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Brenna war erschöpft – was nicht wirklich übel war, denn schließlich hielt es sie vom Denken ab. Sofort nach Ende des Gesprächs kehrte sie ins Mirage zurück, aß im dortigen Café etliche Pfannkuchen, begab sich in ihr Zimmer, versank umgehend in einem komatösen Schlaf, stand um null Uhr wieder auf, duschte, zog sich an, packte, checkte aus und fuhr mit dem Taxi zum Flughafen. All das völlig automatisch, während ihr Gehirn noch immer auf Stand-by zu stehen schien.

Auch während des Check-in ging es so weiter, während sie an den Reihen der Glücksspielautomaten mitten im Flughafen vorüberlief, von denen einer leise klingelte, als eine traurig aussehende, alte Frau ihn mit Münzen fütterte (Denken Sie doch an die Chancen. Brenna hätte sie am liebsten angeschrien und dabei noch geschüttelt. Denken Sie doch bitte daran, dass man gegen diese Dinger nie gewinnen kann.), und während sie wie betäubt am Flugsteig wartete und sich über ihren MP3-Player mit Lust for Life von Iggy Pop berieseln ließ, um die Nachrichten auf CNN zu übertönen, da es auf den beiden Bildschirmen, die links und rechts des Gates unter der Decke hingen, ein ums andere Mal irgendeinen Brand in irgendeinem Heim im Norden des Staates New York zu sehen gab. Die Bildschirme glühten wie die Augen des Teufels, während auf ihnen die Flammen loderten. (Waren die Redakteure dieses Senders vielleicht alle Pyromanen? Weshalb sonst fuhren sie wohl derart auf Feuer ab?)

Erst nachdem ihr Flugzeug in Richtung New York gestartet war und der Pilot verkündet hatte, sie hätten ihre Flughöhe erreicht, lehnte sie sich in ihrem Sitz zurück und dachte an das kurze Telefongespräch zurück, das sie vierundzwanzig Stunden zuvor mit Morasco geführt hatte.

»Warum haben Sie nach Iris Neff gefragt?«

»Entschuldigung, manchmal platzen einfach irgendwelche Sachen aus mir heraus.«

»Mrs Spector –«

»Brenna. Mrs Spector ist meine Mom.«

»Ihr Assistent hier meint –«

»Mein Assistent?«

»Er sagt –«

»Sind Sie gerade mit Trent zusammen?«

»Er sagt, Sie wären nicht in der Stadt.«

»Das stimmt.«

»Ich würde mich gern mit Ihnen treffen, sobald Sie zurückkommen.«

»Könnten Sie mir bitte sagen, worum es geht?«

»Ich denke, darüber sollten wir sprechen, wenn Sie wieder hier sind.«

»Worum geht es?«, fragte Brenna laut.

Die Frau neben ihr – eine ängstliche Fliegerin, die während des gesamten Starts nervös einen Rosenkranz befingert hatte – blickte Brenna an, als ob ihr plötzlich eine zweite Nase gewachsen wäre, die jeden Augenblick zu explodieren drohte oder so.

»Tut mir leid«, erklärte Brenna ihr. »Ich habe mich nur gerade … an etwas erinnert.«

»Oh«, sagte die Frau, die Brenna niemals für den Rosenkranztyp gehalten hätte, denn sie hatte stacheliges, rosa-weiß gesträhntes Haar, eine strassbesetzte Bibliothekarinnenbrille auf der Nase, trug ein altmodisches schwarzes Kleid, und eine Rosentätowierung schlängelte sich an ihrem dünnen bleichen Arm hinauf. Sie hatte in etwa Brennas Alter, und zu Hause in New York, wo sie ohne jeden Zweifel lebte, war sie wahrscheinlich die coolste Lehrerin am Zentrum für Design. Während sie hier nicht mehr als ein schlotterndes Nervenbündel war.

»Haben Sie einen Sohn?«, fragte sie plötzlich.

