer Handfläche nach vorn, bis sie sie zwischen Daumen und Zeigefinger hielt. »Sie wissen, dass ich alles weiß. Warum also fragen Sie mich nach dem Bild?«
Sie konnte seinen Atem an ihrer Schläfe spüren. »Weil ich es –«, zischte er, und das war genug. Lass ihn diesen Satz nicht zu Ende sprechen. Sie riss ihren Arm nach oben und zurück, dorthin, wo sie seinen Atem spürte, und dann noch ein bisschen weiter, bis sie mit dem Handgelenk in Höhe seiner Wimpern war. Perfekt.
Sie stach mit dem spitzen Scherbenende zu und riss es wieder zurück …
Nicht das Auge, aber fast. Ein Gurgeln drang aus seiner Kehle, seine Finger wurden schlaff, und die Waffe fiel ihm aus der Hand. Als sie auf den Boden krachte, löste sich ein Schuss, und einen Augenblick lang waren sie beide wie betäubt.
Meade umklammerte sein Auge und taumelte zurück. »Gottverdammt!«, schrie er und sah sich mit dem anderen Auge suchend um, als könnte er die Kugel finden, damit die ihn nicht verriet.
Während es noch immer in ihren Ohren klingelte, trat sie die Waffe fort. Meade stürzte auf sie zu. Sie sah ihn wie in Zeitlupe, ballte die Hand zur Faust und schlug ihm kraftvoll in den Unterleib. Er atmete zischend aus, und während er vornüberfiel, begann sie selbst, sich nach der Waffe umzusehen, mit einem Mal aber schlug er ihr kraftvoll ins Gesicht. Sie hatte das Gefühl, als wäre sie mit Schwung gegen eine Tür gekracht, und vor ihren Augen tauchten kleine, helle Flecken auf. Auch der untreue Ehemann damals hatte ihr einen Faustschlag ins Gesicht verpasst, doch statt Schmerzen hatte sie vor allem ein Gefühl des Schocks verspürt, weil sie nie zuvor solch blankem Hass begegnet war. Sie schmeckte ihr salziges Blut, genau wie vor elf Jahren, roch den modrigen Geruch der dunklen Gasse, spürte die schwieligen Hände, die ihr ihre Kamera entwanden … Hör auf, dich zu erinnern. Bleib hier in der Gegenwart. »Vor 87 Jahren«, wisperte sie, »haben unsere Väter auf diesem Kontinent …«
Meade runzelte die Stirn.
Brenna zog die Scherbe quer über sein Gesicht.
Er schrie gellend auf. Blut strömte über seine Wange, aber Brenna ließ nicht von ihm ab, ritzte und schnitt ihm weiter in die Haut – in die Braue, in den Kiefer, in den dicken Hals. Blutete ihn aus für Nelson und für Carol Wentz, für Klavel und für …
»Wo ist Iris?«, hörte sie sich brüllen und stach wieder auf ihn ein. »Wo ist Iris Neff?«
Er packte ihre Handgelenke, stieß sie von sich fort, und sie fiel rücklings auf den Asphalt.
Sie stützte sich mit beiden Händen ab, spürte unter Fingerspitzen Stahl.
Meade stürzte sich auf die Pistole, aber sie war schneller, riss sie hoch und zielte damit auf den Kerl. Er wurde schreckensstarr, und sie rappelte sich auf und drückte ihm den Lauf der Waffe in die Brust. Dann griff sie in die Tasche seines billigen braunen Jacketts, ertastete ihren Schlüsselbund und riss ihn heraus. Gleichzeitig fiel noch etwas anderes auf den Bürgersteig. Ihr Handy. Sie trat es zur Seite, zielte aber weiter mit der Waffe auf das Schwein, aus dessen zerschnittenem Gesicht das Blut auf seinen Hals und seinen Kragen lief. Außer seinem krächzenden Atem äußerte er nicht mehr den geringsten Laut.