»Seltsame Frage, aber … nein«, antwortete Brenna. »Ich habe eine Tochter. Maya. Sie ist dreizehn. Und Sie?«

»Was?«

»Haben Sie einen Sohn?«

Am Vortag, um fünfzehn Uhr achtundzwanzig, hatte Brenna eine SMS von Maya bekommen: Dad meint, du holst mich einen Tag später ab.

Brenna, für die das Verfassen einer SMS die reinste Folter war, hatte mühsam ein paar Sätze in ihr ausnehmend bescheidenes Alles-andere-als-smart-Phone getippt und ihr erklärt, Larry Shelby wäre erst einen Tag später als geplant aus Los Angeles gekommen, und es täte ihr entsetzlich leid, aber sie könne es nicht ändern, Maya würde ihr fehlen, sie würde Maya lieben, und sie mache es auf alle Fälle wieder gut …

Keine Antwort. Wie nicht anders zu erwarten, denn seit Maya in der siebten Klasse war, drückte sie ihren Zorn am liebsten dadurch aus, dass sie beleidigt schwieg.

»Ich wollte wissen, ob Sie einen Ton haben. Mein Kopfhörer funktioniert anscheinend nicht. Aber es ist sicher schön, wenn man eine Tochter hat. Ich glaube, am besten schlafe ich, bis wir in La Guardia sind.«

Sie rutschte ein Stück von Brenna fort, quetschte sich in den engen Raum zwischen Sitz und Fenster, kniff die Augen zu und tauchte ab. Was für Brenna vollkommen in Ordnung war. Auch sie klappte die Augen zu und verschwand auf ihre eigene Art.

16. Oktober 1998. Das erste und letzte Mal, dass Brenna mit Detective Nick Morasco von der Polizei in Tarry Ridge gesprochen hatte, aber erst nachdem Jim in der Küche hinter sie getreten war, während sie in Tank Top und Pyjamahose an der Spüle gestanden und die Reste des Lachses vom Vorabend aus dem Edelstahltopf gekratzt hatte. Erst nachdem sie den sanften Druck von Jims Handfläche auf ihrem nackten Bauch, die Knöpfe seines Hemds an ihrem Rücken und seinen Mund an ihrem Ohr gespürt hatte. »Ich müsste gegen sechs zu Hause sein.«

Der sanfte, geistesabwesende Kuss trifft auf ihr Schlüsselbein. Brenna dreht sich um, legt ihre Hand an Jims frisch rasierte Wange und küsst ihn auf den Mund.

Seine weichen Lippen, die den Kuss erwidern, seine Hand, die liebevoll ihr Haar zerzaust …

Der Fernseher, der tschilpt: »Elmo hat an Eisenbahnen gedacht!«

Mayas Stimme aus dem Wohnzimmer: »Daddy! Bring mir eine Überraschung mit!« Und Jim, der sich lächelnd von ihr löst, während sie ihm in die Augen sieht. Seine Augen sehen aus, als hätte jemand ein Feuer hinter ihnen entfacht.

»Bring mir auch eine Überraschung mit«, flüstert sie.

Das Flugzeug machte einen leichten Satz. »O Gott«, entfuhr es der Lehrerin für Design. »O Gott, o Gott.«

Brenna sah sie an. »Schon gut. Das ist nur eine kleine Turbulenz«, setzte sie an, doch die Augen ihrer Nachbarin wurden ein wenig feucht, ehe sie sie verschämt zusammenkniff und sich zu einem Lächeln zwang. »Allergien.«

Wieder sackte der Flieger ab, und die Anschnall-Zeichen leuchteten auf. »Sie müssen sich anschnallen«, sagte Brennas Nachbarin – so nachdrücklich, als wären lauter angeschnallte Menschen das einzige Mittel, mit dem sich das Flugzeug oben halten ließ.

Brenna gurtete sich an.

»Danke, ich … ich hasse es einfach, zu fliegen.«

»Darauf wäre ich nie gekommen.« Sie streckte eine Hand aus und stellte sich erst mal vor. »Ich bin übrigens Brenna.«

»Sylvia.« Doch die angebotene Hand ergriff sie nicht, weil sie dafür viel zu sehr mit ihrem Rosenkranz beschäftigt war. Brenna seufzte innerlich. Auch Trent flog alles andere als gern, seit sein Flugzeug auf dem Weg zur Beach Party von MTV in Fort Lauderdale vom Blitz getroffen worden war, aber er war nicht annähernd so schlimm wie diese Frau. Wenn Brenna gezwungen war, mit ihm zu fliegen, schaffte sie es für gewöhnlich, ihren Assistenten dadurch zu beruhigen, dass sie ihn einen Gin Tonic trinken ließ und/oder wahrheitswidrig behauptete, die Stewardess wäre völlig verrückt nach ihm.

»Bitte, bitte, bitte …«, wisperte Sylvia.

Brenna konnte diese Angst vorm Fliegen einfach nicht verstehen. Verglichen mit den Dingen, die einem unten auf der Erde alle widerfahren konnten, war eine Flugreise für sie der Inbegriff von Sicherheit.

Wieder traf das Flugzeug auf ein Luftloch, und als Sylvia leise schrie und dabei wie die dreijährige Maya klang, war für Brenna abermals der 16. Oktober 1998, nur dreißig Minuten nachdem Jim aus dem Haus gegangen war …

»Mommy! Krieg ich Apfelsaft?«

»Sicher, Schätzchen.« Brenna nimmt die Flasche aus dem Kühlschrank und schenkt etwas Saft in einen violetten Trinklernbecher mit aufgedrucktem, getupftem Comic-Hund.

»Mommy! Radio!«

Brenna seufzt. Sie läuft ins Schlafzimmer und drückt der Tochter auf dem Weg dorthin den Becher in die Hand. Vor fünf Wochen hat Jim einen neuen Radiowecker gekauft, und obwohl sie beide die Gebrauchsanweisung eingehend studiert haben, hat bisher keiner von ihnen rausgefunden, wie man das Ding daran hindert, mehrmals täglich plötzlich einfach grundlos anzugehen.

Das Einzige, was funktioniert, ist, den Stecker aus der Steckdose zu ziehen, wieder reinzustecken und den Wecker neu zu stellen. Die Leuchtziffern zeigen neun Uhr dreiundzwanzig an. Brenna hat das Kabel in der Hand, als sie plötzlich die Stimme des Moderators sagen hört: »Ein möglicher Durchbruch im Fall Iris Neff.«

Sie hält inne.

Brenna kennt den Fall – jeder weiß, dass Iris Neff, ein sechsjähriges Mädchen, am Labor Day auf einem Grillfest im nur vierzig Minuten von New York entfernt gelegenen, friedlichen Tarry Ridge gewesen ist. Das Fest neigt sich dem Ende zu, die Mutter geht nach Hause, aber Iris bleibt, um noch mit den Kindern der Gastgeber zu spielen – alles vollkommen normal, bis Iris von dannen zieht, als man sie einmal aus den Augen lässt.

Seither wurde sie nicht noch mal gesehen.

Der Moderator sagt: »Ein ungenannter Zeuge sah das Kind vor seinem Haus, wie es in einen blauen Wagen mit einer Beule im rechten hinteren Kotflügel stieg.«

Brenna reißt die Augen auf. Es konnte unmöglich derselbe Wagen sein. Schließlich war die Sache siebzehn Jahre her.

Brenna drückt sich die Stifte des Steckers in die Handballen. Aber trotzdem. Trotzdem.

»Mommy! Krieg ich noch Saft?«, ruft Maya.

»Moment, Schätzchen!« Brenna schnappt sich das Telefon, ruft bei der Auskunft an und lässt sich mit der Polizei von Tarry Ridge verbinden, wo sie nach dem für den Fall zuständigen Beamten fragt.

»Das ist Detective Nick Morasco«, erklärt ihr der diensthabende Polizist.