Ein Bildchen baumelte an ihrem Schlüsselbund. Die Miniaturkopie eines Gemäldes, das von Maya während ihres ersten Grundschuljahrs angefertigt worden war. Es zeigte ein Strichmännchen mit einem großen, runden Kopf, langem, gelocktem Haar und einem breiten Lächeln. Maya hatte es in ihrer Prinzessinnen-Phase gemalt und der Figur deshalb noch eine Krone aufgesetzt, auf der das Wort »Mommy« stand.
Brenna drückte ihm die Waffe an den Hals. »Sie arbeiten immer noch für Roger Wright, nicht wahr?« Ihre Schläfen pochten, und sie hatte Blut im Mund, weshalb sie, als sie sprach, etwas verschwommen klang.
Er antwortete nicht.
»Wie viele Menschen haben Sie umgebracht, um diese Affäre zu vertuschen?«
Meade blickte auf die Waffe und dann wieder auf sie. Er atmete inzwischen fast wieder normal. Sie roch sein Blut und seinen Schweiß, aber sein Gesicht war seltsam ruhig, als hätte sich der Hass zusammen mit den Schmerzen seiner Wunden plötzlich aufgelöst. Jetzt sah er wie eine Statue aus. Kalt und starr.
Er würde niemals aufgeben, erkannte sie.
»Du hast eine Waffe«, sagte er. »Warum drückst du nicht einfach ab?«
Brenna spürte einen Schlag im Bauch, und in ihren Eingeweiden breiteten sich rasende Schmerzen aus. Meade trat einen Schritt zurück, ihre Finger, die die Waffe hielten, wurden schlaff, und ihr wurde schwindelig.
Er hielt ein Messer in der Hand, ein Messer, bis zum Griff mit Blut bedeckt. Obwohl sie nur noch unscharf sah, hob sie kraftlos die Waffe hoch und drückte ab. Der Rückstoß schleuderte sie rücklings auf den Bürgersteig, sie ließ die Schlüssel fallen, und obwohl es abermals in ihren Ohren klingelte, konnte sie das Klappern ihres Schlüsselbundes deutlich hören, als er auf den Boden traf. Seltsam.
War Meade tot? Hatte sie ihn erschossen?
Sie spürte den Asphalt in ihrem Rücken und hatte den
Geschmack von Kupfer und Salz im Mund. Ihre Gedanken und ihre
Erinnerungen verschwammen … »Ich kann
schon das Köpfchen sehen«, stellt Dr. Abrams fest. Brenna ist
schweißnass. Ihre Haare kleben an der Stirn, ihr Körper ist
glitschig, und die Schmerzen – sie hat das Gefühl, als ob in ihrem
Inneren ein Waldbrand lodere, und dann … der gellende Schrei
des Babys und die heißen Tränen in ihrem Gesicht und Jims Hände,
die ihre Schultern packen, während er sie auf die Wange küsst. Dann
seine Stimme dicht an ihrem Ohr: »Hörst du mich, Liebling? O
Gott,
o mein Gott, sie ist einfach wunderschön …«
Der erinnerte Schmerz riss sie in den aktuellen Schmerz zurück. Das Atmen fiel ihr schwer, und sie holte zaghaft wie ein Baby Luft. Ihr Körper brauchte viel mehr Sauerstoff, als sie ihm zu geben in der Lage war. Sie legte ihre Finger dorthin, wo der Schmerz am größten war, und betastete ihr Hemd. Es klebte nass an ihrem Bauch. Sie hob die Hand vor ihr Gesicht und erkannte, sie war schwarz von ihrem eigenen Blut. Ich sterbe. Das Handy. Sie tastete danach, berührte es … Ruf die Polizei. Sie drückte auf die Tasten und hörte eine blecherne Stimme. »… Ihnen helfen?«
Doch sie konnte keine Antwort geben, konnte nicht mehr sprechen, denn inzwischen ging ihr Atem nur noch flach wie der von einem kleinen Fisch. Als wäre ihr Hals eine einzige Kieme und als treibe sie an der Oberfläche eines schlammigen Sees. Erst rücklings und dann seitlich. Und dann wieder auf dem Rücken, bevor sie in vollkommener Dunkelheit versank.