Während Brenna in der Warteschleife hängt, versucht sie, sich den blauen Wagen vorzustellen, in den ihre Schwester eingestiegen ist – die Marke, das Geräusch des laufenden Motors, das Gefühl, mit dem sie ihr Gesicht kurz nach Anbruch der Dämmerung gegen die Fensterscheibe ihres Zimmer gepresst und zugesehen hat, wie sich Clea durch das offene Fenster auf der Beifahrerseite gebeugt und gesagt hat: »Ich bin fertig«, bevor sie die Tür geöffnet hat und eingestiegen ist … und dann diese Stimme – seine Stimme –, die Stimme des Schattens, der hinter dem Lenkrad saß. Sie kann sich nicht daran erinnern. Sie hat das Ereignis, infolgedessen sie ein perfektes Gedächtnis hat, nur noch undeutlich im Kopf, ebenso verschwommen wie die ganze Zeit, bevor Clea verschwunden war.

»Hier spricht Detective Morasco. Was kann ich für Sie tun?«

»Ich … ich habe in den Nachrichten etwas von einem blauen Wagen gehört.«

»Wer spricht da?«

»Mein Name ist Brenna Spector. Ich bin ehemalige Privatdetektivin.«

»Okay, hören Sie zu. Das hätte niemals an die Presse durchsickern dürfen.«

»Nein, ich bin froh, dass es durchgesickert ist, denn –«

»Es war eine falsche Spur.«

»Eine falsche Spur?«

»Richtig, eine falsche Spur.«

»Dann … wollen Sie also sagen, dass sie nicht in einen blauen Wagen eingestiegen ist?«

»Wir suchen nicht nach einem blauen Wagen. Danke, dass Sie angerufen haben.« Klick.

Ganz schön kalt, denkt Brenna.

»Verzeihung«, sagte Sylvia mit einem Mal. »Haben Sie mit mir gesprochen?«

Brenna blinzelte. »Wie?«

»Egal.«

Mit dröhnendem Motor stieg das Flugzeug etwas höher, und schon bald lagen die Turbulenzen hinter ihnen, die Anschnall-Zeichen gingen aus, und Sylvia nahm die Glitzerbrille ab und verfiel in einen tiefen, posttraumatischen Schlaf. Brenna holte ihren iPod aus der Tasche, stopfte sich die Knöpfe in die Ohren und hörte weiter Lust for Life. Sie lauschte Iggys gähnendem Bariton, wie er irgendeine schräge Sünde erbettelte – es sollte nicht nur einfach irgendeine Sünde, nein, es sollte eine schräge Sünde sein. Brenna liebte diesen Song, seit sie ihn zum ersten Mal gehört hatte – am 21. Februar 1988, während ihres zweiten und letzten Jahres an der Columbia University, als sie im Schneidersitz auf dem ungemachten Bett von Dan Price gesessen hatte – eines schlaksigen, grünäugigen, schmerzlich attraktiven Kerls.

Aber Brenna kehrte nicht in jene Nacht zurück. Und auch nicht in den Morgen des 16. Oktober 1998. Sie erinnerte sich auch nicht an die Woche nach ihrem Gespräch mit Nick Morasco oder an all die Zeit, die sie in Tarry Ridge verbracht hatte, weil dort die kleine Iris Neff verschwunden war. Sie gestattete sich nicht, sich an die Menschen zu erinnern, denen sie damals begegnet war, an die Fragen, die sie gestellt hatte, und an den grässlichen Verdacht, der ihr gekommen war. Und auch die Erinnerung an ihre zugeschnürte Kehle, als sie nach dem Telefonhörer gegriffen und die Nummer angerufen hatte, von der sie sich geschworen hatte, sie riefe sie niemals wieder an, ließ sie nicht zu.

Sie verbot sich die Erinnerung an jene Woche. Doch sie wusste, wenn sie mit Morasco spräche, wenn sie diesem Menschen direkt gegenüberstünde und auch seine Stimme wieder hörte, wenn er ihr die Fragen stellte, die er stellen musste – was für Fragen das auch immer waren –, dächte sie an Tarry Ridge und Iris Neff zurück. Dächte sie zurück an jene Woche – jene Woche, die das Ende ihrer Ehe eingeläutet hatte –, ganz egal, ob sie es wollte oder nicht.